Thursday, September 29, 2011

GEORGISCHE LITERATUR: Land hinter neun Bergen und neun Meeren (boersenblatt.net)

Während Island als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse im Mittelpunkt steht, bereitet sich ein mehr als die Hälfte kleineres Land am östlichen Rand Europas auf einen künftigen Auftritt in Leipzig und Frankfurt vor: Georgien. Auf der Frankfurter Buchmesse stellt es sich am 12. Oktober um 17 Uhr in Halle 5.0 dem Fachpublikum erstmals vor – unter dem Motto "Have a Look at Georgia".

Die Herausforderung ist groß, denn das "Land hinter neun Bergen und neun Meeren", wie es in seinen Märchen heißt, existiert im allgemeinen Bewusstsein als undefinierbarer, unsicherer Ort irgendwo im Osten. Einst das reichste Land der Sowjetunion, wurde Georgien in den 1990er Kriegsjahren zum ärmsten Mitglied der GUS. Buchhandel und Verlagswesen mussten bei Null beginnen. Die georgische Leserschaft fürchtete damals, dass das georgische Buch aussterben würde. Das hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Der georgische Buchmarkt hat sich, abgesehen vom empfindlichen Rückschlag nach dem Georgien-Russland-Konflikt 2008, kontinuierlich entwickelt. Heute gibt es an die 100 Verlage – außer einem alle in der Hauptstadt Tbilissi – , von denen ein Dutzend etwa 80 % des Buchmarkts abdecken. Der Gesamtumsatz hat sich innerhalb der vergangenen vier Jahre mehr als verdreifacht. 2800 Titel sind 2010 erschienen, ein Viertel davon Belletristik, davon wiederum 80 % georgische Originaltitel. Eine neue Generation von Autoren etabliert sich. Auch der Austausch mit dem westlichen Ausland soll in Gang kommen.

Schwieriger Weg in den Westen
Dabei gibt es eine hohe Hürde: die Sprache. Sie ist wie von einem anderen Stern, der mythischen Gegend im Kaukasus würdig, wo Prometheus angekettet sein soll und von wo Jason das Goldene Vlies und die Georgierin Medea nach Griechenland entführte. Nur etwa viereinhalb Millionen Menschen sprechen diese komplexe, expressive Sprache, die keine indogermanische ist und eine eigene, wunderschöne Schrift besitzt. Sie hat über die Jahrhunderte eine vielfältige Literatur hervorgebracht, die eine besondere Gedankenwelt und Lebenshaltung zum Ausdruck bringt. Boris Pasternak spricht in seinen „Briefen nach Georgien“ von „ ... jenem Erstaunlichen und Zauberischen, das mir auf all meinen georgischen Reisen begegnete und das nicht allein durch den Süden zu erklären ist, durch die Berge, den weiten georgischen Charakter, die Schönheit seiner Frauen, durch die Begeisterung und das Gefühl des Erhobenseins auf den geräuschvollen, menschenreichen Banketten; es ist noch etwas Geheimnisvolleres, Tieferes in allen diesen Bestandteilen.“

Als Pasternak sich für die georgische Dichtung begeisterte und einiges mit Hilfe von Interlinearübersetzungen ins Russische übertrug, war Tbilissis Zeit als lebendiges Zentrum moderner Kunst, das Schriftsteller und Intellektuelle aus Russland und Westeuropa anzog, vorbei: Die Einverleibung Georgiens in die Sowjetunion isolierte das Land während mehr als 70 Jahren und strangulierte Kunst und Literatur. Erst nach Stalins Tod erwachte die georgische Literatur wieder zum Leben, doch fand sie kaum den Weg in den Westen. Übersetzungen ins Deutsche erschienen fast nur in der DDR. Seit dem Fall der Mauer ist Georgien beinahe ganz von der Übersetzungslandkarte verschwunden.

Hierzulande bekannt sind georgischstämmige Autoren, die nicht mehr in der Muttersprache schreiben: der Krimiautor Boris Akunin, der auf Russisch schreibt, Giwi Margwelaschwili, Träger der Goethe-Medaille und des Bundesverdienstkreuzes, oder die junge Nino Haratischwili, deren Romanerstling „Juja“ 2010 für den Deutschen Buchpreis und den ZDF-Aspekte-Literaturpreis nominiert war; im September ist ihr zweiter Roman „Mein sanfter Zwilling“ erschienen (Frankfurter Verlagsanstalt).

Vielfältige Formen der Literatur
Der Blick auf Georgien öffnet dem Leser im Westen ein Universum: exotisch und vertraut zugleich. Genial widergespiegelt findet sich dies in Aka Mortschiladses Werken. Er ist Georgiens meistgelesener Gegenwartsautor, ein virtuoser Fabulierer und präziser Historiograph. In seinen mittlerweile 20 Romanen entfacht er literarische Feuerwerke, entführt in eine manchmal skurrile, manchmal leise melancholische, jedoch immer faszinierende Welt.

Die Seele des georgischen Volkes verkörpert „Data Tutaschchia“ von Tschabua Amiredschibi, literarische Legende und Gulag-Überlebender. Der immer wieder aufgelegte Klassiker kombiniert Thriller-Elemente und Dostojewskische Themen rund um persönliches Schicksal und nationale Identität; sein Held Data, eine Art georgischer Robin Hood der Zarenzeit, lebt bis heute als Volksheld im georgischen Bewusstsein.

Am anderen Ende des Spektrums findet sich der Provokateur Sasa Burtschuladse, der von den Intellektuellen geliebt und von den Reaktionären geschmäht wird. Burtschuladse ist im September am Literarischen Colloquium in Berlin zu Gast.

Surab Leschawas eigenwillige Geschichten strahlen wie die Gemälde des georgischen Malerautodidakten Pirosmani eine große Echtheit, Wahrheit und Großzügigkeit aus. Die Erzählung „Kühlschrank gegen Sex“ ist in englischer Übersetzung in „Best European Fiction 2011“ in den USA erschienen.

Als Hüterin der kaukasischen Kultur kann Naira Gelaschwili bezeichnet werden, die in ihrem „Kaukasischen Haus” Volksdichtung der verschiedenen Kaukasusvölker sammelt und herausgibt, selbst herausragende Übersetzerin aus dem Deutschen ist und Autorin zuletzt des autobiographischen 800-Seiten-Romans „Die beiden ersten Kreise”. Dieser beschreibt Blütezeit und Wirren des einzigartigen „Übersetzer- und Redaktionskollegiums” in Tbilissi, das in der UdSSR als Institution für Übersetzung und literarischen Austausch eine absolute Alleinstellung hatte.

Aufsehen erregte in Georgien dieses Jahr der außergewöhnlich kunstvoll konstruierte Kurzroman „Gatwla“ (Abzählen) der jungen Autorin Tamta Melaschwili. Er erzählt die Geschichte zweier junger Mädchen, Freundinnen, in einer weder zeitlich noch geografisch benannten „Konfliktzone“. Die Geschehnisse dreier Tage werden alternierend, mit sich steigernder Dringlichkeit erzählt, bar jeder Sentimentalität, aufwühlend und berührend.

Viele weitere Autoren sind zu nennen wie der Abchasien-Flüchtling Gela Tschkwanawa, der über ein verlorenes Land und eine verlorene Zeit schreibt, Lascha Bughadse, Meister der Ironie und des schwarzen Humors georgischer Prägung und ausgezeichnet bei der BBC International Radio Playwriting Competition, Dato Turaschwili, der Dokumentarisches literarisch verarbeitet und an der Spitze der georgischen Bestsellerliste 2011 steht.

Dialog zwischen den Ländern
Außer Aka Mortschiladse hat bisher keiner der zeitgenössischen Autoren den Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden. Das soll sich ändern:

Eine Initialzündung war 2010 die vom Goethe-Institut Georgien organisierte Veranstaltung LitTransfer, an der sich deutsche Verleger, Lektoren und Literaturvermittler mit georgischen Verlegern, Autoren, Übersetzern und Vertretern des georgischen Kulturministeriums austauschen und „Witterung“ aufnehmen konnten. Als Folge dieser Veranstaltung fand im Juli 2011 unter der Trägerschaft des Goethe-Instituts und mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung eine zweisprachige Übersetzerwerkstatt Georgisch-Deutsch/Deutsch-Georgisch statt, die von Rosemarie Tietze und Alexander Kartosia geleitet wurde. Im Mittelpunkt stand die Nachwuchsförderung für das Sprachenpaar.

Das georgische Ministerium für Kultur und Denkmalschutz seinerseits empfing im Mai 2011 an einem internationalen Literaturdialog-Forum Verlagsvertreter aus Deutschland, Schweiz, Großbritannien, USA, Schweden und Frankreich; das Forum wird im nächsten Jahr wieder stattfinden. Das Kulturministerium unterhält seit zwei Jahren auch ein Programm zur Übersetzungsförderung, das Übersetzungen aus dem Georgischen und umgekehrt unterstützt (http://book.gov.ge). All diese Initiativen, insbesondere die Übersetzer- und Übersetzungsförderung, müssen intensiviert werden, damit der literarische Transfer von Georgien in die übrige Welt gelingen kann.

Autorin des Beitrags:
Rachel Gratzfeld, Lektorin und Literaturvermittlerin in Zürich, engagiert sich seit Jahren für die georgische Sprache und Literatur. Sie vertritt als Literaturagentin die Verlage Bakur Sulakauri, Diogene und Siesta und ist beratend tätig für die georgisch-deutschen LitTransfer- und Übersetzerwerkstatt-Programme des Goethe-Instituts Georgien.


Quelle: www.boersenblatt.net

LESUNG: Der Kaukasus von innen und außen (romanfabrik.de)

Thomas Berscheid, Helga Kurzchalia, Nino Haratischwili und Zaza Burchuladze

Samstag, 15.10.2011 — 20.00 Uhr Der Kaukasus von innen und außen

Erneut veranstaltet der
Literatursalon Euterpe in der Romanfabrik einen Literaturabend. Das Thema lautet dieses Mal: Der Kaukasus von innen und außen. Vier Autoren (Thomas Berscheid, Köln; Helga Kurzchalia, Berlin; Nino Haratischwili, Hamburg; ZaZa Burchuladze, Tbilisi), die aus ihren Werken lesen werden, zeigen die Entwicklung der modernen Literatur Kaukasiens und speziell Georgiens. Die Veranstaltung ergänzt das Programm, mit dem sich die Republik Georgien auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt präsentieren wird ("Have a look at Georgia", 12. Oktober 2011). Durch das Zusammenwirken von Schriftstellern aus Deutschland und Georgien sollen die unterschiedlichen Perspektiven fokussiert werden, die für die auf Georgien bezogene Gegenwartsliteratur charakteristisch sind.

Eine Gastveranstaltung des Georgischen Kulturforums e.V.
TEXT 20:00 Uhr Eintritt 5 Euro


Reservieren Sie jetzt Karten:Telefonisch unter 069/49084829 oder per E-Mail...

LITERATUR & MUSIK: Lamaras Briefe in Hamburg. Von Helga Kurzchalia (hafenbahnhof.com)

Lamaras Briefe werden zwischen 1984 und 1996 in Tbilissi (Tiflis) geschrieben. Sie erzählen vom Ende der Sowjetunion und den chaotischen Verhältnissen in der jungen Republik Georgien. Der Adressat ist ihr Sohn Dito. Der lebt in Ost-Berlin und berichtet über den Fall der Mauer. Helga Kurzchalias Roman ist intelligent konstruiert, toll geschrieben und extrem lehrreich. Bettina Rolfes stammt aus der Region mit der größten Hühnerdichte Europas, dem katholischen Südoldenburg - und ist Männer-Expertin. Sie widmete sich literarisch bereits den dünnen, haarigen oder virtuellen Männern. Nun gibt es Nachschub und Rolfes zieht weitere Herren durch den Kakao.

Do Not Eat spielen mit den Musikstilen: mal Powerpop, mal Alternative Rock, aber gerne groovy und mit einem Hauch von Jazz. Wenn die Vier aus Hamburg ihre ungewöhnliche Harmonien und eingängigen Rhythmen anstim men, werden die Bänke im Hafenbahnhof zum Tanzen beiseite geräumt!


„Phase Zwo“ - eine Lesereihe des writers‘ room. Meistens am zweiten Dienstag im Monat.

Moderation: Lutz Kramer (
Writers‘ Room) & Hartmut Pospiech (Hamburg ist Slamburg Poetry Slam)
Ort: Hafenbahnhof, Gr. Elbstraße 276, 22767 Hamburg
(Bus 112/383 - oder 10 min. Fußweg - vom Bf. Altona)
Eintritt: € 7,-
Infos:
www.hafenbahnhof.com

Wednesday, September 28, 2011

REISE: Eine Reise nach Armenien führt in eine Zwischenwelt (welt.de)

Über Armenien, das vor 20 Jahren unabhängig wurde, scheint die Zeit hinweggegangen zu sein: Ein Land versunken im Dornröschenschlaf – und kein Prinz, der es wachküsst.

Autor: Alan Posener 21.09.2011
+++ welt.de/reise

Das Land verwirrt. Was ist das nun, Orient oder Okzident, noch Europa oder schon Asien? Der älteste christliche Staat der Erde liegt hinter der Türkei, wo die Völker seit Jahrtausenden aufeinanderschlagen: Griechen, Römer, Perser, Skythen, Mongolen, Türken, Russen. Die Imperien der Eroberer, von Alexander bis Stalin, sind untergegangen, Armenien ist geblieben.

Wie die Juden wurden die Armenier aber zu einem Diaspora-Volk, zusammengehalten durch eine besondere Religion, eine besondere Sprache, geschrieben in einer besonderen Schrift, durch die fast mythische Beziehung zu einer Urheimat – und im 20. Jahrhundert durch die Erinnerung an einen Völkermord, bei dem die Nachbarn von einst zu Verfolgern wurden und Gemeinden mit einer zweitausendjährigen Geschichte ausgelöscht wurden.

Man kommt, um sich verwirren zu lassen

Man besucht Armenien nicht, um Badeurlaub zu machen, denn das Land hat keine Küste. Man besucht Armenien nicht, um exotische Bräuche zu erleben oder atemberaubende Ruinen zu besichtigen, denn die Armenier sind ein bisschen wie wir und ein bisschen – was sie nicht gern hören – wie die Türken von nebenan, und ihr archäologischer Schatz besteht aus vielen Klosterkirchen, die oft in einem erbärmlichen Zustand sind.

Man kann zwar in den Bergen, Steppen und Wäldern Armeniens herrlich wandern, und wem nach Selbstmord zumute ist, der kann hier auch Fahrrad oder Motorrad fahren; aber all das lässt sich auch anderswo machen. Nach Armenien kommt man eben, um sich verwirren zu lassen.

Armenien war immer exzentrisch, befand sich immer an der Peripherie der großen Reiche, zuletzt der Sowjetunion, die ihre materiellen Spuren hinterlassen hat in Gestalt deprimierender Industriebrachen, der dampfenden Kühltürme des mitten in einem Erdbebengebiet erbauten Atomkraftwerks Metsamor, halb fertiger Plattenbausiedlungen, riesiger Verwaltungsgebäude im stalinistischen Stil und einer monströsen Statue der "Mutter Armenien“, die mit erhobenem Schwert auf die Hauptstadt Eriwan herabblickt.

Nicht zufällig entstanden in Armenien die Witze um Radio Eriwan, mit denen hinterlistig die imperiale Ordnung infrage gestellt wurde. "Frage an Radio Eriwan: Kann es in Kanada auch den Sozialismus geben? Antwort: Im Prinzip ja, aber wer liefert uns dann den Weizen?“

Am 21. September feiert die Republik den 20. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Das wird ein großes Fest. Aber trotzdem und bis heute steht Armenien im Abseits: ein Land, das – wie mir ein Diplomat versicherte – als christlicher Staat nach Westen blickt und langfristig in die Europäische Union strebt, dessen Nationalhelden der französisch-armenische Chansonnier Charles Aznavour und der amerikanisch-armenische Multimilliardär Kirk Kerkorian sind, dessen bester Freund in der Region aber der Iran ist.

Und das, obwohl Armenien mit seinem islamischen Nachbarn Aserbaidschan einen Krieg geführt hat und mit seinem islamischen Nachbarn Türkei in Dauerspannung lebt. Für den Iran ist aber Armenien als Stromlieferant wichtig, für Armenien wiederum ist der Iran das Tor zum Meer.

Iraner kommen wegen der schönen Mädchen

Geopolitik ist wichtiger als der "Kampf der Kulturen“. Zu hohen Festtagen der islamischen Republik kommen Hunderttausende Iraner nach Eriwan, und das ganz bestimmt nicht der schönen iranischen Moschee wegen, die an die Zeit erinnert, da Armenien von den Persern besetzt war, sondern wegen der schönen armenischen Mädchen, die abends beim Wasserballett auf dem Republikplatz flanieren und – wie ein deutscher Reiseführer missbilligend bemerkt – "durch besonders auffallende, moderne und aufreizende Kleidung und vorgetäuscht freizügiges Verhalten“ auffallen, wegen des hier frei erhältlichen Alkohols und vielleicht auch wegen "Las Vegas“, der Casino-Meile entlang der Straße zum Flughafen, die allerdings in erster Linie für russische Neureiche da ist.

Zunehmender Beliebtheit unter den Armeniern wiederum erfreuen sich die Badeorte der türkischen Riviera, obwohl der armenische Staat es nicht gern sieht, wenn seine Bürger Urlaub im Land des Erzfeinds machen, der bis heute seine Verantwortung für den Völkermord leugnet.

Wie ein Treppenwitz der Geschichte wirkt es, dass ausgerechnet der heilige Berg der Armenier, der Ararat, hinter der Grenze liegt, auf türkischem Territorium. Die Legende von Noah, der nach der Sintflut mit der Arche auf dem Ararat landete und von hier die Neubesiedlung der Erde unternahm, weist auf die Bedeutung der von Archäologen lange vernachlässigten Region rund um das Schwarze Meer für die Entwicklung der Kultur.

"Durchstreif die Welt – es gibt keinen weißen Gipfel dem des Ararat gleich. Den Gipfel meines Ararat liebe ich – wie den Weg zum unerreichbaren Ruhm.“ So heißt es bei Jeghische Tscharenz. Der Nationaldichter Armeniens starb 1937 in einem Gefängnis des stalinschen Geheimdienstes. Heute fahren Busladungen Touristen zum "Tscharenz-Bogen“ unweit der Hauptstadt, lauschen den vom Reiseführer vorgetragenen Zeilen aus "Mein Armenien“ und blicken über die weite, sonnige Ebene hinüber zum unerreichbaren, schneebedeckten Berg. Ein Bild, das einem nicht aus dem Kopf geht.

Von dort ist es nicht weit zum Sonnentempel von Garni auf der Hochebene oberhalb der Schlucht des Azat. Der Bau im hellenistischen Stil würde etwa an der türkischen Westküste vielleicht nicht weiter auffallen; anderthalbtausend Kilometer ostwärts jedoch berührt er als eines der wenigen übrig gebliebenen Zeugnisse des Vordringens heiterer, mediterraner Kultur bis an die Grenzen des Partherreichs. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert, als der Tempel gebaut wurde, waren die armenischen Könige Klienten Roms.

Trutzburgen gegen Araber, Perser und Osmanen

Im Jahre 301 bekehrte Grigor der Erleuchter König Trdat III. zum Christentum. Gründlich wurden die Spuren des früheren Glaubens getilgt. So entstand denn schon im vierten Jahrhundert auch am Talende der Azat-Schlucht, dort, wo früher Quellengottheiten verehrt wurden, das Felsenkloster Geghart. Der gegenwärtige Bau geht in Teilen auf das 12. und 13. Jahrhundert zurück.

Wie alle armenischen Kirchen und Klöster – von der nur sechs mal sieben Meter messenden Kirche Karmravor an den Hängen des Ararat-Schwesterbergs Aragat bis zur prunkvoll ausgestatteten Kathedrale von Etschmiadsin in der Ararat-Ebene – scheint sich Geghart von der Welt trutzig zurückzuziehen, nicht, wie der Sonnentempel von Garni, sich ihr zu öffnen.

Und tatsächlich sind diese Gebäude oft genug auch Trutzburgen gewesen gegen die Araber, Perser, Mongolen, Osmanen. Nicht im Sinne des bewaffneten Widerstands; hier aber wurden die kostbarsten Schätze des Landes verborgen: die in der armenischen Schrift geschriebenen heiligen Bücher.

Heute allerdings sucht man vergeblich in den oft feuchten, dem Himmel und den Schwalben offenen Gemäuern nach alten Handschriften. Sie sind im Matenadaran versammelt, der Handschriftensammlung der Hauptstadt. Bis heute hat sich das vom Mönch Mesrop Maschtots im fünften Jahrhundert entwickelte Alphabet nicht verändert, die Sprache allerdings schon. So sagt man, die Armenier können ihre alten Handschriften zwar lesen, aber nicht verstehen, während ausländische Forscher, die sie verstehen könnten, die Dokumente leider nicht lesen können.

Das Bonmot verrät einiges über eine Kultur, die einerseits in Eriwan rücksichtslos malerische alte Stadtviertel niederreißt, um protzige Büro- und Wohntürme für die Neureichen, Shopping- und Flaniermeilen für die Jeunesse dorée hochzuziehen, andererseits Traditionen konserviert, die älter sind als alles, was wir in Europa kennen. So beruht die Eigenständigkeit der armenischen Kirche auf ihrer Ablehnung der Ergebnisse des Konzils von Chalzedon (heute Kaldeköy in Istanbul), das im Jahre 451 die "Zweinaturenlehre“ Christi festlegte, an der Orthodoxe, Katholiken und Protestanten bis heute festhalten.

Eine Blaue Moschee sucht man vergebens

Auch architektonisch kennt Armenien nichts, was dem radikalen Epochenwechsel entspricht, den wir im europäischen Kirchenbau verfolgen können: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und so weiter. Die meisten armenischen Kirchen sind Variationen eines Grundtyps: kreuzförmiger Grundriss, darüber eine steinerne Kuppel, und in der Ostapsis die bühnenförmig erhobene "Bema“, wo die Priester den Gottesdienst zelebrieren.

Der Reichtum der armenischen Architektur besteht in der oft raffinierten Ausgestaltung und Ergänzung dieser Kreuzkuppelform, etwa in dem vom Baumeister Momik errichteten, bezaubernden Kloster Norawank an der Grenze zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan im Südwesten des Landes oder in den Klöstern Sanahin und Haghpat im Nordwesten an der Grenze zu Georgien. Wer große Effekte braucht, wird freilich enttäuscht: Ein Straßburger Münster, eine Blaue Moschee sucht man vergebens.

Hier stellt sich weder eine ecclesia triumphans noch ein selbstbewusstes städtisches Bürgertum zur Schau. Hier ist ein Land, in dem die Zeit stillzustehen scheint – oder über das die Zeiten hinweggegangen sind. Davon zeugen sowohl die alte Karawanserei am 2400 Meter hohen, kargen Selim-Pass im Süden, über den früher die Südroute der Seidenstraße führte, als auch das riesige, stillgelegte Kupferwerk von Alaverdi im Norden oder schließlich die heruntergekommene – im Jargon der Touristenbranche "romantische“ – Kurstadt Dilidschan in den tropfenden Wäldern der "armenischen Schweiz“.

Früher fuhren prominente sowjetische Künstler und Komponisten zur Sommerfrische hierher. Nun versinkt der Ort in einen Dornröschenschlaf, und da ist kein Prinz zum Wachküssen, nirgends. Auch der wunderbar blaue Sewansee scheint von besseren Tagen zu träumen; die Hotels am Ufer verströmen den diskreten, mottenkugelhaften Charme des Sozialismus.

Wer es laut und eindeutig mag, sollte Armenien meiden. Hier kann sich jederzeit, wenn der Touristenbus abgezogen ist, eine große Stille auf das Land senken, in der man mit seiner Verwirrung allein ist. Was aber ein großer Gewinn sein kann.

Die Reise wurde unterstützt von Studiosus.

LITERATUR: Nino Haratischwili: "Mein sanfter Zwilling" (dradio.de)

Podcast: Krieg und Frieden

Nino Haratischwili: "Mein sanfter Zwilling", Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2011, 380 Seiten

Die Nachwuchsautorin Nino Haratischwili erzählt in ihrem Roman "Mein sanfter Zwilling" von einer zerstörerischen Liebe, den Verheerungen der Kaukasus-Kriege und den unmöglichen Versuchen, sich zu versöhnen. Ein Familiendrama, eine Liebesgeschichte und ein Kriegsepos in einem.

Siehe da, wir haben eine neue Heldin der zeitgenössischen deutschen Literatur. Sie heißt Nino Haratischwili, ist bisher vor allem Theatergängern mit ihren Stücken bekannt und stand mit ihrem Romandebüt "Juja" letztes Jahr zwar auf der Longlist des Buchpreises, wurde bisher aber nicht ausreichend wahr genommen.

Dies wird sich nun ändern, es muss sich ändern. Denn die 1983 in Tiflis, Georgien, geborene Autorin legt mit ihrem aktuellen Buch "Mein sanfter Zwilling" einen Roman vor, der mit fast schon klassischer Wucht daherkommt. Es liest sich zuweilen wie ein Krimi, dann wieder wie ein Familiendrama, später wie eine romantische Liebesgeschichte - und am Ende wie ein Kriegsepos.

Die letzten Seiten sind kaum zu ertragen, so dramatisch entwickeln sich die Ereignisse - so viel schmerzhafte Wendungen nimmt die Geschichte und so viel Schicksal wird entschieden.

Haratischwili schreibt aus der Sicht von Stella, einer 36-jährigen Journalistin im Hamburg von heute. Sie lebt in äußerlich geordneten Verhältnissen - eine bürgerliche Ehe-Existenz ohne finanzielle Sorgen, ein verständnisvoller Mann, ein Sohn, der regelmäßig zum Sport geht. Doch Stella hat ihre Herkunft und ihre Kindheit nie geklärt, was ihr zum emotionalen Verhängnis wird.

Sie ist ein Scheidungskind wie so viele, vor allem aber erlebt sie den Niedergang einer ganzen Familie. Nicht nur, dass sie regelmäßig Zeugin der Untreue ihres Vaters wird und den Wegzug ihrer Mutter nach Amerika verkraften muss. Sie wird mit vielen weiteren Einschnitten konfrontiert. Die Geliebte ihres Vaters wird von deren Ehemann getötet und sie, Stella, gibt sich dafür die Schuld. Sie beginnt eine symbiotische Liebesbeziehung zu Ivo, dem Sohn der getöteten Geliebten des Vaters. Stellas Liebe zu Ivo wird zu einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis, das als ein Ineinandergreifen der Identitäten beschrieben wird.

Schnell werden die verheerenden emotionalen und sozialen Folgen dieser Beziehung deutlich. Ivo verschwindet für Monate und taucht plötzlich wieder auf. Er ist erfolgreicher Kriegsreporter, nimmt aber regelmäßig Drogen, pflegt ein haltloses Sexleben und ist rücksichtslos mit seiner Umwelt. Dennoch spürt Stella nur bei ihm ein "Gefühl der Gegenwart, das er monarchisch verbreitete, totalitär um sich streute".

Eine Verstrickung aus traumatischen Erlebnissen, Schuldzuweisungen und Haltlosigkeit entsteht. Doch das ist noch längst nicht alles. Bis hierhin könnte man Haratischwillis Roman noch als reines Familiendrama lesen, als ein besonders beeindruckendes Exemplar der vielen Bücher, die zur Zeit davon erzählen, welche Wunden Familien hinterlassen können.

Doch hier ist mehr. Im zweiten Teil des Romans greift Nino Haratischwili auf die Geschichte ihre georgischen Heimat zurück. Ihr gelingt die Verflechtung einer deutschen Familiengeschichte mit den Verheerungen der Kriege im Kaukasus, die die Region erschütterten. Georgier, Abchasen, Osseten, Tschetschenen, Russen - die Opfer gehen in die Tausende und auch dort wurden Familien traumatisiert und auseinandergerissen, wenn auch begleitet mit unvergleichlicher Gewalt.

Dorthin reist Ivo als Reporter, und die Ich-Erzählerin Stella folgt ihm. Was sie dort finden, geht weit über ihre eigene Geschichte hinaus und lässt diesen Roman am Ende sogar zu einem Epos der Versöhnung werden.

Besprochen von Vladimir Balzer

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2011
380 Seiten, 22,90 Euro


Quelle: dradio.de

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LITERATUR: Rezension von Levan Berdzenischwili zu Zaza Burchuladzis „adibas“ (euterpe.origross.net)

Übersetzung der Rezension von Levan Berdzenischwili zu Zaza Burchuladzis
„adibas“ von Mariana Mdinaradse

„Ich wusste schon immer, dass es nicht real ist“ (Serojas Gedanken über Shakespeare, als am Ende der Vorstellung die lebendige Desdemona auf die Bühne kommt, um den Applaus des Publikums entgegen zu nehmen)

Wie liest man ein Buch? Und ich meine nicht, dass Bücher allgemein leicht zu lesen sind. Ich meine etwas Anderes. Ich versuche, die Frage genauer zu stellen: wie sollte sich ein Buch lesen lassen? Zu allererst ist das Buch ein Gegenstand, eine physische Materie, unabhängig von seinem Inhalt, wie man so schön sagt, es sollte gut in der Hand liegen. Dafür ist es aber auch notwendig, dass es einen starken Buchumschlag hat, der dick und dunkel ist. Man nimmt einen guten Buchumschlag (der Umschlag ist die halbe Miete, wobei der Bakur-Sulakauri-Verlag einen starken Umschlag gewählt hat, und stark, nicht im Sinne von „hart“, sondern stark im Sinne von „cool“) und gibt ihm eine Farbe, nämlich die Farbe schwarz. Auf den schwarzen Umschlag schreibt man mit goldenen Lettern „adibas“. Setzt anschließend das „adidas“-Logo darüber (das alte Logo, das wie eine Blume aussieht) und darunter, beginnend ab dem letzten a des Namens, schreibt man in weißen Buchstaben "Roman“ (damit es nicht in die Irre führt). Ganz oben auf den Buchumschlag schreibt man, in der gleichen Schrift, wie man bereits „Roman“ geschrieben hat, in zwei Zeilen den Namen des Autors, wie ein Gütezeichen: Zaza Burchuladze.

Wie bereits Led Zeppelin in ihrem Lied „Stairways to Heaven“ sang, ist nicht alles Gold, was glänzt: ich weiß nicht wie, aber die Designerin (Tamuna1) dieses Buchumschlages bekommt es hin. Sie diktiert uns, dass dieses Gold kein Gold ist. Jedoch das, was nicht glänzt, ist weiß und echt, nämlich Zaza Burchuladze und der Roman selbst sind echt, alles andere – nicht. Kurz gesagt, bereits der Buchumschlag verrät uns, dass man uns mit einer Art Literaturdroge, gelb und weiß, gleichzeitig echt und unecht, betrügen möchte. Deshalb beginnt der Roman auch mit der Erläuterung des Wortes „adibas“, quasi eine Warnung an den Leser. Die sichtbar aus einem Lexikon gerissene Erläuterung kann man wie folgt lesen: „adibas – 1. Fälschung von adidas. 2. Allgemein: Ersatz, Imitation. 3. Alles Mögliche an Fälschung und Falsifikation: eine Sache, ein Gegenstand, eine Situation, ein Ereignis usw.“ Man muss noch Folgendes hinzufügen: „eine derartige Fälschung, die dem verdammten Käufer als Original untergejubelt werden kann“. Und man kann es im Handumdrehen übersetzen (der erfahrene Leser weiß genau, dass der Autor nicht umsonst eine Erläuterung gleich auf der ersten Seite bringen würde). Der Autor warnt lauthals: Achtung lieber Leser, dir präsentiert sich eine Fälschung. Aus diesen Seiten schreitet der Ersatz, die Imitation, die Falsifikation, die unechte Situation, die Vulkanisierung und die Balancierung in deine Richtung (der im Jahr 2008 verstorbene Alain Robbe-Grillet, der im fortgeschrittenem Alter in die „Académie française“ gewählt wurde, warnte in seinem 1953 veröffentlichten Roman „ Die Radiergummis“ ebenfalls seine Leser vor übermäßigen 24 Stunden). Aber man sollte auch wissen, dass der Autor einen belügt und neben dem gefälschten Gold auch auf verwegene Weise die Wahrheit unterschiebt, hinterlistig, wie eine Schlange. Nun ist der besorgte und humane Autor zufrieden, weil er seinen treuen Leser gewarnt hat, damit dieser später keinerlei Ansprüche erhebt, da er ja bereits auf der ersten Seite auf die Fälschung und auf Giorgio Armani hingewiesen wurde. Die Leser hat er gewarnt, die High-Society – verärgert und den Verein orthodoxer Eltern auf Leben und Tod herausgefordert.

Warum überhaupt das Wortspiel mit adidas und adibas? Warum keine andere Fälschung, wie z.B. das berühmte „abibas“, „Somy“, „Panaphonic“, „Panatronic“, das chinesische „IPhone“ (dies erschwert die Sache, da nämlich das wahre IPhone auch in China hergestellt wird) oder auch eine „Rolex“ für zehn Lari2? Vielleicht aus dem Grund, dass die „Adidas AG“ eine vertraute, eine europäische, eine deutsche Firma ist, und Deutschland im Roman durch die Erwähnung der Eisenbahnstrecke zwischen Potsdam und Berlin besonders betont wird. Ich habe meine eigene Version und keiner kann mich von etwas Anderem überzeugen: adidas, das ist die Einigkeit von drei Linien; drei, die zu einem werden, eine so genannte sportlich akzessorische Dreifaltigkeit. Der Roman zeigt auch genau drei unterschiedliche Welten: 1. Die echte (?) und teure (?) (Boutiquen in Wake3, die Cafés auf der Chardinstraße4), 2. Die gefälschte und die überteuerte (die Märkte, sog. Bazars, ein Ort, der als „die Weisheit der Lüge“ bezeichnet wird), 3. Die wahrhaftige und günstige (Second Hand, gebrauchte Artikel, ein Ort, welcher „in sacco veritas“, also „im Bündel liegt die Wahrheit“ genannt wird).

Nach dem, was oben gesagt wurde, würde der wahre, also der adidas-Leser das Buch zuschlagen und über die Sinnlosigkeit des Lebens nachdenken. Danach würde er das Buch wieder aufschlagen und jetzt anders, unter dem gefälschten Yamamoto lesen, dass dieser neuer Roman von dem georgisch-russischen Krieg von 2008 handelt und dass der Krieg zusammen mit Sex die Hauptfigur des Romans darstellt. Krieg und Sex, wie kann man dieser Versuchung widerstehen! Der Leser wird durch eine Exposition in das Buch eingeführt, die als „01 Multimedia des Morgens“ betitelt ist. Bereits bei dieser Art der Nummerierung und bei dem Untertitel sollte der Leser begreifen, dass dieser Roman außer Krieg und Sex auch eine andere Figur hat: nämlich die moderne Technik, die ausgedrückt wird zum einen durch den andauernd eingeschalteten Fernseher, der das Fortschreiten der russischen Armee und den Prozess der Diffusion in Tbilisi zwischen Digomi und dem Platz Gagarin aufgeregt überträgt, zum anderen begegnet sie uns durch einen unachtsam hingeworfenen offenen Laptop, ein weiteres Mal durch die spezifische Aufgabe, die sexuelle Erregung durch die Suche nach „Cannibal Corp“ in Youtube zu beruhigen, wieder ein anderes Mal bietet sie uns die Transkription russisch-georgischer Texte in lateinischen Buchstaben in Skype (das elfte Kapitel trägt den Titel „Georgien“), wieder ein anderes Mal erfreut sie uns durch den Wifi coffee.ge und noch ein anderes Mal zwinkert sie uns durch den 120 GB IPod zu und umgarnt uns mit Bang&Olufsen Kopfhörern, die den Wert einer guten Waschmaschine haben. Und noch eine weitere Figur begegnet uns in dem Roman, die wir bereits aus anderen Romanen des Autors kennen: die englische Sprache. Häufig kommen Zitate, Beschriftungen, Anspielungen usw. in Shakespeares Sprache vor. Kurz gesagt, der Krieg, der Sex, der Computer und das Englische bilden „Ge-or-gien“ in „adibas“.


Wie alle adidas-Autoren, würde ein adibas-Leser einen Zaza Burchuladze nicht wollen. Deshalb muss er alles vorkauen und ihm (dem Leser) als mundgerechte Stücke in den weit offenen Mund schieben. „adibas“ ist zwar eine Fälschung, er hat zwar die Erläuterung geschrieben, auch das Logo verfälscht (am unteren Rand ungerechterweise zu einem Kreis geformt), aber er spürt, dass das alles trotzdem noch nicht ausreicht; darum erschafft er ein völlig neues, „adibas“-mäßiges Produkt, eine Superfalsifikation, die Verwirrung von dem „Hier und Jetzt“, eine völlige Inkompatibilität, das Surrogat des Surrogats – das Xinkali5 im Café „Lurji Xaverdi“6, das eine Holländerin fleißig und gekonnt verschlingt – wie einer seiner alten, bekannten Protagonisten7 will der Autor eigentlich sagen: „Wer das Xinkali aus Samt versteht, der versteht auch meine Poesie“.

Die Helden des Romans haben Geliebte und Ex-Geliebte. Nicht derart, dass eine ehemalige Geliebte die jetzige eines anderen ist und sich vor den Augen des ehemaligen Geliebten dem jetzigen hingibt und diese Szene von dem ehemaligen Geliebten auf Wunsch seiner neuen Geliebten auf Video aufgezeichnet wird (ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber ich höre sofort die empörte Stimme eines Bürgers: „So ein Schmutz!“). Dies alles wird natürlich nicht in der Sprache eines Äsop erzählt.

Man könnte fragen, was gut ist an diesem Naturalismus, an dieser Verdorbenheit, an diesem gesegneten „Toyota RAV4“, an dem Karaoke-Gesang eines Mönches in seiner Zelle, an dem Einmarsch der russischen Armee in Tbilisi oder an dem enzyklopädischen Wissen über Drogen? Und auch ich bin der Meinung, dass außer dem Können des Autors nichts gut ist, weil man während dem Lesen der fünfzehn Kapitel des Romans erst nach und nach die nationale Verfälschung begreift, symbolisiert durch das Einparken eines Hammer-Jeeps mit Kennzeichen „ALIKA“ in dem Hof einer Kirche, die äußerste Scheinheiligkeit begreift, die nationale Gleichgültigkeit, das weiße, mit einem Photoshop bearbeitete Lächeln Saakaschwilis9 auf einem Kalender, die während des Oralsex eingeschlafene Frau, den Triumph der Lügerei, die beliebte Astrologie (so wird das achte Kapitel mit „08/08/0810 – Widder: heute sind Ihre energetischen Ressourcen grenzenlos…“ betitelt). Dem allen folgt eine ungewollte Erleuchtung, das Begreifen dessen, dass „adibas“ nicht nur der Titel eines Buches ist, sondern dass „adibas“ die Diagnose für das heutige Georgien ist. Wir sind weder eine echte, noch eine gebrauchte Gesellschaft. Wir sind eine gefälschte Gesellschaft, die sich als eine echte verkaufen will.


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LITERATUR: Rezension von Gaga Lomidze zu „adibas“ von Zaza Burchuladze (euterpe.origross.net)

ADIBAS oder die Fälschung von Tbilisi

„Etwas ist faul im Staate Dänemark“ (Shakespeare, Hamlet)

„Und der Fernsehturm, wie ein Kreuz auf dem Grab“ (Irakli Charkviani, Georgien)

„Plötzlich nimmt die Hitze zu und wir können es nicht aufhalten. Wir können es auf keine Weise aufhalten (…) 􀀸ir sollten nicht einmal versuchen, es aufzuhalten, sondern wir müssen uns auf eine neue Welt, welche uns bevorsteht, vorbereiten.“ (James Lovelockes Interview mit Vivien Westwood, in: Dazed&Confused. Juni, 2009)


In seinem Film „Moderne Zeiten“ hat Charlie Chaplin – wahrscheinlich ungewollt und in einem etwas anderen Kontext – auf geniale Art und Weise gezeigt, wie das ideale Leben aussehen soll. Der Film zeigt Szenen, in denen der Protagonist in einem Sessel faulenzt; es genügt, dass er sich ein Glas Milch wünscht, und just taucht am Fenster eine Kuh auf, und ohne dass er sich aus seinem Sessel erhebt, hält er sein Glas aus dem Fenster, und die Kuh melkt sich von selbst; es genügt, dass er sich einen Apfel wünscht und just schwingt vom offenen Fenster ein Apfelbaumast herein, der ihm ein Apfel anbietet. Auf die heutige Zeit bezogen lassen sich die Kuh und der Apfelbaum durch High-Tech ersetzen und das Ergebnis ist dasselbe. Und doch scheint Charlie Chaplin gespürt zu haben, dass sich im 21. Jahrhundert – dem Höhepunkt des Konsumzeitalters – alles, auch moralische Werte, den menschlichen Komfortansprüchen untergeordnet werden, und dass Utopie zur Dystopie wird, und Gefühle im Gegensatz zum Verstand zweitrangig und bedeutungslos werden.

Zaza Burchuladzes Roman „adibas“ kann als einer der besten georgischen Romane der jüngsten Zeit betrachtet werden. Die raffinierte Sprache und der Hang zum Gewagten kann mit den barocken und gerüschten Abendkleidern von Donna Karan, mit den gefalteten Kragen und den Manchetten von Dries van Noten oder mit den surrealistischen Experimenten von Viktor & Rolf oder oder den futuristischen Experimenten eines Alexander McQueens verglichen werden. Diese Designer werden nicht zufällig erwähnt: „adibas“ kann teilweise als eine große Reklametafel für Marken (Brands) wie in den Romanen von Bret Easton Ellis gesehen werden. Wer schon einmal die Zeitschrift GQ aufgeschlagen hat, den erinnert dieser Roman sogleich an die Rubrik UP & DOWN, in der gezeigt wird, welche Mode „IN“ und welche „OUT“ ist. Tatsächlich aber ist dieser Roman eine Satire über die georgischen „DOWN-Tendenzen“, wobei der Autor durch die Kombination bekannter Marken-Logos völlig neue Logos und Symbole schafft. Oder anders ausgedrückt, er erschafft Analogien zu einem Mutationsprozess, den er innerhalb der Tbiliser Gesellschaft wahrnimmt; z.B. ergibt die Kombination aus dem Radioaktivitätszeichen, dem Mastercard-Logo und dem Ferrari-Logo erstaunlicherweise ein neues Logo in der Form eines Penis. In dieser modernen Welt können Fashion-Mantras und das Logo von Yamamoto so kombiniert werden, dass man konzeptuell neue ikonische Zeichen erhält. So funktioniert die profane Logik der Postmoderne, die neue Marken schafft und diese auch selbst zerstört. Aber diese Zeichen sind nur die Fassade eines solchen Konzeptes, was dieser Roman durch sein Spiel mit den Markenzeichen entlarvt: „adibas“ ist die Kombination aus der Hyperrealität nach Bodriar und dem Konzept von Simulacra.

Der Handlungsort des Romans ist Tbilisi – eine unechte, teilweise hyperreale Stadt von Mutanten, wo alles eine Fälschung ist – angefangen von den Brands bis hin zum alltäglichen Leben. Der Erzähler dieses Romans gleicht einem antiken Paresiasten, der eine antisoziale und zeitweise nihilistische Weltanschauung/Position gegen die Verfälschung einnimmt, und so gegen den Konsum protestiert, da die Umgebung durch ihre Gefühlskälte auf Gewalt keinerlei Reaktion mehr empfindet. „Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt“, da Gott und Moral synonym verstanden werden. In dieser Wirklichkeit ist die Moral nur in Form von Ritualen vorhanden – z.B. durch die Segnung von Autos, die durch das Aufkleben eines Kreuz-Stickers gekennzeichnet wird.

Der Stil von „adibas“ erinnert an eine Mischung aus amerikanischer Prosa der 80er Jahre, japanischen Mangas und amerikanischen Comics. Wie die Comics ist auch dieser Roman mit Superhelden ausgestattet, aber es sind nur Antihelden, bestimmte Images, weil, wie der Erzähler sagt: „No one can be the hero in fake city“. Auch wir als Leser bekommen das Gefühl, dass alles, was in der Realität geschieht – sogar der Krieg – nur ein Spiel auf unseren PC-Bildschirmen ist, das von uns selbst gesteuert wird. Die Realität den Romans gleicht der Arena bei einem Kampf zwischen Superhelden und Monstern. Durch dieses Leben in einer virtuellen Welt lässt sich die Teilnahmslosigkeit bzw. das Absterben der Gefühle erklären. Dies zeigt sich in jeder einzelnen Passage: als russische Kampfflieger über das Schwimmbad von Wake fliegen, bleiben alle ganz ruhig, als ob nichts geschehen würde; oder als ein Aufklärungsflugzeug den Park in Vera3 überfliegt, bekommt man das Gefühl, dass der Erzähler dies alles in einem virtuellen Raum eines „Youtube“ beobachten würde. Vielleicht meint der Autor genau das, wenn er sagt: „Längst begreift ihr nicht mehr, ob ihr den Fernseher gebraucht oder ob der Fernseher euch gebraucht. Und überhaupt könnt ihr nicht mehr feststellen, ob euer Leben real ist oder nur eine Sendung auf dem Discovery-Channel“. Der Fernseher hat auf besondere Weise unsere Weltanschauung und unser Verhältnis zu den Gegenständen und Ereignissen beeinflusst.

Auch die Hyperrealität geht davon aus, dass Wirklichkeit und Vorstellung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.

In „adibas“ erscheinen Erinnerungen und Vorstellungen wie in einem digitalen Format. Sogar ein Hund wird mit einem Roboter-Hund assoziiert. Vielleicht ist das der Grund, dass der Krieg in den Hintergrund rückt und er einem Spiel aus der digitalen Computerwelt gleicht. Ein Kriegsspiel mit Elementen der Hyperrealität, die zwar in unsere Wirklichkeit eingreifen, uns jedoch physisch nicht berühren – vergleichbar mit den Spielen auf „Facebook“, wo unser täglicher Log-In zwar unseren Alltag bestimmt, aber eine gewisse Distanz zum dort Erlebten bestehen bleibt, da es sich eben nur um eine virtuelle Welt handelt. So ist der Unterschied zwischen einer TDK-Kassette und dem IPod eine Metapher für den Unterschied zwischen der Vergangenheit oder der nostalgischen Kindheit und dem Heute. Die im Roman handelnden Figuren, eine so genannte verlorene Generation der „Second Hand“- Verbraucher oder, wenn Sie so wollen, eine vom Aussterben bedrohte Dinosaurier- Generation wird vom Autor passend mit der Metapher „Vin tage“ bezeichnet. Diese Bezeichnung nimmt Bezug auf die Moderichtung „Vintage“ (Used Look) und soll auf Vergangenes, Altes hindeuten. Im integrierten Theaterstück des Romans, in dem die Figuren auf Metamphitamine warten, gleicht die Handlung dem „Warten“, wobei Bewegung in Wirklichkeit Bewegungslosigkeit ist, was auf das Stück „Warten auf Godot“ anspielt. Dies wird durch den letzten Satz eines der Akteure besonders deutlich: „Gehen wir!“ und die Regieanweisung dazu lautet: „Sie bewegen sich nicht von der Stelle“. Im Zeitalter der Postmoderne sind alle unsere Bemühungen neutralisiert und die einzige Wahrheit ist das Gefühl der Unfähigkeit.

„Xinkali“ und das „Saxinkle“ werden zu einer weiteren Metapher unserer Werte, wobei Essen und Verdauen gleichgesetzt werden kann mit dem berühmten Satz aus Pasolinis „Salo“: „Mangia“. Auch das „Saxinkle“ mit dem Namen „Lurji Xaverdi“ (blauer Samt) stellt ein Paradox dar, vor allem dadurch, dass es auf der glamourösen Chardinstraße7 eröffnet wurde. Die Pseudo-Feierlaune wird durch die effektvolle Beschreibung neutralisiert. Im „Lurji Xaverdi“ hat alles einen blau-lila Stich, wie in einem Solarium… oder in einem Fantasythriller. Es wirkt so, als ob man eine Feier von lebenden Toten beobachten würde – wenn ringsum Panzer rollen und im Himmel Jagdbomber fliegen, dann wandelt sich das Fest in schlechten Zeiten zu einer Fresserei. Durch den gesamten Roman, in der gesamten Stadt und auch im „Saxinkle“ nimmt man einen fauligen Geruch wahr, die Luft ist schwer und der Raum verschlossen. Diese Art von schwerer Luft erinnert an Sartres „Brechgefühl“, das durch den Kommentar des Erzählers verstärkt wird: „während des Erbrechens an höhere Materie denken und während des Denkens an höhere Materie, erbrechen“.Dies gleicht dem „Konzept der Karnevalisierung“ von Michail Michailowitsch Bachtin mit seiner Ambivalenz, seiner Ablehnung und gleichzeitiger Anerkennung.

Normalerweise sollte doch ein Comic eher das Gefühl von Spaß und Freude hervorrufen. Jedoch ist der Roman „adibas“, obwohl er auf den Spaß am Leben in der Großstadt hindeutet, einer der traurigsten Romane über Tbilisi von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute, wo Freude und Sorglosigkeit durch Pseudo-Freude und - Sorglosigkeit ausgetauscht sind. Nur einige Sätze lassen uns hinter die bunte Fassaden der beschriebenen Tbiliser Kultur blicken: „um diese Veränderungen zu spüren, muss man Tbilisi sehr gut kennen. Die Stadt ist immer formbar, wie Knete – eine hyperreale Stadt. Jeder kann sie nach seinem Belieben formen, färben, vergewaltigen und, was am wichtigsten ist, sie verfälschen. Man bekommt das Gefühl, als ob sie selbst darum bittet oder gar befiehlt, dass man sie färben vergewaltigen und verfälschen möge“. Die georgische Sprache besitzt weder eine Genusunterscheidung noch verwendet sie Artikel wie das Deutsche, wo das Geschlecht eines Wortes am entsprechenden Artikel erkennbar ist. Im Roman wird daher mit lexikalischen Mitteln eine Metaphorik der Weiblichkeit der Stadt erzeugt. Die Stadt mit ihrer im Voraus bedachten Fassade, die den Wunsch nach dem Beherrscht-Werden in sich versteckt und von einer kolonialen Weltsicht gekennzeichnet ist. Tbilisi erscheint als eine Schatzkammer, die für alle offen und immer bereit ist beherrscht zu werden – im Namen der Toleranz oder anderer Schönrederei. Jedoch ist im postmodernem Zeitalter die Nacktheit Norm und auch das Verbergen von Wünschen kein Zeichen für einen gesunden Gedanken. Und auch an dieser Stelle erinnert ein Satz an Bachtins „Konzept der Karnevalisierung“: „Der Krieg selbst ist eine Imitation von Sex oder umgekehrt, Sex ist eine Imitation des Krieges“, wobei Sex und Krieg sich vereinigen. In diesem Zusammenhang kann man auch die sexuelle Erregung des Erzählers über ein Reklamebanner der Reservisten verstehen: „Reservisten haben eine Wirkung auf mich wie Viagra und versetzen mich in eine militärische Stimmung“. Dies erinnert an das „Totenfest“ von Jean Genet, wo beim Erzähler durch die Uniformen der Nazi-Soldaten im besetzten Frankreich erotische Phantasien hervorgerufen werden.

Die Dyade von Krieg und Sex wird durch das Hinzukommen des Todes zu einer Triade. Aber der Tod ist nicht als Ende zu verstehen, sondern als Beginn von etwas Neuem. Vielleicht lässt sich somit die Hypersexualität des Erzählers erklären, als ob er nach einem vorübergehenden Versteck sucht. In Pedro Almodovars Film „Sprich mit ihr“ verweist der Autor durch das Begehren in die Vagina einzudringen gleichzeitig auf das Begehren zur paradiesischen Ruhe zurückzukehren.

Der einzige Ausweg aus dieser schwülen Umgebung scheint Sex zu sein, egal ob dieser real ist, ein nur auf dem Monitor wahrgenommener Akt oder per Telefon ausgetauschte Bilder der Geschlechtsorgane. Aber ein solches Begehren ist gleichzeitig, bewusst oder unbewusst, mit einer eschatologischen Angst im Voraus diktiert.

Am Ende des Romans verwandeln sich die Einzelteile, die aus einzelnen Pixeln bestehende Welt, in ein Gesamtbild mit hoher Auflösung, und es stellt sich heraus, dass die Handlung zur selben Zeit und am selben Ort passiert, und nur die Perspektive unterschiedlich ist. Aber es ist ungewiss, ob der 08.08.088 – die dreimal mit Null multiplizierte Unendlichkeit – zum endlosen „Warten auf Godot“, zum Anfang vom Ende oder zum Symbol für Erneuerung wird.

Übersetzung von Prof. Manana Tandaschwili, Mariane Mdinaradze

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LITERATUR: Adibas. Von Zaza Burchuladze - Auszug (euterpe.origross.net)

Minidreiecke

− Zwei Mojitos – sage ich zum Barkeeper.
Er heißt Paata, doch alle nennen ihn Bobby. Wegen Marley. Ich spreche ihn aber nie mit seinem Namen an. Sein Pseudo-Reggae-Stil geht mir auf die Nerven. Er fällt aus dem Rahmen, mit seinem marihuanablätterbestickten Hemd, den Dreadlocks, den Lederketten und den weiten Shorts. Bobby nickt, als würde er meine Entscheidung gutheißen. Dabei lächelt er mich an. Ich hasse es, wenn man sich so plump bei mir einschleimt. Während er die Limetten schneidet und das Eis crasht, setze ich
mich an der Bar auf den Plastikstuhl, der unter einem Sonnenschirm steht.
Im Freibad von Vake tummeln sich viele Leute: die Witwen von Kriminellen mit ihren
Silikonbrüsten, Frauen von Geschäftsleuten mit ihrer Cellulitis an den Hüften, spermaschluckende Barbies mit ihren überdimensionalen Sonnenbrillen, schwule Rave-Liebhaber mit ihren Bauchpiercings, Muttersöhnchen, denen jeder Traum erfüllt wird... junge knackige Körper, jederzeit bereit, sich vor der Eurovision zu präsentieren. Der Duft von Wasser, Make-up, Chlor, und der spezifische Geruch von Desinfektionsmitteln mischen sich ineinander. Die Wasseroberfläche reflektiert die Sonnenstrahlen und blendet das Auge. Aus den Boxen dröhnt monotoner House. Eine solche Musik kann dir nicht gefallen, sie kann dich nicht einmal reizen. Du bist für dich, sie ist für sich. Ich glaube, diese Musik wird extra für Flughäfen, McDonald‘s und Freibäder gemacht. Man weiß nie, wann sie anfängt oder aufhört. Es ist nicht mal 10 Uhr, aber es ist schon brütend heiß. Ins Wasser geht aber trotzdem niemand. Die ausgelaugten und käseweißen Tiflisser liegen um das Becken herum auf ihren Sonnenliegen, unter den Sonnendächern; sich bräunen und ins Wasser gehen gilt als prestigelos und albern.
Nur Tako hat eine schöne, schokoladenfarbige Bräune. Sie steht barfuß mit geschlossenen Augen am Beckenrand und kehrt mir den Rücken zu. Sie hat fast nichts an. Ihr Badeanzug ist schwer zu erkennen: das Y-förmige Höschen und die Miniaturdreiecke, die mit dünnen Fäden miteinander verbunden sind, können kaum etwas bedecken. Dieser kupferfarbene Bikini gleicht ihrer braunen Hautfarbe so sehr, dass man ihn auf dem Körper kaum erkennen kann. Wegen der Bräune kann man nicht mal mehr ihr Tattoo erkennen. Dabei hat sie es sich erst vor zwei Wochen mitten auf ihren Nacken tätowieren lassen: ein großer Kreis mit zwei Zentimeter Durchmesser und ein weiterer Kreis mit einem Kreuz innen drin.
An solch einer ungewöhnlichen Stelle hat sie es sich nur deswegen eintätowieren lassen, weil der Nacken, natürlich nach ihrer Klitoris, ihre erogenste Zone ist, sozusagen ihr äußerer G-Punkt. Ich glaube, damit hat sie sogar den pubertären Protest der Mädels überschritten, für die es normal ist, ihre Eltern zum Feind zu erklären, des öfteren zu masturbieren und voreilige Entscheidungen zu treffen. Doch das sag‘ ich ihr nicht.
Nebenbei bemerkt, vor zwei Wochen wäre sogar ich bereit gewesen, mich tätowieren zu lassen. Ich wollte mir auf meiner Glaze eh schon immer ein großen, blauen Pfeil machen lassen, so wie beim Avatar: von der Stirn bis zum Nasenbein. Wenn mich nicht alles Dauerhafte nerven würde, hätte ich mich schon längst wie ein Yakuza angemalt.
Solange der Tätowierer mit seinen Plastikhandschuhen an Takos Nacken herummachte, setzte ich mich auf den Ledersessel und ging den Tattookatalog durch. Von den Sonnensymbolen der Inkas und Azteken über Strichcodes bis hin zu SS-Emblemen und dem Portrait von Che war alles drin. Bunt wie eine Computertomographie oder einfarbig wie einfache Stancils. Auch lustige Motive waren dabei. Zum Beispiel eine taoistische Monade, zusammengesetzt aus industriellen Symbol-Logos: Yin und Yang und Grüner Punkt.
Mir hat auch der Kriegsgott gefallen - Huitzilopochtli. Der sich im Nachhinein als ein Kolibri herausstellte. Er war bis an die Zähne bewaffnet und trug eine Rüstung – er sah aus wie Bumblebee, dieser Chevrolet Camaro, der sich in einen Riesen verwandeln kann. Nachher schaute ich in Wikipedia rein. Zu Ehren dieses kleinen Vogels wurden seinerzeit sogar Menschen geopfert. Man würde mich falsch verstehen, ich würde aber mit Vergnügen halb Tiflis irgendeinem Vogel opfern, von mir aus auch einem Spatz.
Außer mir saß an der Bar noch ein Pärchen. Auf dem weißen Plastiktisch stehen halb volle Saftgläser. Gleich daneben liegt ein Vogue-Schachtel. Innen drin steckt ein Feuerzeug. Die Frau sitzt so, dass ich nur ihre dünnen Schultern, ihre auf den Tisch gestützten Unterarme und ihre Ferse unter dem Tisch sehen kann. Unter ihrer Ferse lässt sich eine gelb verfärbte, faltige und schuppige Sohle erahnen. Sie flüstert dem vorgebeugten Mann etwas ins Ohr. Dieser nickt von Zeit zu Zeit und tippt währenddessen eine SMS.
Ich weiß nicht warum, aber auf einmal fällt mir mein Traum von heute Morgen wieder ein. Ich träumte, ich wäre in der Residenz Schewardnadzes und würde ihn interviewen. Wie immer war er eher konservativ angezogen: ein blauer Anzug und ein hellblaues Hemd. Nur seine Füße steckten in rosa Plüschpantoffeln, die vorne Hasenörchen hatten. Wir saßen an einem Couchtisch, in breiten, lederüberzogenen Sesseln. Auf dem Tisch standen eine Flasche Mineralwasser sowie zwei Gläser. In meiner Hand hielt ich ein Diktaphon. Das Leder des Sessels und Schewardnadzes Haut hatten eine und dieselbe Farbe. Ich konnte kaum erkennen, wo er aufhörte beziehungsweise der Sessel
anfing. Irgendwie erinnerte er mich an Big Lebowski aus „The Big Lebowski“. Er bewegte seine Lippen nicht. Die Laute kamen aus seinem Mund wie bei einer Puppe. Monoton und phlegmatisch erinnerte er sich: „Einmal, ich war noch ZK-Sekretär, ging ich zu Paradschanow (Anmerkung). Er wohnte auf dem Mtazminda in einer kleinen hölzernen Hütte. Er freute sich, mich zu sehen. Aber er genierte sich: ‚Ich habe nichts da, warten Sie, ich geh zu den Nachbarn und frage, ob sie etwas haben,‘ sagte er. Ich sagte ihm, er müsse nicht gehen, falls ich etwas gewollt hätte, hätte ich es
selber mitbringen können. In seiner Hütte bewahrte er einige ungewöhnliche Dinge auf, fast wie in einem Museum. Dann wurde ich nach Moskau versetzt. Das Museum haben die Armenier dann heimlich nach Erivan gebracht. Sie schafften es wirklich, alles, was sich in Paradschanows Hütte befand, Stück für Stück nach Erivan zu bringen und dort ein wunderschönes Museum zu eröffnen. Irgendwann sagte ich zu denen:
− Wir konntet ihr so etwas machen? Schämt ihr euch denn nicht?
− Warum sollten wir uns schämen? Er war Armenier, so wie wir.“
Der Flashback ist vorbei. Tako hatte sich einen kleinen Kopfhörer ins Ohr gesteckt. In ihrer Hand hält sie einen i-Pod, dessen weißes Kabel vor ihrer braunen Haut weißer wirkt als es ist. Wie eine Milchspur auf Schokolade. Sie wirkt sorglos. Als wäre sie allein mit sich selbst, in sich selbst eingeschlossen. Im Rhythmus der Musik bewegt sie sich wie eine tanzende Kobra. Gleichzeitig ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie in die lustlose Realität des Schwimmbads eine geringfügige, aber korrekten Dissonanz hineinbringt und dass sie nun von allen beobachtet wird. Aber nur heimlich, mit gespielter Gelassenheit. Sich diese Show direkt anzuschauen, wäre unangebracht. In diesem heimlichen Voyeurismus steckt immer mehr Erotik als in irgendeinem Porno. Und das ist schon mehr als nur Show. Das ist Magie, wie der Zaubertrick mit der Säge. Sie will es selber, dass sie angegafft wird und dass man sich an ihr aufgeilt. So wie eine Frau, die sich im nächsten Moment in die Box legen wird, damit man sie vor dem Publikum in zwei Hälften sägt. Warum auch nicht? Ich mag alles, was Tako macht. Mir gefällt es selber, wenn ich sehe, wie sich die Leute an ihr aufgeilen. Es geilt mich selber auf, wenn ich ihre fest Brüste sehe, ihren Knackarsch, ihre jungenhaften, etwas zu breiten Schultern...
− Zwei Mojitos. - Bobby stellt zwei Gläser an die Bar.
Das Wasser im Becken strahlt so sehr, dass man glauben könnte, sie würden Spezialeffekte einsetzen. Dabei zittert es, als würde es regnen. Ein anschwellendes Brummen nähert sich, erreicht seinen Höhepunkt und verschwindet sogleich wieder. Das Jagdflugzeug fliegt so knapp über das Becken, dass sich auf der Oberfläche des Wassers sowohl sein Schatten wie auch die Druckwelle bemerkbar macht. Die Sonnenschirme an der Bar verbiegen sich gefährlich, im Becken schlägt das Wasser Wellen. Die lethargischen Tiflisser verharren auf ihren Liegen, keiner von ihnen lässt sich etwas anmerken. Nur eine dünne Frau beugt sich aus ihrem Stuhl und schaut in den Himmel. Sobald ich an dem Mojito nippe, bereue ich es. Warum habe ich nicht einfach Wasser bestellt? Statt Bacardi ist irgendein Schnaps in dem Gesöff.
Von der Hitze schon ein wenig desorientiert nähere ich mich Tako und küsse sie auf ihren heißen Nacken. Sofort bekommt sie eine Gänsehaut. Auf meinen Lippen schmecke ich den süßsäuerlichen Geschmack von Sonnencreme. Mein Gehirn schickt erste Signale an meinen Schwanz. Sofort schließt sich mein Sphinkter, an meinen Sack spüre ich einen leichten Stromschlag. In solchen Momenten schließt sich immer zuerst mein Sphinkter, und dann zieht es in meinen Hoden. Dennoch wird er nicht steif: Aus den Kopfhörern dringt ein bekannter Jazzsong. Irgendwie kriege ich das in meinem Kopf nicht zusammen, Tako und diese Musik. Ich küsse sie noch einmal auf den Nacken. Erfolglos warte ich darauf, dass sich das Jazzthema in ein elektrisches Remix verwandelt.
Tako dreht sich zu mir um. Lächelnd schaut sie mich mit halb geöffneten Augen an – das glänzende Wasser blendet ihre Augen. Ich gebe ihr meinen Mojito. Was hörst du, frage ich sie mimisch. Statt einer Antwort zeigt sie mir den Display ihres i-Pods. Ich sehe gar nichts. Das Display reflektiert das Sonnenlicht. Tako wippt wieder wie eine tanzende Kobra. Bevor sie ihre Hand wegzieht, sehe ich, das der Nagellack auf ihrem Zeigefinger schon abgeblättert ist.

Irgendwie eine dritte Variante

Ich sitze mit Tika schon seit zwanzig Minuten auf der Veranda des Hotels „Kopala“. Wir warten auf Kira und Karlos. Sie sind noch auf ihrem Zimmer. Ich bin gut gelaunt. Nicht weil Karlos ein toller Mensch ist, auch nicht, weil er mit Sicherheit dieses belebende bolivianische Pulver mitbringt. Ich bin einfach gut gelaunt, einfach so, ohne Grund. Ich will konkret an etwas Gutes denken, doch mir fällt nichts ein. Nur sinnlose Fetzen, ohne Anfang und Ende. Gleichzeitig überlege ich mechanisch, woher diese komischen und für das Georgische untypischen Dorfnamen in Georgien kommen, wie z.B. Buscheti in Kachetien, Gostibe in Kaspi, das besonders poetisch anmutende Schebota in Tianeti oder das japanisch klingende Akura bei Telavi. Ein Kellner stellt Gläser auf den Tisch.
− Darf‘s noch etwas sein?
Ich nippe an meinem Eistee.
− Noch nicht, – lächelt Tika den Kellner an. – Danke.
Auch der Kellner lächelt und geht fort.
Von hier aus könnte man fast ganz Alt-Tiflis mit der Hand einfangen. Metekhi, den Mtkvari, einen Teil der Lesselidzestraße und Narikala. Trockener Dunst steigt von den Straßen der Altstadt auf. Von irgendwoher kann man das Brummen von Hubschraubern hören. Es weht nur ein leichter Wind. Heiße und kalte Strömungen mischen sich ineinander. Hier im „Kopala“ ist es angenehm.
− Kira ist angekommen, – hatte mir Tika am Morgen gesagt.
− Kira? – wunderte ich mich. – Wann denn?
− Um sechs Uhr morgens.
− Allein?
− Zusammen mit Karlos.
Das ist schon eine andere Geschichte. Über niemand habe ich so viel gehört wie über Stas, alias Karlos, Kiras Ehemann und ein wahrhaft wundervoller Mensch. Jedenfalls, all das gute Koks, das wir diesen Frühling in Moskau geschnupft haben, hatten wir mehr oder minder ihm zu verdanken. Karlos ist wie ein somalischer Pirat – man hat ihn noch nie gesehen, aber schon viel von ihm gehört. „Karlos‘ Koks“, „Ist das Karlos‘ Koks?“, „Karlos‘ Koks – super!“, „Ruf Karlos an.“
Ihn selbst, den sagenumwobenen Karlos, habe ich bisher nur einmal zu Gesicht bekommen. Und dann auch von so nahe und in solch einem Zustand, dass ich ich mir sein Gesicht nicht einprägen konnte. In der Toilettenkabine des „Kveknis tscheri“ zog er mir auf dem Display seines „Vertus“ eine kurze, aber so dicke Line, dass ich dachte, er wolle mich umbringen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er einen Kopf kürzer ist als ich. Er hat eine goldbraune Gesichtshaut, große blaue Augen und vorne einen kleinen gesträhnten Iro. So wie der ehemalige Bandleader der „Boysband“. Irgendwie leuchtet und glänzt er. Nicht nur wegen den Saphir-Manschetten von „Bucheron“ und den Porzellanzähnen. Er leuchtet mit seinem ganzen Ego: „Ich bin Superman, und mir ist nichts supermännliches fremd.“ Er benutzt irgendein dezentes Parfüm. Ein ähnlicher Duft scheint dir bekannt zu sein, fast schon so, als würde es dich gleich an etwas Bestimmtes erinnern. Aber am Ende kannst du doch nicht sagen, welcher Duft es ist und woran er dich erinnert.
− Schnupf es, – sagte er und gab mir einen goldenen Strohhalm.
An den Strohhalm erinnere ich mich besser als an Karlos selbst. Darauf war mit unbekannten, luminiszierenden kleinen Buchstaben irgendein Text eingraviert, so wie in die Innenseite des Rings aus dem „Herrn der Ringe“. Sobald ich die Line geschnupft hatte, wurde mit klar, dass Karlos ein wunderbarer Mensch war. Er hat sogar Humor, was eine seltene Eigenschaft bei reichen Menschen ist. Ich weiß nicht, ob er es sich selber ausgedacht hatte oder ob er einfach irgendjemandem nachplapperte, jedenfalls sagte er mir an jenem Abend: „Den reichen Russen, so wie mir, muss man Schnaps mit einem solchen Emblem eingießen.“ (Dabei hauchte er auf den Toilettenspiegel und schrieb mit dem Finger drauf): Womöglich gibt es Menschen, die, obwohl sie massenweise teuren französischen Wein und Kognak trinken und zum Dessert kilometerlange bolivianische Lines ziehen, dennoch ihren Schnaps vorziehen.
Was Kira anbetrifft, so hat sie alle Voraussetzungen, um auch eine gute Frau zu sein. Wenn du deine Cocktailkleider exklusiv bei einem berühmten Designer schneidern lässt, zuhause aber einen privaten Masseur hast, musst du dich schon sehr anstrengen, um den Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Das besondere dabei ist, dass Kira und Tika Sandkastenfreundinnen sind. Seitdem Kira aber Karlos geheiratet hat und ihm nach London gefolgt ist, haben sich ihre Wege getrennt – so oft wie in den alten Zeiten haben sie jetzt nicht mehr miteinander zu tun. Dabei waren sie früher wie Thelma und Louise. Ich hatte den Eindruck, dass sich plötzlich nicht Kiras Vorstellung von der Welt, sondern ihre Welt selber von Grund auf geändert hatte. Anscheinend kann sie sich mit dieser Welt nicht anfreunden. Das eine Mal ruft sie aus Tokio an, das andere Mal aus Rio und dann auch von den Malediven: ohne Tika kann sie einfach nicht.
− Wo bleiben die bloß so lange? – Tika glotzt auf ihr Handydisplay.
− Ruf sie doch an, – sag ich ihr.
− Warum sollte ich?
− Darum. Damit du erfährst, wo sie jetzt sind.
− Ich ruf sie in fünf Minuten an.
Ich verstehe nicht, warum sie erst in fünf Minuten anrufen will. Tika hat so ihre eigene Einstellung von der Zeit. Erst in fünf Minuten anrufen, bei Verabredungen zehn Minuten zu spät kommen, vor Kinobeginn eine halbe Stunde zu früh da sein und so weiter. Die wahren Gründe werde ich wohl nie verstehen. Womöglich werde ich auch nicht verstehen, welcher Force Majeure sie dazu bewegt hat, gerade heute nach Georgien zu kommen, mitten im Krieg. Ich glaube nicht, dass ihr Tika so sehr gefehlt hat. Da muss schon mehr dran sein. Hinter Tika, zwei Tische weiter sitzt ein mickriger alter Mann mit einer markanten Hakennase, einer Glatze und einem kleinen faltigen Doppelkinn. Er hat eine blaue Hose, weiße Turnschuhe und kurze weiße Steps an. Von meinem Platz aus kann ich nicht sehen, welche Zeitung er liest. Ich kann nur einen fremdsprachigen Artikel erkennen. Irgendwie scheint er ein eleganter alter Mann zu sein, wie für seine eigene Beerdigung herausgeputzt. Zu seiner Rechten sitzen Holländer, irgendwas zwischen Journalisten und Touristen. Es sind fünf – drei Männer und zwei Frauen. Jeder bestückt mit einer Profi-Kamera. Irgendwie schaffen sie es, leise laut zu sein. Sie diskutieren darüber, ob sie zuerst ins Leichenhaus oder ins Krankenhaus gehen sollen. Wenn ich es richtig gehört habe, sind gestern Freunde von ihnen, die Reporter der „RTL-Nieuws“, ein Storiman und ein Ackerman oder so, in die Bombardierung Goris geraten. Ich kann aber nicht heraushören, welcher im Krankenhaus und welcher im Leichenhaus liegt... Mit einer der Frauen, die kurze lila Haare hat, habe ich mehrmals Blickkontakt. Sie wird zwanzig bis fünfundzwanzig sein. Vor ihr liegt eine Tasse Kaffee und ein kleiner Teller mit einem halben Stück Kuchen.
Auf dem Tisch vibriert Tikas Handy. Tika schaut auf das Display.
− Ist es Kira? – frage ich sie.
Zur Antwort schüttelt sie den Kopf:
− Nein, Bobo. – sagte sie
Noch bevor sie geantwortet hat, erinnere ich mich an Bobo. Besser gesagt, an ihren festen Brüste, ihre Wespentaille und ihr Bauchnabelpiercing – ein kleiner Embryo aus Platin. Bobo und ich hatten uns im Sommer vor genau fast einem Jahr getrennt. Nicht wegen Tika. Obwohl ich Tika durch Bobo kennen gelernt hatte. Irgendwie kamen wir beide doch nicht miteinander klar. Dabei muss ich gestehen, dass niemand so gut blasen kann wie sie, nicht mal Tika. Tika nimmt ab.
− Hi, Bobo.
Kira kann gar nicht blasen. Was Karlos an ihr gefallen hat, verstehe ich nicht. Es kam so, dass in der gleichen Kabine des „Dach der Welt“ mein Schwanz in Kiras Mund landete. Ich habe sie nicht angemacht, sie wollte es. So, dass niemand uns sehen konnte, folgte sie mir in die Kabine, stellte mich gegen die Wand, hockte sich hin und zog dabei auch gleich meine Hose runter. Es schien mir unangebracht, nein zu sagen. Ich war von Karlos Koks so erregt und gleichzeitig so höflich, dass ich in jenem Moment nicht mal zu meiner Mutter nein gesagt hätte. Diese ganzen manuellen-oralen Geschehnissen weckten in mir eine angenehme Vorfreude, jedoch völlig umsonst – Kiras Enthusiasmus verflog gleich wieder. Ich konnte nicht mal kommen, der Blowjob war mies und die mit Valium voll gestopfte Kira schlief fast mit meinem Schwanz im Mund ein.
Ich kenne Kiras Aschenputtelgeschichte fast auswendig. Ich weiß, dass diese zweitklassige Malerin, die täglich eine handvoll Valium in sich reinstopfte und panische Angst hatte, zu viel von ihren Ölfarben zu verbrauchen, lächerlich kleine Bilder malte, plötzlich anfing, Gefallen daran zu finden, für den Tierschutz zu arbeiten, in ihrem eigenen Ferrari Orgasmen zu haben und Slogans der Werbung zu zitieren. Ich nehme an, sie frisst immer noch ihr Valium, jedoch aus einem anderen Grund. Die Gründe sind meist das wichtigste. Darum ist es ja so interessant, was sie hierher zurückbrachte, mitten im Krieg. Kira gehört nicht zu dem Typ Frau, die so etwas einfach mal so macht. Vor allem weil sie seit fünf Jahren nicht mehr in Tiflis gewesen ist. Es sieht nicht danach aus, als würde Mohammed zum Berg gehen, oder umgekehrt der Berg zu Mohammed. Das ist irgendwie eine dritte Variante: Mohammed und der Berg treffen sich auf neutralem Boden. Genauso trafen sich Napoleon und Alexander I. auf neutralem Boden, auf dem Fluss Memel, auf einem extra dafür angefertigten Floß, am 25. Juni. 1807. Vielleicht ist heute, am 8. August 2008, die Veranda des „Kopala“ auch ein Art Floß – ein Portal für die Parallelwelten zwischen Tika und Kira.
Denn egal für wie viele Tiere sie sich einsetzt, wie sehr ihr chinesischer Masseur sie knetet, egal wie viele Orgasmen sie auf einmal mit Karlos hat, und nicht nur mir Karlos, und ob sie sich ihren Arsch mit Chanel-Klopapier abwischt, irgendwo auf molekularer Ebene ist sie immer noch die alte Kira – ein Mädchen aus dem Nuzubidze-Viertel mit lächerlich kleinen Bildern und flachen Brüsten. Vor allem wird sich dessen auch selbst bewusst sein, darum ruft sie ja auch öfters mal an, mal aus Paris, mal von den Malediven. Wahrscheinlich, um vor ihrer Vergangenheit zu fliehen. So weit ich weiß, ist es Tika scheißegal, ob Kira sie aus ihrem Ferrari oder aus dem Nutzubidze-Viertel anruft, ob sie einen Designerfummel anhat oder wieder ihr weißes Top trägt, durch den man immer ihre spitzen und W-förmigen Hängetitten sehen konnte. So wie ich es sehe, ist Tika die alte Freundschaft zu Kira wirklich wichtig. Manchmal kann Tika sehr süß und übermäßig sentimental sein. Im allgemeinen ist dieses Handygeplauder schon ein echt verfickter Zeitvertreib. Ich würde aber auch gern mal von den Malediven anrufen, am besten noch von meiner Privatjacht, auch wenn es nur meine alten Schulfreunde sind. Anscheinend ist es besonders schwierig, sich von den eigenen Gefühlen nicht übermannen zu lassen, wenn man zwischen Palmen in der Hängematte liegt, seine Piña Colada schlürft, dabei dem Sonnenuntergang zuschaut, eine Blumenkette um den Hals hängen hat, und vom Ozean her eine sanfte Brise weht...
Mich ruft eine mir unbekannte Nummer an.
− Schako, bist du‘s? – fragt eine bekannte Stimme.
− Ja, bin ich.
− Schako, ich bin’s, Nugo. – Pause. – Vom „Spiegel“.
Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Dafür erinnere ich mich aber, dass Pater Ilia auch so eine piepsige Stimme hat.
− Wie geht’s dir Nugo? – frag ich.
− Gut, gut. – Pause. – Bist du grade in Tiflis?
− Ja, und?
− Hör zu. Das georgische Pepsi will dich für seine Werbung.
Keine Ahnung, wie ich auf so was reagieren soll. Es ist absurd, jemanden hier in Georgien als „erfolgreich“ zu bezeichnen, aber es ist dennoch ein wenig schmeichelhaft, wenn dich Pepsi für seine Werbung will. Und naturgemäß entsprichst du dem Stereotyp, den sie in diesem Moment brauchen.
− Prima, – sagte ich. – Foto oder Video?
− Ich erklär‘ dir alles, wenn wir uns treffen. – Pause. – Hast du heute Zeit?
− Heute noch? – überlege ich laut. – Eigentlich schon.
− In der Chardin-Straße. Um 4. Geht das?
Ich würde ihm gerne sagen, dass das nicht geht, dass ich übermorgen nach Antalya fliege. Obwohl es keine schlechte Idee ist, sich in der Chardin-Straße zu treffen. Sie werden bestimmt gut zahlen. Klar, ist das ein ganz anderer Maßstab. Tiflis ist eine kleine Stadt, und ich bin nicht David Beckham. Der Auftraggeber ist aber Pepsi, auch wenn es nur die georgische Filiale ist, und dann soll es auch in der Chardin-Straße sein.
Hier ist eh alles teuer, so wie die Werbung in der Primetime. Und ansteckend. Wenn du am einen Ende dieser extrem kleinen Straße einen stinkenden Penner loslässt, kommt am anderen Ende ein piekfeiner Schnösel raus. Jemand, der sich in High-Fashion-Welt und exklusivem Zigarettengestank gleichermaßen auskennt. Oft ist es auch so. Besser gesagt, in der Chardin-Straße ist jeder zweite ein für das Pariser, Londoner oder Mailänder Defilee feingemachter ehemaliger Penner. Teure Anzüge, Botox-Lippen und Porzellanzähne mischen sich ineinander. Hier kann man jederzeit zugleich jeden beliebigen Parlamentarier, den Friseur Ali und einen sowjetischen Star wie Buba mit seinem bezaubernden Lächeln antreffen, von den multimedialen Artisten mit ihren Star-Allüren ganz zu schweigen. Es kommt sogar vor, dass der Präsident vorbeischaut. Warum auch nicht. Kann doch sein. In kleinen Ländern ist das ohne weiteres üblich. Und naja, wo Buba ist, ist auch der Präsident, und umgekehrt, wo der Präsident ist, ist auch Buba. Manchmal fällt es einem schwer, zu unterscheiden, wer jetzt der Präsident und wer Buba ist. Präsident-Buba. Hubba-Bubba.
− Dann sehen wir uns in der Chardinstraße, – sage ich zu Nugo. – Um vier.
Die Holländerin hinter Tika steht vom Tisch auf. Sie trägt ein weißes Top, eine knappe Jeansshorts im Used Look und weiße Mokassins. Iin ihrem Bauchnabel glitzert ein Diamant. Ich starre auf ihre langen Beine. Durch ihr Top sehe ich, dass sie keinen BH trägt. Ihre mäßig großen Titten wippen leicht beim Gehen. Ihre Haut ist kaum gebräunt und ihre kurzen lila Haare schimmern neonartig. Ihr Körper ist wohl geformt, so wie Violet aus dem Film „Ultraviolet“.
− Gilt der Deal? – vergewissert sich Nugo.
Ich weiß, ich bin notgeil, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Und sie wendet sich auch nicht ab, sondern schaut mir direkt in die Augen. Sie lächelt mich eigenartig an. Ich beobachte – und werde beobachtet. Würden Tinto Brass und Sergio Leone gemeinsam einen erotischen Western drehen, so würden sie diese Szene bestimmt einbauen: Totale / Großaufnahme / Totale / Großaufnahme / Italienische Einstellung / Italienische Einstellung...
Die Hintergrundmusik: eines von Morricones ersten Werken. Charles Bronson spielt auf der Mundharmonika. Hier würden auch eine Post-„Matrix“-Verlangsamung der Bewegung, eine rotierende Kamera und ein Bullet-Time-Effekt passen. Diese ganze Augenstory dauert nur ein paar Sekunden lang. Tika kriegt nichts davon mit. Die Holländerin verlässt die Veranda. Bis sie die Glastür schließt, beobachtet sie mich weiter. Und ich schaue sie weiter an. Wie ein Telepathiker. Ich weiß natürlich nicht, ob wir im telepathischen Konsens stehen oder nicht. Und überhaupt, ob sie von meiner offensiven Aufmerksamkeit genervt oder doch eher angetan ist.
− Der Deal gilt. – Ich lege mein Handy wieder auf den Tisch.
− Ich ruf dich heute Abend an, – sagt Tika zu Bobo. – Ok? – Pause. – Bye. – Sie legt auf.
− Wer war‘s? – fragt sie mich.
− Nugo, – sag ich ihr. – Vom „Spiegel“.
− Nugo? – Tika zuckt mit den Achseln. – Was wollte der?
− Sie wollen mich für die Pepsiwerbung.
Tikas Handy klingelt wieder. Sie schaut wieder auf das Display.
− Das ist Kira, – sagt sie.
Sie nimmt ab.
− Kira?
Nugo ruft mich wieder an.
− Ja, was gibt’s noch? – frag ich.
− Sie haben grade mitgeteilt, dass die Chardin-Straße blockiert ist.
Bei Nugos piepsige Stimme muss ich wieder an Pater Ilia denken. Ein guter Mann und eine vollkommen unerwartete Erscheinung im georgisch-christlichen Fundamentalismus. Ein echter Antikörper im Körper. Per Zufall landeten ich und ein paar Bekannte letztes Jahr in Gremi in seiner Zelle. Sofort wurde uns ein Tisch mit einem Imbiss gedeckt, dazu ein fabelhafter Honigschnaps und irgendwelche halbseidenen Fastengeschichten. Zum Schluss rief Pater Ilia irgendein Gemeindemitglied herbei. Er ließ ihn Karaoke in die Zelle bringen. Zum Dessert sang er Britneys „Toxic“ mit solch einer Inbrust und einem Drive, dass er mich fast bekehrt hätte. So besoffen war er dann aber doch nicht. Er war einfach nur ein groovy Typ, und das sagte er uns auch selbst: Wir sind auf dem gleichen Holz geschnitzt. So zollte er uns Respekt. Bis zuletzt war er gut gelaunt. Nur seine Augen schienen ein wenig traurig und sehr müde zu sein. Anscheinend hatte er einen weiten Weg hinter sich gebracht, vom Spermatozoon bis zum Beichtvater.
− Ich kann vor hier aus nichts erkennen, – sage ich zu Nugo, während ich von der Veranda Richtung Chardinstraße schaue. Ein Cyberpunk-Bild: Über die Brücke fährt eine Gruppe Radfahrer. Die über ihren Sattel gekrümmten Radfahrer treten keuchend in die Pedale. Mit ihre eng anliegenden aerodynamischen Anzügen, den eierförmigen Helmen und den Sportbrillen sehen sie aus wie Charaktere aus Sciencefiction-Filmen. Der Radfahrergruppe folgt ein grauer Ford Sierra. Gleichzeitig muss ich wieder an Pater Ilia denken. Mit seiner schwarzen Kutte, dem Kreuz am Hals, dem Mikro in der Hand und den müden Augen.
− Auf Imedi haben sie berichtet, dass das Militär in der Chardinstraße auffährt, – erzählt Nugo.
Von der Veranda aus hat man das Gefühl, man könnte die Stadt mit der Faust greifen. Ich sehe nichts, ich spüre es nur. Es ist irgendwie nicht mehr so, wie es vorher war. Irgendetwas hat sich geändert. Man muss Tiflis schon sehr gut kennen, um diese kleinen Veränderungen wahrnehmen zu können. Die Stadt ist sehr biegsam. So wie Knete, eine hyperrealistische Stadt. Jeder kann sie nach seinen eigenen Vorstellungen formen, färben, missbrauchen. Und vor allem fälschen. Fast bittet sie
dich darum, wendet sich an dich, befiehlt dir, sie zu formen, zu färben, zu missbrauchen. Wenn sie meine wäre, würde ich an den Stadttoren Banner aufhängen mit der Aufschrift „Fake Me.“ Nicht „Color Me“ oder „Fuck Me“, sondern eben „Fake Me“. Weil das am besten die Seele dieser Stadt widerspiegelt. Nicht nur die Seele, auch ihr Wesen und ihren Zustand. Gerade jetzt. Der Krieg hat ja auch sein Sprache: kurz, banal und leicht zu merken. So wie die Reportagen aus dem Russisch-Tschetschenischen Krieg zwei banale Slogans festgehalten und im Internet konserviert haben: „Welcome to Hell“ und wenig später „Welcome to Hell, Part II“. Das entspricht ungefähr den
Filmzitaten aus Kitanos „Dolls“, die sich einem so leicht einprägen, dass man auf die trivialen Sujets gar nicht mehr achtet.
Wenn wir uns aber die Tatsache in Erinnerung rufen, dass Tiflis auch die armenischste Stadt (eigentlich fast ein ganzes armenisches Imperium) ist, weil hier mehr Armenier wohnen als in Erivan, und dass fast jeder erfolgreicher Georgier mindestens ein armenische Großmutter hat, dann könnte man sich sogar überlegen, vor den Toren der Stadt noch ganz andere Banner aufzuhängen: ...

− Super, – sagt Tika zu Kira.
− Was sollen wir jetzt machen? – frag ich Nugo.
Hinter den Scheiben kann ich den an der Wand montierten Fernseher sehen. Ich erkenne, wie eine blutverschmierte Oma vor einem brennenden Gebäude sitzt und hilflos ihre Arme in die Kamera streckt. Gleich daneben ist ein umgekippter „Rotes Kreuz“-Wagen. Daneben raucht ein kleiner Minibus – die Reifen sind verbrannt. Mitten im Bild sieht man das kaum beschädigte Stalin-Denkmal. So wie es aussieht, wird grade aus Gori berichtet. Das Denkmal des Generalissimo findet man nur noch dort. Im Hintergrund läuft ein Soldat in gebückter Haltung feuernd durch die Gegend. Unten im Bild laufen Untertitel: „... Eröffnen Sie bis Dezember ihr Sparkonto bei der TBC-Bank und gewinnen Sie eine von zehn Mercedes-Benz-Limousinen oder den Hauptgewinn von einer Million Lari! Werden sie zum Millionär mit der TBC-Bank!...“
Wahrscheinlich ist es für den Piloten des Kampfflugzeugs egal, was er bombardiert, eine Stadt, einen Wald oder nur einen Hühnerstall. Aus seiner Perspektive sieht man alles bestimmt nur als Objekt, als Punkte oder Fadenkreuze. Nichts als eine Skizze. Was würde ich wohl fühlen, wenn ich da drin sitzen und auf den Abzug drücken müsste? Mehr noch, wenn ich wüsste, dass ich Schebota, Gostibe oder Buscheti bombardieren müsste?
− Ok, – sagt Tika zu Kira und legt auf.
− Lass mich das mal klären. Ich ruf dich dann wieder an, – sagt Nugo. – Ok?
− Ok, – antworte ich. – Ich warte solang.
Ich lege mein Handy wieder auf den Tisch.
− Was wollte Kira? – frag ich Tika.
− Sie wollte, dass wir für ‘ne Weile zu ihnen aufs Zimmer kommen. „Hattu Haschisch in den Taschen, hattu immer was zu Naschen.“
− Schön. – Ich schlürf meinen Tee aus.
Karlos hat also sein Pulver dabei.

Nichts besonderes

Ich bin fertig im Bad und binde mir ein Handtuch um die Hüfte. Aus dem Wohnzimmer höre ich Takos Stimme. Wahrscheinlich skypt sie. Ich stecke mir Ohrstäbchen ins Ohr. Durch das offene Fenster schaue ich auf den Hof hinunter: ein Moskwitsch ohne Reifen steht auf aufgetürmten Backsteinen, neben einem Kombi hocken zwei Jungen aus dem Viertel. Sie sind einfache Tiflisser Jungs, weder richtige Diebe noch richtige Junkies. Hauptsächlich tun diese Straßenjungs so, als ob sie sehr beschäftigt wären. Einer von ihnen tippt eine SMS. Der andere ritzt mit seinem Messer irgendetwas in die Tür des Moskwitsch rein. Von irgendwoher kommt schwarzer Rauch. Auf einem Balkon wird ein Teppich ausgeklopft. Auf dem Sportplatz spielen ein paar Kinder Fußball. Aus den offenen Fenstern kann man die verschiedenen TV-Sender hören: „... Die Hilfsorganisationen haben begonnen, die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen...“ Ich gehe ins Wohnzimmer. Tako liegt seitlich auf dem Sofa – die einzige Yoga-Stellung in Georgien. Neben ihr liegt der Laptop. Sie skypt mit Naniko. Sie sieht vollkommen unattraktiv aus, das Seitlichliegen steht ihr gar nicht. Sie liegt nicht nur so, sie sieht aus wie ein Stück Fleisch in der Metzgerei, sie strahlt vollkommene Antriebslosigkeit aus.
− Was sagen sie im Fernsehen? – fragt Naniko.
− Keine Ahnung, – gähnt Tako. – Ich hab‘s noch nicht eingeschaltet.
− Bei uns sagt man, dass auf Tiflis sogar chemische Bomben abgeworfen werden sollen, und dass die Botschaften die Stadt verlassen.
− Warte, ich schalt‘s ein. – Tako reckt ihren Hals und sucht nach der Fernbedienung.
− Suchst du die Fernbedienung? – frage ich.
− Ja, siehst du sie?
Auf dem Tisch liegen der Laptop, Takos Handy und die Juli-Ausgabe der „GQ“. Darauf eine leere Tüte von „Skrjabin‘s Donuts“ und ein „Actimel“-Fläschchen.
− Wie geht’s dir, Gio? – Naniko begrüßt mich auf dem Bildschirm.
− Bestens, – sag ich ihr. – Wie geht’s Zizou?
Ich schmeiß die Ohrstäbchen in das „Actimel“-Fläschchen.
− Verarschst du mich? – Sie verzieht ihre Botoxlippen zu einer Grimasse, als wäre sie
beleidigt.
Ihre talentlose Schauspielerei amüsiert mich.
− Stay fake. – sag ich ihr.
− Wie meinst du das? – fragt sie.
− Vergiss es, – antworte ich. – Ich kann die Fernbedienung nicht finden, – sage ich zu Tako.
Tako blickt sich im Wohnzimmer um und ähnelt dabei einer Gans. Sie schaut auch unter den Kissen nach.
Ich merke, wie ich langsam geil werde. So ist Tako: je entspannter sie ist, desto geiler macht sie einen. Ich weiß schon, wie ich sie wieder zum Schwitzen bringen kann. Ich knie mich vor dem Sofa hin und massiere ihren Rücken, ihre jungenhaften Schultern.
− Was machst du da? – fragt sie mich und räkelt sich dabei wie eine Katze.
− Entspann dich, – erwidere ich einfallslos.
Sie kann ja eh nicht noch entspannter werden. Ich spüre mit meinen Händen, dass sie wie eine Qualle ist. Sie ist nach jeder Form von Massage verrückt. Sie wird dabei formbar wie Knete und impulsiv wie ein Psychopath. Natürlich ist meine Massage längst nicht so gut wie Ayurveda oder Shiatsu, es ist eher die Imitation einer Massage. Um Tako willig zu machen, reicht es aber. Ich küsse ihren Nacken. Sie riecht, als wäre sie frisch aus dem Bett gekommen. Ich schiebe ihr Hemd hoch und streichle ihre Brüste. Vor Erregung richten sich die Härchen auf ihrem Rücken auf. Ihre Hand wandert unter meinen Handtuch, sie greift mir an den Schwanz.
Ich ziehe ihre Shorts aus. Sie hebt ihre Beine hoch und macht es mir so leichter, ihr den String auszuziehen. Ihre Nippel richten sich auf. Naniko sagt nichts mehr. Vom Bildschirm aus beobachtet sie uns. Sie schweigt taktvoll. Sie weiß, dass sie schweigen soll. Ich spreize Takos Beine. Ihre Vulva tritt in einem weißen Dreieck hervor, ihrem Bikiniabdruck. Naniko kann ihre Augen nicht von Takos Vagina abwenden. Als würde gleich ein Vogel rauskommen. Ich fange vorsichtig an und berühre ihre rosa Klitoris mit meiner Zungenspitze. Ich lecke ihre feuchten Schamlippen. Ihre Knie zittern ein wenig. Tako setzt sich plötzlich auf dem Sofa hin. Sie streift mir das Handtuch ab.
− Leg dich hin, – sagt sie zu mir.
Ich gehorche ihr wortlos. Sie setzt sich auf mein Gesicht. Sie leckt mir meinen Schwanz. Sie befeuchtet ihren Zeigefinger, sie kitzelt mich an meinem Sphinkter. Ich spüre, wie sie mit ihrem Finger eindringt. Mit meinen Zähnen beiße ich ihr in ihre angeschwollene Klitoris. Ich liebe alle Arten von Scheiden: buschig, gestutzt, glatt rasiert, gepierct, tätowiert...sogar an roten Tagen, vor allem gegen deren Ende. Also dann, wenn es nicht mehr bordeaux-, sondern schon ferrarifarbig ist – wenn es echt italienisch rot ist, rosso corsa. Meine Liebe zur Vagina steckt sehr tief in mir, auf molekularer Ebene. Hauptsache sie ist hübsch und gepflegt. Mein Hirn ist für immer auf dieses Organ fixiert, wie ein PC auf das World Wide Web. Vor allem Takos Vagina liebe ich. Sie ist mein Autopilot. Mein Shangri-La. Mein Weg, meine Wahrheit, mein Leben. Sobald sie mich sehen, öffnen und schließen sich ihre Schamlippen – als würden sie mich anlocken, so wie die neunte Pforte aus den „Neun Pforten“. Ein ewiger Ruf. Tako ist immer bereit, mich in sich aufzunehmen.
Mich macht das verrückt. In solchen Momenten bin ich selbst nur Fleisch, happy meat.
In einem Film von Almadovar gibt es eine ähnliche Szene: In einem Experiment wird ein Mann so verkleinert, dass er in die Vagina seiner geliebten Frau schlüpfen kann. Wenn ich könnte, würde ich ohne zu überlegen in Takos Vagina schlüpfen, wie ein Maulwurf. Ihre rasierte Vulva piekst mich an der Nase. Sie ist so feucht, dass ich kaum mit dem Schlucken nachkomme. Ich kaue sanft an ihrer Klitoris.
− Kannst du mal kurz auf die Knie gehen? – frage ich sie.
Ich spreize ihr Arschbacken. Ich fahre mit der Zunge an ihrem rosa-capuccinofarbenen
Sphinkter entlang. Ihr Sphinkter zuckt reflexartig. Er schließt und öffnet sich... wie eine Blume, nur im Schnelldurchlauf. Ich befeuchte ihn mit meinem Speichel. In ihren feuchten Falten glitzern farbige Funken, so wie das Sonnenlicht an den Kanten eines Diamants.
Dieser Vorgang gefällt ihr nicht so sehr, darum dringe ich nur sehr vorsichtig in ihren Anus. Ihr Sphinkter presst meinen Schwanz reflexartig zusammen. Mit meinen Fingern knete ich ihre Nippel. Ich schaue Naniko in die Augen, die uns vom Monitor aus beobachtet. Sie versucht, nichts zu verpassen. Ungewollt denke ich darüber nach, was diesen Tag so besonders machen könnte. Außer seiner historischen Bedeutung. Was könnte dieser Tag für eine Bedeutung haben – 08/08/08/? Steht die 8 hier für ∞, und bedeutet das ganze Unendlichkeit mal Null hoch 3? Oder steht die 8 für eine Sanduhr, also Zeit mal Null hoch 3? Wenn wir die Ziffern vertikal untereinander schreiben, so dass die 0 unter der ∞ liegt, könnten wir uns sogar einen Mann mit offenem Mund vorstellen: ∞ die Augen, 0 der Mund. Wenn man darüber nachdenkt, fällt einem auf, dass der Mann zahnlos ist, doch das ist nicht wichtig. Hauptsache, der Mann mit dem offenem Mund schreit. Es bleibt nur noch festzustellen, warum er schreit. Auch die 8 Planeten im Sonnensystem, die 8 Tore des Paradieses, die 8 × 8 Felder auf dem Schachbrett, der edle achtfache Pfad im Buddhismus – alles das könnte dahinter stecken, falls 0 hier ein neutrales Elemen wäre, aber nur bei Addition oder Subtraktion. Jede andere Rechenart hätte zur Folge, dass sie die Zahl nichtig machen würde. Also in irgendeiner Hinsicht vaginalisiert, die Vagina als ideale 0 und umgekehrt. Eigentlich hätte ich auch in Wikipedia die Antwort suchen können, anstatt mich hier damit rumzuplagen. Und schließlich, wenn wir annehmen, die ∞ wäre das Skrotum und 0 die Vagina, dann versteht sich alles von selbst, selbst warum der Penis nicht zu sehen ist. Der befindet sich ja schon in der Vagina. Heißt das also, dass 08 das Symbol für Sex ist? Mit dieser Logik könnte man sogar darauf kommen, dass dieses Datum irgendwie mit dem Krieg verbunden ist. Jedenfalls gerade so sehr, wie der Krieg selbst die Imitation von Sex ist, und umgekehrt, der Sex die Imitation des Krieges. Ich spüre, dass ich bald kommen werde.
− Ich komm gleich, – sag ich zu Tako.
− Hör nicht auf.
− Und du?
− Mach weiter!
Takos Handy klingelt. Bildschirm und die Tastatur leuchten auf. Vibrierend bewegt es sich auf dem Tisch: „Bzzzzzz“... Der Originalklingelton von Nokia klingt wie ein Choral. Während ich meinen Schwanz rausziehe, legt sich Tako auf den Bauch.
− Nimm du ab, – sagt Tako und legt ihren Kopf auf das Kissen.
Ich schaue auf das Display – es ist Sopo Rusadze. Bevor ich rangehe, erinnere ich mich daran, dass Sopo eine talentierte Journalistin ist. Jedenfalls ist ihre Sendung im Ersten die einzige, die man sich anschauen kann, ohne dabei einen Brechreiz zu kriegen. Ich mag alles an Sopo. Wie sie sich anzieht, wie sie denkt, wie sie redet... nur eins verstehe ich nicht: warum sie wie ein Tiflisser Snob einen Toyota Prado fährt. Dieses Auto ist meiner Meinung nach für eine Frau eher unpassend. Es ist
schwierig, über Sopo zu reden, ohne dabei an den „Drunken Master“ zu denken. Es gibt im Kung Fu eine Technik, bei der sich der Kämpfer besoffen stellt. Das beste an Sopo ist, dass sie nie schauspielert, im Gegenteil, sie versucht immer ganz beim Thema zu bleiben. Voll gestopft mit ihren Tranquillizern braucht sie immer ein wenig, bevor sie begreift, was man ihr gesagt hat.
Wenn es nach mir gehen würde, würde ich nur hübsche und charmante Frauen als Journalisten arbeiten lassen. So wie im italienischen Fernsehen, wo man kaum unterscheiden kann, ob die Ansagerin ein gesuchtes Fotomodell oder ein brasilianische Beachvolleyballerin ist. Als ob es angenehm wäre, sich von einer hässlichen Kröte interviewen zu lassen. Grüße aus der Unterwasserwelt! Bis jetzt hat mich noch keine Amphibie geil gemacht. Ausgenommen allenfalls Meerjungfrauen. Journalistinnen, die dich anziehen und die deine Sinne ansprechen, versuchst du
zu gefallen und bessere Antworten zu geben. Und nicht nur Antworten. Am Ende des Interviews hat man dann auch nicht das Gefühl, dass einen ein intellektueller Frosch, eine Qualle oder ein Lurch gefickt hat.
Ich komme nicht dazu, ihr „Hallo“ zu sagen. Sopo fragt mich gleich mit ihrer müden Stimme:
− Gio, bist du‘s?
− Jawohl, – antworte ich. – Wie geht’s dir, meine Liebste?
Sie übergeht meine Frage.
− Wo ist Tako?
− Im Bad, – sag ich ihr. – Ist es dringend?
− Sag‘s ihr nicht... – Pause. – Ich hatte grade einen Alptraum von ihr.
− Was hast du denn geträumt? – frage ich.
− Nichts Besonderes.
Wegen „nichts Besonderem“ hätte sie bestimmt nicht angerufen.
− Nun sag schon, – sage ich insistierend.
− Hautsache, sie lebt noch, – sagt sie und verstummt gleich wieder.
Ich glaube, sie gähnt. Stille macht sich breit.
− Sopo?
− …
Ich frage mich, ob sie eingeschlafen ist, oder ob die Leitung unterbrochen wurde. Oder warum sie überhaupt angerufen hat. Ich schaue auf das Handy. Gleichzeitig versuche ich, einzuschätzen, was sie Grauenvolles im Traum gesehen haben könnte – hat ein Irrer Tako die Nippel abgebissen, die Finger mit einer Geflügelzange abgeschnitten, ihre Knöchel durchbohrt, ihre Augen ausgelöffelt...? Interessant, was sie sich wohl vorm Schlafengehen angeschaut hat – die aktuellen Nachrichten oder eine mexikanische Seifenoper?
− War das Sopo? – fragt Tako, sie sucht wieder die Fernbedienung und kramt zwischen den Kissen.
− Ja. Sie hat was Schlechtes von dir geträumt.
− Hier ist sie. – Tako zieht zwischen den Kissen die Fernbedienung hervor.
Sie schaltet den Fernseher ein. Der Bildschirm piepst, langsam wird es heller. In einem Handyvideo kann man sehen, wie ein brennendes Kampfflugzeug abstürzt und dabei eine dunkle Spur am Himmel hinterlässt.
− Was hat sie denn geträumt? – fragt Naniko aus dem Laptop.
− Nichts Besonderes.


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Zaza Burchuladze
Zaza Burchuladze (geb. 1973) – Schriftsteller und Übersetzer, studierte an der Kunstakademie Georgiens in Tbilisi. Autor von 12 Prosabänden (8 Romane, 2 Kurzgeschichten, 1 Novelle, 1 Drehbuch). Übersetzte Dostojevski, Sorokin und Bytov aus dem Russischen ins Georgische. Spielte einer den Hauptrollen in dem Film
„Jako’s Lodgers“ von Dato Janelidze.

Veröffentlichte Literaturwerke:
2009 –
adibas (Roman) - Rezensionen
2008 – Phonogramm (Kurzerzählungen)
2007 – Der andere Schlüssel (Drehbuch)
2005 – Lösbarer Kafka (Novelle)
2004 – Das Eselsevangelium (Roman)
2003 – Mineraljazz (Roman)
2002 – Brief an die Mutter (Roman)
2001 – Die Simpsons (Roman)
2000 – Du (Roman)
1999 – Sultatana (Roman)
1998 – Drittes Bonbon (Kurzerzählungen)
1997 – Zwei Bonbons (Roman)

Internationale Publikationen/Auszeichnungen
„Mineraljazz“ (Roman) und „Lösbarer Kafka“ (Novelle) sind auf Russisch übersetzt und publiziert worden beim Verlag (
admarginem.ru

Rezensionen / zusätzliche Informationen:
Literary Agency
NIBBE&WIEDLING, Deutschland
Rezension bei Literary Agency NIBBE&WIEDLING
über „Lösbarer Kafka“ , Deutschland
Literaturabend
„Krieg und Sex“ in der Romanfabrik, Frankfurt a/M, Deutschland Verlag AdMarginem
Rezension von Anna Narinskaja über „Lösbarer Kafka“ in der Zeitschrift “Weekend” , Russland
Rezension von Vladimir Cybulskij über „Lösbarer Kafka“ in Gazeta.ru, Park Kultury, Russland
Rezension in
TimeOut, Ukraine
Rezension von Igor Bondar-Terestschenko über
„Lösbarer Kafka“ in Stolichnye Novosti , Ukraine.