(kleinezeitung.at) Drei Mädchen in einer gottverlassenen Konfliktzone. Es geht ums Überleben, und dann auch noch ums Erwachsenwerden in diesem atemlosen Romandebüt: "Abzählen" von Tamta Melaschwili. In stakkatoartiger Sprache wird hier vom Leben im Krieg erzählt, von den Zurückgebliebenen, von Kindern, Alten, Krüppeln, die sich allerhand einfallen lassen müssen, um am Leben zu bleiben.
Die Kulturvermittlung Steiermark bewies hier einen guten Riecher: Derweil sie die georgische Schriftstellerin als Stipendiatin in Graz zu Gast hatte, erhielt diese auf der Frankfurter Buchmesse prompt den Preis für das beste Jugendbuch.
Ihre Heimat Georgien gilt hier nicht gerade als ein Wunderland der Literatur. Von wem wurden Sie als Stipendiatin geholt?
MELASCHWILI: Ich wurde von meinem Schweizer Verlag an das Cultural City Network CCN) in Graz empfohlen und nach dem üblichen Bewerbungsprozedere auch eingeladen. Und Sie haben recht, Georgien ist kein bekanntes Literaturland. Dafür gibt es mehrere Gründe, besonders wenn man an die Sowjet-Vergangenheit denkt. In dieser Zeit wurden Übersetzungen aus dem Georgischen nicht gerade angeregt. Man muss aber auch sagen, Georgien ist ein kleines Land in einem turbulenten politischen Kontext, dessen Sprache nur etwa 4,5 Millionen Menschen sprechen.
Ihr preisgekrönter Debüt-Roman "Abzählen" erschien im Original in Tiflis. Wie viel Beachtung fand das Buch in Georgien selbst?
MELASCHWILI: "Abzählen" habe ich im Sommer 2010 geschrieben, und 2011 bekam ich dafür den Literatur-Hauptpreis in Georgien. Ich hatte sehr gute Kritiken und auch die Resonanz bei den Lesern war gut. Die Übersetzung ins Deutsche war dann ausschlaggebend für den gesamten Erfolg des Buches.
"Abzählen" ist ein Kriegsroman aus der Sicht von Teenagern. Wie findet man diese Imaginationskraft?
MELASCHWILI: Ich werde nie bestreiten, dass ich während der Arbeit an diesem Buch vom Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008 tief getroffen und beeinflusst war, aber weder Ort noch Zeit sind in meinem Text definiert. Ich wollte hervorheben, wie tragisch das Leben einfacher Menschen in einem Krieg ist, egal, wo er stattfindet.
Wie haben Sie selbst den Kaukasuskrieg erlebt?
MELASCHWILI: Ich war zu Hause, während die nahe Umgebung bombardiert wurde. Das war eine der schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben. Danach fühlte ich mich völlig unsicher und von allem anderen eher abhängig als von mir selbst.
Wie war es, als Stipendiatin aus Georgien nach Graz zu kommen und diese Stadt mit einem Preis der Frankfurter Buchmesse wieder zu verlassen?
TAMTA MELASCHWILI: Ich genoss meinen Aufenthalt als "Writer in Residence" sehr und war dann auch sehr glücklich, mit dem Preis für das beste Jugendbuch geehrt zu werden. INTERVIEW: OTMAR KLAMMER
Politik, Kultur, Geschichte, Wirtschaft, Internet und andere Aspekte über den Süd-Kaukasus // Politic, Culture, History, Economy, Internet And Other Aspects About South-Caucasus // Re-Blogged & Posted By Ralph Hälbig
Saturday, December 28, 2013
REZENSION: Der vergessene Völkermord. Von Katja Tichomirowa (berliner-zeitung.de)
(berliner-zeitung.de) Wladimir Putin inszeniert sich nach Kräften für ein Gelingen der Olympischen Winterspiele von Sotschi. Die Geschichte der Tscherkessen sollte darüber nicht vergessen werden.
Sie sind eine Minderheit im eigenen Land. Knapp 720.000 Tscherkessen leben heute noch im Land ihrer Vorväter, verstreut auf drei russischen Kaukasus-Republiken. Sotschi, die Stadt der Olympischen Winterspiele 2014, war einmal ihre Hauptstadt, bis der lange, blutige Krieg gegen die russischen Eroberer 1864 die letzten überlebenden Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieb. Die Tscherkessen mussten sich der russischen Übermacht geschlagen geben und wurden schließlich zu Hunderttausenden zwangsdeportiert, verschifft ins Osmanische Reich. Mindestens 100.000 Tscherkessen kamen dabei ums Leben.
An diesen „vergessenen Völkermord“, der stattfand noch bevor das 20. Jahrhundert den Begriff Genozid in die Geschichtsbücher einschrieb, erinnert das jüngste Buch von Manfred Quiring. Die Geschichte der Tscherkessen und ihrer Vertreibung begegnete ihm, der lange Redakteur und Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung und der Welt war, auf seinen Reisen durch den Kaukasus immer wieder und blieb immer wieder unbeachtet, wie Quiring schreibt, weil aktuelle Kriege und Konflikte im Kaukasus seine Aufmerksamkeit forderten.
Dass die Geschichte der Tscherkessen nun doch zu ihrem Recht kommt, verdankt sie dem russischen Präsidenten und seiner Begeisterung für die Idee, Sotschi zum Austragungsort der Olympischen Winterspiele zu machen. Das Internationale Komitee der Tscherkessen war dagegen wenig begeistert. Sotschi war 150 Jahre zuvor bereits Austragungsort der letzten verlustreichen Entscheidungsschlacht des Kaukasus-Krieges. Die Rodel-, Bob- und Ski -Wettbewerbe in Krasnaja Poljana finden sozusagen auf den Gebeinen ihrer Vorväter statt.
Der Umgang des offiziellen Russland mit der Geschichte der Tscherkessen bestehe vorwiegend im Verschweigen derselben, bemerkt Quiring. Je näher die Eröffnung der Spiele rückt, desto nachdrücklicher wird es. Erst am Donnerstag wurden Computer, Telefone und Unterlagen von Aktivisten der tscherkessischen Minderheit in der Region Krasnodar von den Behörden beschlagnahmt. Sie hatten offen Kritik an der Austragung der Spiele in Sotschi geübt.
Manfred Quring gelingt es, den Bogen über mehr als ein Jahrhundert zu schlagen, er führt ein in die Geschichte der Tscherkessen, gibt einen Überblick über ihre weit verstreute Diaspora und er erzählt in den stärksten Kapiteln des Buches von den wenigen Zurückgebliebenen, die heute um den Erhalt der einzigartigen Natur des Nordkaukasus kämpfen. So steht die einzigartige Volksgruppe immer wieder auch exemplarisch für das mühsame Ringen um Bürgerrechte in Russland. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, selbst Sohn eines Tscherkessen, lobt das Buch in seinem Vorwort deshalb zurecht als ebenso anspruchs- wie verdienstvoll.
Manfred Quiring: Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen Ch. Links Verlag, 224 S., 16,90 Euro
AmazonShop: Books, Maps, Videos, Music & Gifts About The Caucasus
Sie sind eine Minderheit im eigenen Land. Knapp 720.000 Tscherkessen leben heute noch im Land ihrer Vorväter, verstreut auf drei russischen Kaukasus-Republiken. Sotschi, die Stadt der Olympischen Winterspiele 2014, war einmal ihre Hauptstadt, bis der lange, blutige Krieg gegen die russischen Eroberer 1864 die letzten überlebenden Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieb. Die Tscherkessen mussten sich der russischen Übermacht geschlagen geben und wurden schließlich zu Hunderttausenden zwangsdeportiert, verschifft ins Osmanische Reich. Mindestens 100.000 Tscherkessen kamen dabei ums Leben.
An diesen „vergessenen Völkermord“, der stattfand noch bevor das 20. Jahrhundert den Begriff Genozid in die Geschichtsbücher einschrieb, erinnert das jüngste Buch von Manfred Quiring. Die Geschichte der Tscherkessen und ihrer Vertreibung begegnete ihm, der lange Redakteur und Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung und der Welt war, auf seinen Reisen durch den Kaukasus immer wieder und blieb immer wieder unbeachtet, wie Quiring schreibt, weil aktuelle Kriege und Konflikte im Kaukasus seine Aufmerksamkeit forderten.
Dass die Geschichte der Tscherkessen nun doch zu ihrem Recht kommt, verdankt sie dem russischen Präsidenten und seiner Begeisterung für die Idee, Sotschi zum Austragungsort der Olympischen Winterspiele zu machen. Das Internationale Komitee der Tscherkessen war dagegen wenig begeistert. Sotschi war 150 Jahre zuvor bereits Austragungsort der letzten verlustreichen Entscheidungsschlacht des Kaukasus-Krieges. Die Rodel-, Bob- und Ski -Wettbewerbe in Krasnaja Poljana finden sozusagen auf den Gebeinen ihrer Vorväter statt.
Der Umgang des offiziellen Russland mit der Geschichte der Tscherkessen bestehe vorwiegend im Verschweigen derselben, bemerkt Quiring. Je näher die Eröffnung der Spiele rückt, desto nachdrücklicher wird es. Erst am Donnerstag wurden Computer, Telefone und Unterlagen von Aktivisten der tscherkessischen Minderheit in der Region Krasnodar von den Behörden beschlagnahmt. Sie hatten offen Kritik an der Austragung der Spiele in Sotschi geübt.
Manfred Quring gelingt es, den Bogen über mehr als ein Jahrhundert zu schlagen, er führt ein in die Geschichte der Tscherkessen, gibt einen Überblick über ihre weit verstreute Diaspora und er erzählt in den stärksten Kapiteln des Buches von den wenigen Zurückgebliebenen, die heute um den Erhalt der einzigartigen Natur des Nordkaukasus kämpfen. So steht die einzigartige Volksgruppe immer wieder auch exemplarisch für das mühsame Ringen um Bürgerrechte in Russland. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, selbst Sohn eines Tscherkessen, lobt das Buch in seinem Vorwort deshalb zurecht als ebenso anspruchs- wie verdienstvoll.
Manfred Quiring: Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen Ch. Links Verlag, 224 S., 16,90 Euro
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FERNSEHEN: Sotschi vor den Olympischen Spielen: ZDF-Korrespondentin Anne Gellinek unterwegs "Durch den wilden Kaukasus" (prestigecars.de)
(prestigecars.de) Mainz (ots) – Zu den Olympischen Spielen in Sotschi will Wladimir Putin der Welt eine seiner Lieblingsregionen zeigen und Russland als weltoffene, moderne Sport-Großmacht präsentieren. Mit Macht und sehr viel Geld wird die mediterrane Region am Schwarzen Meer zu einem der modernsten Wintersportorte der Welt umgebaut. In der Dokumentation “Durch den wilden Kaukasus” begleitet ZDF-Korrespondentin Anne Gellinek am Montag, 30. Dezember 2013, 19.25 Uhr, die “Nachbarn” von Olympia: die Skiverleiher, die als letzte Einheimische der neuen Großbaustelle trotzen. Die Lawinenwächter, die in Blechwaggons hoch über den Wettkampfstätten die Lawinengefahr beobachten und dabei über die Umweltzerstörung durch die Winterspiele nachdenken. Oder die Kosaken, die schon immer an den Grenzen Russlands gelebt haben und ihre eigenen “olympischen” Reiterspiele in der Region abhalten.
“Es ist ein Mittelding zwischen Dubai und Disneyland, nur mit Schnee”, sagt die beste deutsche Snowboarderin Amelie Kober, als sie aus der Seilbahn zum ersten Mal die olympischen Anlagen in den kaukasischen Bergen sieht. Für ausreichend Schnee sorgt die Slowenin Mojca. An den Hängen des Kaukasus legt sie riesige Schneelager an, falls der echte Schnee für die olympischen Wettkämpfe nicht ausreichen sollte. Als Skilehrerin im Schweizer Skiort Gstaad hat Mojca die russische Politik-Elite kennengelernt. Nun ist sie verantwortlich für den Pistenzustand bei den Olympischen Spielen. Unten im Tal, am Schwarzen Meer, kämpft Galina um den Erhalt ihres Campingplatzes direkt am Strand. Weil ein Politiker ihr Filetgrundstück haben will, wird sie von den Behörden schikaniert.
In der atemberaubend schönen Landschaft des wilden Kaukasus verbinden die Menschen Hoffnung und Angst mit den bevorstehenden Olympischen Spielen: Hoffnung, dass ihre Region endlich Aufmerksamkeit und Entwicklung erfährt, Angst, dass die Schönheit der kaukasischen Berge für immer verloren gehen könnte. Und sie am Ende vielleicht wirklich nicht mehr wären als Disneyland im Kaukasus.
http://twitter.com/ZDF
Fotos sind erhältlich über die ZDF-Pressestelle, Telefon: 06131 – 70-16100, und über http://bilderdienst.zdf.de/presse/durchdenwildenkaukasus
Pressekontakt:
ZDF-Pressestelle
Telefon: +49-6131-70-12121
“Es ist ein Mittelding zwischen Dubai und Disneyland, nur mit Schnee”, sagt die beste deutsche Snowboarderin Amelie Kober, als sie aus der Seilbahn zum ersten Mal die olympischen Anlagen in den kaukasischen Bergen sieht. Für ausreichend Schnee sorgt die Slowenin Mojca. An den Hängen des Kaukasus legt sie riesige Schneelager an, falls der echte Schnee für die olympischen Wettkämpfe nicht ausreichen sollte. Als Skilehrerin im Schweizer Skiort Gstaad hat Mojca die russische Politik-Elite kennengelernt. Nun ist sie verantwortlich für den Pistenzustand bei den Olympischen Spielen. Unten im Tal, am Schwarzen Meer, kämpft Galina um den Erhalt ihres Campingplatzes direkt am Strand. Weil ein Politiker ihr Filetgrundstück haben will, wird sie von den Behörden schikaniert.
In der atemberaubend schönen Landschaft des wilden Kaukasus verbinden die Menschen Hoffnung und Angst mit den bevorstehenden Olympischen Spielen: Hoffnung, dass ihre Region endlich Aufmerksamkeit und Entwicklung erfährt, Angst, dass die Schönheit der kaukasischen Berge für immer verloren gehen könnte. Und sie am Ende vielleicht wirklich nicht mehr wären als Disneyland im Kaukasus.
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NORDMANNTANNEN: Der Zapfenstreit. Von Paula Scheidt (zeit.de)
(zeit.de) Er duftet, er glänzt – und er hat eine Vorgeschichte: Bevor alle Jahre wieder ein Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer steht, klettern Zapfenpflücker in Georgien auf 50 Meter hohe Tannen, streiten sich Deutsche und Dänen im Kaukasus um das beste Saatgut, fallen viele böse Worte und fliegen manchmal die Fäuste ...
Nach einem langen Aufstieg durch Farne, Brombeerdickicht und kniehohes Gras stemmt Karl Moser seine klobigen Schuhe in den Waldboden und legt seine Arme um die schönste Tanne, die er je gesehen hat. Ein Traum von einem Baum. Pyramidenförmig, dichte Äste, buschige Nadeln. Nahezu vollkommen. So eine Tanne existiert kein zweites Mal. Weder hier in Georgien noch sonst wo. "Das ist die Granate, die wir brauchen!", ruft Moser schnaufend.
Er kann den Stamm mit beiden Armen umfassen. "200 bis 300 Jahre alt, 30 Meter hoch", schätzt Moser. Neben Moser steht ein Mann und nickt: sein Geschäftspartner Henning Pein. "Perfekte Weihnachtsbaum-Gene", sagt Pein. Und das größte Glück: Die Baumkrone hängt voller rötlich schimmernder Zapfen, mit Zehntausenden winziger Tannenbaumsamen.
Fast 3000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat stehen zwei Deutsche im August 2013 in einem Wald im Kaukasus und umarmen eine Tanne wie eine Chance, die es zu ergreifen gilt. Karl Moser und Henning Pein, beide Mitte fünfzig, Moser kahl, mit Stirnfalten, Pein mit rotblondem Haar. Zwei Handlungsreisende in Förstergrün, die sich in den tiefsten Osten Europas begeben haben, an den Anfang einer Geschichte, die jedes Jahr zu Weihnachten ihr Ende in den Wohnzimmern Westeuropas findet.
Gemeinsam mit Pein betreibt Moser die PlusBaum Samen GmbH. Sie sind die Zulieferer einer Zulieferindustrie: Sie verkaufen Samen an deutsche Baumschulen für alle Bäume, die in Wäldern, Parks und Gärten gepflanzt werden – Eiche, Buche, Douglasie, Weißtanne, Ahorn.
Am meisten Geld verdienen Moser und Pein mit den Samen der Nordmanntanne. "Sie ist der einzige Baum, den die Deutschen konsumieren wie ein Wegwerfprodukt", hatte Moser im Auto gesagt. Jedes Jahr zu Weihnachten, 24 Millionen Mal. Was kaum ein Kunde weiß: Die Samen des Weihnachtsbaums wachsen dort, wo sich Europa in den Weiten Asiens verläuft. Deshalb diese Reise.
Im Transitbereich des Flughafens Istanbul-Atatürk hatte Moser Pein in der Menge gesichtet. Pein, dem auch eine Baumschule in Norddeutschland gehört, war in Hamburg ins Flugzeug gestiegen. Nun schlug ihm Moser auf die Schulter: "Dann woll’n wir mal." Sie tranken ein überteuertes Heineken und stiegen in eine Maschine in die georgische Hauptstadt Tbilissi.
Die schönsten Nordmanntannen wachsen im Kaukasus ab etwa 1.000 Meter Höhe, in der Region Ambrolauri, nahe der Grenze zu Russland. Die Bergrücken fallen zu einem Stausee ab, dem Schaori-See. Tagsüber spiegelt sich die Sonne auf dem Wasser, nachts der Mond. Aus den Tälern steigen Rauchsäulen. Die Menschen heizen ihre Häuser mit Holz, ihre Straßen sind aus nacktem Lehm. Armut und Idylle sehen sich in Ambrolauri zum Verwechseln ähnlich.
1841 hat der finnische Biologe Alexander von Nordmann hier eine Tannenart mit kräftigen Zweigen und tiefgrünen Nadeln entdeckt und sie Abies nordmanniana getauft. Lange interessierte dieser Fund nur Botaniker. Bis vor zwanzig, dreißig Jahren stellten die Deutschen an Weihnachten eher einheimische Blaufichten in ihre Wohnzimmer. Doch die Anspruchshaltung im Westen stieg: Weihnachtsbäume sollten tiefgrün leuchten und weder piksen noch nadeln.
Als im Osten der Kommunismus zusammenbrach, wurde der Blick auf die Nordmanntanne frei. Moser – wie Pein gelernter Gärtnermeister, dazu Außenhandelskaufmann – flog nach Georgien, vermaß Bäume, tüftelte Transportwege aus und wurde gemeinsam mit Pein zum größten deutschen Importeur für georgisches Saatgut.
Drei von vier in Deutschland verkauften Weihnachtsbäumen sind heute Nordmanntannen. Moser und Pein haben aus einer botanischen Rarität ein ökonomisches Massenprodukt gemacht.
Die Samen für neue Bäume ließen sich auch in Deutschland ernten, theoretisch. Aber es gibt hier kaum Nordmanntannen, man müsste sie erst anpflanzen. Und bis sie Zapfen tragen, dauert es Jahrzehnte. So lange wollen die Weihnachtsbaumproduzenten nicht warten. Also holen sie die Samen für die nächsten Tannen wieder aus Georgien.
Pro Jahr verkaufen Moser und Pein rund zwei Tonnen Samen aus dem Kaukasus an deutsche Baumschulen. Seit einiger Zeit aber stoßen sie auf Konkurrenz, wenn sie nach Ambrolauri kommen.
Früher waren Girci, Tannenzapfen, in Georgien so wertlos wie Laub. Sie fielen von den Bäumen und verfaulten. Seit in Europa die Nordmanntanne zum weihnachtlichen Sinnbild avancierte, ist aus den Zapfen ein wertvoller Rohstoff geworden. Sie sind Georgiens Gold. Und um Gold wird gekämpft.
Importeure wie Moser und Pein wollen die Zapfen haben. Aber auch die Einheimischen. Der Staat. Eine Mafia, angeführt von einem georgischen Maiglöckchenhändler. Und noch eine Mafia hinter der Mafia, von Russen geführt.
In den Wäldern von Ambrolauri ist schwer zu erkennen, wer gut und wer böse ist in diesem Kampf.
Am Flughafen Tbilissi wurden Moser und Pein von drei Georgiern empfangen, die so wenig Englisch sprachen wie Moser und Pein Georgisch. Die Verständigung beschränkte sich auf Händeschütteln und schiefes Lächeln, bis eine Dolmetscherin in den gemieteten Geländewagen zustieg.
Fünf Stunden dauerte die Fahrt über kurvige Bergstraßen nach Ambrolauri, es folgte eine Nacht auf harten Matratzen, Zähneputzen am Brunnen und nun der Aufstieg durch den Wald. "Wir sollten zusammenbleiben, ich habe hier schon mal die Orientierung verloren", sagt Moser zu Pein.
Am Stamm des perfekten Weihnachtsbaumes hängt ein kleines Metallschild. Darauf steht mit schwarzer Farbe eine Zahl gekritzelt: 4.
Bei ihrem Besuch vor einem Jahr hatten Moser und Pein 33 Bäume markiert, die besonders schön gewachsen waren, deren Zapfen besonders gute Samen versprachen. An die Stämme hatten sie Schilder genagelt. Die meisten sind verschwunden. Moser massiert sich die Schläfen. "Jemand muss die Schilder abgerissen haben", sagt er langsam.
Dabei ist das hier ihr Erntegebiet, offiziell verbrieft. In diesem Wald passieren seltsame Dinge.
Moser überlegt. "Besser, wir entfernen auch dieses Schild", sagt er. "Wir sollten nicht unnötig auf unsere Prachttanne hinweisen."
Ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen
Bis heute ist Georgien für Moser und Pein ein Land voller Rätsel. Die verlassenen Städte, die schwarzen Fabrikruinen. "Ich frag mich, was die Menschen hier machen, ich sehe keine einzige Firma, die funktioniert", flüsterte Moser im Geländewagen. Und Pein sagte, er wünsche sich von den Georgiern mehr Elan: "Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun. Das ist von Goethe."
In vier Wochen, Ende September, soll die Ernte beginnen. Moser und Pein sind nach Ambrolauri gekommen, um die Zapfen zu prüfen, Erntemengen zu berechnen und Verträge mit vertrauenswürdigen Pflückern aufzusetzen. Die vergangenen beiden Jahre waren miserabel: Es gab wenige Zapfen, und die waren auch noch von Insekten zerfressen.
Die Abhängigkeit vom Wetter macht den Kampf um Georgiens Tannenzapfen unberechenbarer als den um andere Rohstoffe. Öl fließt, sobald die Quelle angebohrt ist, Diamanten vertrocknen nicht in wochenlanger Dürre. Doch selbst wenn ein Samensammler an alles gedacht, den besten Wald gefunden, eine Erntelizenz gekauft, Pflücker eingestellt hat – ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen. Noch eine schlechte Ernte, und Moser und Pein können kein Saatgut mehr liefern. Dann fehlen in ein paar Jahren in Europa die Weihnachtsbäume.
Moser zückt sein Taschenmesser, legt einen unreifen Zapfen vor sich auf einen Baumstumpf und schneidet ihn der Länge nach auf. Die beiden Hälften kippen rechts und links der Klinge auseinander.
Moser hält die Luft an, dann atmet er langsam aus. Pein, der eine Ansammlung fremdartiger Pilze studiert hat, dreht sich um. "Das wird eine Wahnsinnsernte", sagt Moser. Die Samen liegen gleichmäßig und unversehrt im Inneren des Zapfens. Hunderte kleiner Körner, nicht größer als Sonnenblumenkerne. In einem Monat, wenn kein Harz mehr aus den Zapfen tritt, werden sie reif sein. Dann müssen sie aus bis zu 50 Meter hohen Baumkronen gepflückt werden. Es muss schnell gehen – bevor die Zapfen sich öffnen und der Wind die Samen verteilt.
"So etwas habe ich seit Jahren nicht gesehen", sagt Moser. Seine Stirnfalten haben sich geglättet.
In der Stube von Gia Momzemlidse ist der Tisch für das Abendessen gedeckt. Schüsseln und Teller, gefüllt mit Tomaten, Ziegenkäse, Huhn, Krautsalat, Bohnenbrot, gebackener Paprika, Pflaumensoße. Momzemlidse ist 38 Jahre alt, Vater von zwei Kindern und Förster, angestellt beim Ministerium für regionale Entwicklung und Infrastruktur, gesegnet mit dem Bauchansatz eines Bessergestellten. Im Herbst soll er als Chefpflücker für Moser und Pein arbeiten. Weil es in den Tälern um den Schaori-See keine Hotels gibt, übernachten die beiden Deutschen in seinem Haus.
Es ist nicht aus Holz wie die anderen im Dorf, sondern aus rotem Ziegel. Momzemlidse hat einen Internetanschluss und eine Toilette mit Spülung. Aber die Wände sind dünn, im Winter heult der Wind durch die Fensterritzen.
Er stellt Moser ein randvolles Glas hin. Der mag nicht schon wieder trinken. Der süße Wein bekommt ihm nicht. Nach jeder Georgien-Reise schreibt er in sein Notizbuch: "zu viel gelabert".
Aber was soll er machen? Es geht jetzt darum, sich gegenseitig Vertrauen anzutrinken.
Moser nimmt einen Schluck. Dann fängt er an, über die Arbeit zu sprechen. "Wir haben in Deutschland ein Problem", sagt er. "Billiges Saatgut überschwemmt den Markt. Es steht Ambrolauri als Herkunftsort drauf, aber es muss illegal geerntet worden sein, sonst wäre es nicht so billig. Diese Mafiosi machen uns das Geschäft kaputt."
Momzemlidse nickt und schweigt.
Moser und Pein haben von Jahr zu Jahr weniger Kundenanfragen. Immer mehr Konkurrenten bieten Samen aus Georgien an, immer weniger Baumschulen kaufen bei der PlusBaum Samen GmbH.
2009 hat das georgische Wirtschaftsministerium die 80.000 Hektar Wald um den Schaori-See aufgeteilt und Erntelizenzen versteigert. Moser und Pein haben eine fünfstellige Summe bezahlt, damit sie in ihrem Waldabschnitt zwölf Jahre lang jede Saison 17,5 Tonnen Zapfen ernten dürfen, aus denen sich ihre knapp zwei Tonnen Samen kratzen lassen.
Doch die Ordnung hat Risse bekommen. Einem skandinavischen Unternehmen wurde die Lizenz geschenkt, heißt es. Und die Regierung hat angefangen, für weitere Waldgebiete einjährige Zusatzlizenzen herauszugeben. Mehr Wald heißt: mehr Samen. Das macht den Preis kaputt.
Moser und Pein stellten auch fest, dass im Herbst während der Ernte oft gar nicht kontrolliert wird, wer eine Lizenz besitzt. "Das ist eine Riesensauerei", schimpft Moser. "Unsere teure Lizenz ist für die Katz."
Vor einigen Jahren wollten Unbekannte die beiden Deutschen erpressen: Sie verlangten Schutzgeld. Als Moser und Pein nicht zahlten, wurden ihre Pflücker von bewaffneten Männern überfallen. Danach trugen die Pflücker eine Zeit lang Maschinenpistolen bei sich. Wie Nebel liegt jetzt das Misstrauen über den Wäldern und Dörfern rund um den Schaori-See. Wer Freund ist und wer Feind, ist oft spät zu erkennen. Manchmal gar nicht.
Gia Momzemlidse arbeitet seit zehn Jahren für Moser und Pein. Er hält die beiden Deutschen für ein wenig steif. Sie trinken nicht und lassen die Samen jedes Jahr von einem Institut für Forstgenetik untersuchen. Aber sie haben auch ihre gute Seite. Sie zahlen pünktlich und meist mehr als die Konkurrenz.
Im vergangenen Jahr, als die Ernte schlecht war, versuchte ein Georgier im Auftrag des dänischen Großunternehmens Levinsen & Abies, Momzemlidses Pflückern die Zapfen für Moser und Pein zu einem noch höheren Preis abzukaufen. Momzemlidse verprügelte ihn. Seitdem gilt er als eine Art ständige Vertretung der PlusBaum Samen GmbH in Georgien.
Drei Tage lang bereiten Moser und Pein in Ambrolauri ihr Weihnachtsbaumgeschäft vor. Sie gehen mit Momzemlidse Wachteln schießen. Sie spähen mit einem Feldstecher die Zapfen im Waldabschnitt ihres dänischen Rivalen aus. Sie messen mithilfe eines elektronischen Chips, den sie voriges Jahr im Unterholz versteckt haben, die Temperatur im Wald, begutachten die Maschine, mit der die Samen aus den Zapfen getrennt werden, und müssen mit Momzemlidse dauernd einen trinken. Einmal flüstert Moser zu Pein: "Zum Glück sind die nicht in der EU."
Es gibt neuerdings noch einen Konkurrenten, der Moser und Pein Ärger macht: Fair Trees, auch aus Dänemark. Die Marke wirbt damit, ihre Weihnachtsbäume seien fair gehandelt. Die Pflücker tragen Schutzhelme, ein Teil des Erlöses geht an die lokale Bevölkerung. Kommt gut an bei deutschen Käufern.
Moser und Pein haben sich eine Gegenstrategie überlegt: Bio-Bäume. Beim Frühstück am Tag ihrer Abreise legen sie Momzemlidse einen Arbeitsvertrag für alle seine 15 Pflücker vor. Ein ordentlicher, schriftlicher Kontrakt zwischen deutschen Auftraggebern und georgischen Pflückern ist erste Voraussetzung für eine Bio-Zertifizierung.
Auf dem DIN-A4-Papier stehen einige Verhaltensregeln für die Ernte: keine Steigeisen an die Füße schnallen, weil die den Stamm verletzen. Nie die ganze Baumkrone abernten. Keine Äste abbrechen. Und: Alle Arbeiter tragen Sicherheitsausrüstung.
"Warum steht das da?", fragt Momzemlidse. "Einen Helm will ich nicht, der ist zu schwer. Und Schutzkleidung? So etwas besitzen wir nicht. Zu teuer. Das unterschreibe ich nicht."
Moser zieht die Augenbraue hoch. "Helme bringen wirklich nichts", sagt er. "Wenn man runterfällt, ist eh Ende."
Momzemlidse rennt raus und kommt mit einer rot-blau geringelten Kindermütze wieder, die er sich tief in die Stirn zieht. "So etwas brauchen wir, damit das Harz die Haare nicht verklebt", sagt er.
Mützen? Moser und Pein schauen sich an.
Helmverschlüsse, sagt Momzemlidse, verhakten sich dauernd in den Zweigen. Aber Mützen sind nicht bio. Tief im Kaukasus trifft europäische Ethik auf georgischen Pragmatismus. Es geht hin und her.
Irgendwann sagt Pein mit einem Seufzer: "So viel Streit dafür, dass der Weihnachtsbaum später Ruhe und Frieden verbreiten soll."
Man weiß nie, wer von der Mafia bezahlt wird
Bevor er mit Pein zurück nach Tbilissi fährt, besucht Moser den Provinzgouverneur. Vielleicht kann er helfen, das Chaos im Wald einzudämmen. In Ambrolauri, der regionalen Hauptstadt, leben 2.400 Einwohner, acht von zehn Erwerbsfähigen hier haben keinen festen Job. Im Rathaus – außer der Polizeistation das einzige Gebäude im Ort, das nicht aussieht, als könne es jeden Augenblick einstürzen – sitzt der Gouverneur hinter einem dunklen Konferenztisch und schaut Moser an. In seinem Gesicht regt sich nichts. Im Regal stehen Spirituosen.
"Sie möchten etwas für die Bevölkerung tun?", fragt der Gouverneur. "Gute Idee! Uns fehlt es an allem. Wenn Sie eine Straße bauen oder eine Schule sanieren, helfen wir gerne." Für Moser läuft das Gespräch in die falsche Richtung. Das liegt an Momzemlidse. Er hatte das Treffen vereinbart und Moser anvertraut: "Für einen Termin beim Gouverneur braucht man einen guten Grund. Ich habe gesagt, ihr wollt euch sozial engagieren."
"Wir überlegen uns das", sagt Moser zum Gouverneur. "Aber Sie müssen sich zuerst darum kümmern, dass nicht weiter illegal Saatgut geerntet wird. Das ruiniert uns das Geschäft."
"Ein großes Problem!", stimmt der Gouverneur zu, wirkt aber nicht besonders besorgt. Die Dolmetscherin hatte Moser empfohlen, keine Visitenkarte herauszugeben. Er solle sagen, er habe sie vergessen. Man wisse nie, wer alles von der Mafia bezahlt werde.
Moser und Pein reden wenig auf dem Rückflug nach Europa. Moser blättert im Nadel-Journal, dem Branchenmagazin. Pein liest in einem Buch namens Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte, eine Empfehlung seiner Yogalehrerin.
Anfang September, Moser und Pein sind seit zehn Tagen aus Georgien zurück, findet im sauerländischen Eslohe die Internationale Weihnachtsbaumbörse statt. Im Sauerland liegt das größte zusammenhängende Weihnachtsbaum-Anbaugebiet Europas, 11.000 Hektar groß. Hier werden aus Samen Bäume, wachsen Tannen und Profit. Als der Orkan Kyrill 2007 ganze Wälder fällte, nutzten die Baumproduzenten die Gelegenheit, um auf noch mehr Flächen kleine Nordmanntannen anzupflanzen.
Die Branche trifft sich in einer Schützenhalle außerhalb des Ortes. Hier hält am Wochenende nicht einmal ein Bus. 1.500 Besucher reisen an, aus Bayern, dem Schwarzwald, auch aus Dänemark, Besitzer von Baumschulen, Samenhändler, Weihnachtsbaumverkäufer. Maschinenbauer kommen mit Anhängern, auf die riesige Apparate zum Düngen, Fällen oder Verpacken von Weihnachtsbäumen geschnallt sind. Schweres Gerät, fast wie für einen Krieg. Es regnet. In der Halle gibt es belegte Brote.
Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Weihnachtsbaumerzeuger hält eine Begrüßungsrede. "450 Millionen Euro stehen nicht für irgendwas, sondern für den Umsatz im Weihnachtsbaumgeschäft", ruft er. "450 Millionen Euro stehen auch für Arbeitsplatzsicherheit. Das verstehen die da oben in der Politik langsam. Trotzdem bekommen wir Weihnachtsbaumproduzenten keine Subventionen wie andere Landwirte, wir kämpfen auf dem freien Markt."
Moser nickt zustimmend. Um ihn herum sitzen Männer in Gummistiefeln, karierten Hemden und bunten Funktionsjacken. Männer, die wenig Worte machen. Man braucht gute Nerven, wenn es im November regnet, stürmt und schneit, die Maschinen im Matsch versinken oder einfrieren und 80 Millionen Deutsche trotzdem erwarten, dass der Baum pünktlich zu den Feiertagen in ihrem Wohnzimmer steht.
Moser tritt in den Regen hinaus. Er sieht den Messestand von Levinsen & Abies, dem Konkurrenten aus Dänemark, auf dessen Unterhändler Mosers Chefpflücker Momzemlidse im vergangenen Jahr wütend einschlug. Einer der Geschäftsführer sitzt unter dem Dach des Stands.
"Und, wie läuft es bei euch dieses Jahr?", fragt Moser. Er schildert das Problem mit dem illegalen Saatgut. "Es wäre schön, wenn ihr da auch mal was unternehmen würdet", sagt Moser.
Der Däne reagiert kaum. "Ja, das ist schon ein Problem", sagt er dann. Die Schlägerei erwähnen beide mit keinem Wort. Was in Georgien passiert, bleibt in Georgien.
Mit dem Herbst kommt der Regen nach Ambrolauri. Im Haus des Chefpflückers Momzemlidse stapeln sich Etiketten, die bald auf prall gefüllten Säcken kleben sollen. Vor ein paar Tagen holten die Männer einen Zapfen vom Baum und pressten ihn mit den Händen zusammen. Es tropfte Harz heraus, für die Ernte ist es noch zu früh. Ab und zu ruft Moser an, dieser gewissenhafte Deutsche, und sagt, die Georgier sollten sich gedulden. Von Tag zu Tag würden die Samen besser. Also liegt Gia Momzemlidse im Wohnzimmer auf dem Sofa und schläft.
Auch sein Nachbar, 20 Jahre alt, wartet und spielt mit einem Cousin Backgammon. Jeden Herbst kommt er für die Zapfenernte hinauf in die Berge, um für Momzemlidse auf die Bäume zu klettern. Das übrige Jahr schuftet er in einer Kohlenmine. "Lieber würde ich das ganze Jahr über Zapfen pflücken", sagt er. Aber die Erntezeit dauert nur zwei Wochen. Seine Frau trägt ein Baby auf dem Arm. Die Hälfte der 60 Familien im Dorf haben Zapfenpflücker im Haus. In den umliegenden Dörfern ist es dasselbe. Alle sitzen und warten und belauern den Nachbarn.
Wer zu früh pflückt, kommt mit unreifen Zapfen nach Hause. Aber wer zu spät in die Bäume steigt, verdient womöglich gar nichts – sogar in einem guten Jahr wie diesem. Weil dann schon die Schwarzpflücker in den Wäldern waren und ihre Beute illegal, am Zoll vorbei, nach Europa verkauft haben.
Die Manager von Fair Trees schätzen, dass mittlerweile 70 bis 90 Prozent der Nordmannsamen, die in den Westen kommen, illegal geerntet sind. Dass diese Hehlerware, zu früh gepflückt und schlecht gelagert, manchmal nichts taugt, wird in den Baumschulen erst ein paar Jahre später deutlich. Bis aus einem weit gereisten Samen ein Weihnachtsbaum wird, vergehen etwa acht Jahre.
Hinter Momzemlidses Haus stehen sieben Pflücker mit verschränkten Armen. Momzemlidse hat sie zusammengerufen. "Die Tannenzapfen sind für uns Milch, Honig und Brot", sagt er. "Besser wäre natürlich, wenn direkt das Geld oben hinge." Die Männer lachen. Auf Anweisung der Deutschen soll Momzemlidse ihnen zeigen, wie man einen Klettergurt anzieht. Moser und Pein haben auch Öljacken und Gummihosen geschickt, Schutzkleidung. "Wenn die gut ist, ziehe ich die auch sonst an", sagt einer.
Die Winter sind hart in Georgiens Bergen, die Temperaturen fallen weit unter null, die Brunnen frieren zu. Mit dem Schnee kommen Bären und Wölfe in die Dörfer, auf der Suche nach Nahrung.
Die meisten Menschen gehen dann ins Tal hinunter, in die Städte. Sie erzählen sich wilde Geschichten von Betrug, Verrat und unermesslichem Reichtum. In ihren Wäldern wachsen die Verschwörungstheorien mittlerweile schneller als die Bäume.
Ein reicher Jude, heißt es, habe 25 Dollar pro Kilo Zapfen bezahlt, bis er auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sei. Und der russische Präsident Putin höchstpersönlich besitze einen Wald mit Nordmanntannen nördlich des Schwarzen Meeres.
Trotz der Gerüchte wissen viele Männer nach wie vor nicht, was mit den Zapfen geschieht, für die sie in die Bäume klettern. Daraus werde in einem fernen Land Parfüm hergestellt, vermuten manche. Von deutschen Weihnachtsbaumplantagen haben sie nie gehört. Weihnachtsbäume kauft in Georgien niemand, abgesehen von ein paar Reichen in Tbilissi.
Auch die Pflücker von Fair Trees warten, auf 1.800 Meter Höhe, mitten im Wald. Seit drei Tagen und zwei Nächten hoffen sie, dass der Regen aufhört. Er macht die Stämme glitschig und das Klettern noch gefährlicher. Die Chefs haben verboten, bei Regen zu klettern. Sie haben auch verboten, ohne Sicherheitsausrüstung in die Bäume zu steigen.
Schweigend hocken die Männer um ein kleines Feuer und rauchen. Ab und zu verschwindet einer mit der Axt im Wald und kommt mit ein paar feuchten Holzscheiten zurück. Mit einer Plastikplane und Ästen haben sie ein Dach über ihrer Schlafstätte gebaut, dort liegen Schlafsäcke und zwei Gewehre.
Bio, öko, fair gepflückt – der Regen von Ambrolauri verwäscht alle Labels. Mosers und Peins Pflücker unten im Dorf haben zwar keine Helme, warten aber im Warmen. Die Erntehelfer der sozial engagierten Dänen sind ausgerüstet wie Bergsteiger, hausen aber im Wald wie in einem Slum. Dafür gewährt Fair Trees den Kindern der Pflücker kostenlose Arztbesuche.
Er springt ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne
Weiter unten ruckelt ein grauer Pick-up durch den Wald. Das hier ist offiziell das Erntegebiet der Dänen von Levinsen & Abies. Der Wald von Moser und Pein ist nicht weit. Drei kräftige Männer mit grimmigem Blick, dunklen Bärten und verdreckter Arbeitskleidung springen aus dem Auto. Dann ein dünner Junge, keine zwanzig Jahre alt. Es sind Schwarzpflücker.
Die vier Männer stammen aus dem Nachbardorf. Der Wald ist ihnen vertraut, sie sind hier aufgewachsen. Dieses Jahr soll der Schwarzmarktpreis hoch sein, haben sie gehört, zwei Lari pro Kilo Zapfen, umgerechnet 85 Cent. Sonst gab es manchmal nur 20 Cent.
In einer guten Baumkrone hängen bis zu 100 Kilo. Zwei Baumkronen bringen dieses Jahr also rund 170 Euro, das entspricht fast dem monatlichen Durchschnittseinkommen in Georgien.
Der Jüngste zieht sich eine harzverschmierte Wollmütze mit Augenschlitz über den Kopf, wie ein Bankräuber steht er im Wald. Er streift sich rote Handschuhe über und geht mit hochgezogenen Schultern und federndem Gang auf eine schmale Tanne zu. Seit er acht Jahre alt ist, steigt er in die Bäume.
Wie eine Katze zieht er sich am ersten Ast hoch, greift nach dem nächsten, immer dicht am Stamm. Er klettert schnell und still, immer höher, die Äste sind jetzt dünner als seine Handgelenke. Je höher er klettert, desto mehr schwankt der Baum.
Dann steht er oben in der Krone, die Baumspitze dicht neben seinem Gesicht. Mit einer Hand hält er sich am obersten Ast fest, der dünn ist wie ein Finger, dafür voll buschiger Nadeln. Mit der anderen Hand bricht er die Zapfen ab und wirft sie herunter. Durch die Äste rauschen sie bis auf den Waldboden.
Als keine Zapfen mehr in der Krone hängen, beugt er sich mit dem Oberkörper nach hinten wie ein Weitspringer beim Anlauf, schnellt dann nach vorne, sodass der Baum zu schwanken beginnt. Ein paar Mal schwingt er hin und her, dann springt er ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne. So hat er sich einen Ab- und einen Aufstieg gespart.
Unten lehnt der Anführer der Gruppe an einem Baum. Sein Name sei Bekia Kemoklidse, sagt er. Er hat tiefe Augenringe, seine Lippe ist aufgeplatzt. "Manche von uns können zwölf Baumkronen hintereinander abernten", sagt Kemoklidse, "ohne den Boden zu berühren."
Einer seiner Komplizen sammelt die Zapfen auf. "Früher ist auch er in die Tannen gestiegen", sagt Kemoklidse, "aber vor fünf Jahren hatte er einen Unfall." Er war den Stamm bis zur Hälfte hochgeklettert, da brach ein Ast. Ein gebrochener Arm, gebrochene Rippen, die sich in die Lunge bohrten. Wäre er von oben abgestürzt, wäre er jetzt tot.
Fast jedes Jahr stirbt ein Pflücker. Viele verletzen sich. "Ich würde trotzdem keinen Klettergurt anlegen", sagt Kemoklidse. "Wenn man 30 Meter hoch- und 30 Meter runtersteigt, und das mehr als zehnmal am Tag, zählt jedes Gramm. Und wenn der Ast bricht, an dem das Seil hängt, schützt auch ein Gurt nicht."
Zapfen fallen auf den Waldboden. Der Junge hat auch den zweiten Baum abgeerntet. Er hangelt sich von Ast zu Ast hinunter, nicht am Stamm entlang, sondern außen an den Zweigen, das geht schneller. Er rutscht ein Stück auf einem Zweig, greift nach dem nächstunteren, rutscht weiter, bis er unten auf dem Boden steht, heftig atmend.
Es dämmert. Die vier Männer machen ein Feuer, holen Wein in Plastikflaschen aus dem Auto, Wurst, Brot, Thunfisch aus der Dose. Sie stellen die Konserven an die Flamme, spießen Käse auf Holzspieße. Kemoklidse hebt das Glas. "Auf alle Menschen, egal, aus welchem Land sie kommen. Auf unsere Kinder, denn Kinder bedeuten Fortschritt." Die Männer stehen in der Dunkelheit, unbeeindruckt vom Regen, der ihre Pullover und Anoraks durchnässt.
Von dem System der Erntelizenzen haben die Schwarzpflücker gehört. Es stört sie nicht, dass Männer wie Moser und Pein sie Zapfendiebe nennen. "Mein Großvater, mein Urgroßvater und sein Vater haben diese Bäume gepflegt", sagt Kemoklidse. Als Kinder haben sie in diesem Wald gespielt, warum sollten sie keine Zapfen pflücken? "Der Wald gehört den Menschen, die hier leben", sagt Kemoklidse.
Es ist dunkel geworden. Vom Tal steigt Gebrumm herauf. Voll beladene Pick-ups rollen auf die Dörfer zu. Wer nicht direkt für eine Saatgutfirma arbeitet, wie die von Moser und Pein, muss seine Zapfen schnell anderswo loswerden. In den Gärten der umliegenden Weiler stapeln sich Säcke auf Holzgestellen, hinter vorgehaltener Hand werden Namen von Schleusern und Zwischenhändlern gezischelt.
Nur noch ein paar Wochen bis Weihnachten, in den deutschen Supermärkten liegen längst Lichterketten und Lametta. In den Wäldern von Ambrolauri ist vom Fest der Liebe nichts zu spüren: Der dänische Chef der Firma Levinsen & Abies wird von seinen eigenen Pflückern verprügelt, weil er nicht den Preis zahlen will, den sie ihm mit einem Streik abgerungen haben. Ein gutes Jahr ist manchmal schlecht – plötzlich sind da mehr Samen, als sich verkaufen lassen.
Auch Moser und Pein scheinen zu pokern: Sie richten Momzemlidse aus, mit der Ernte weiter zu warten. Es ist nicht mehr klar, ob es den Deutschen um die Reife der Zapfen geht. Oder ob sie auf fallende Preise spekulieren. Oder einfach nur ratlos sind.
Eines Nachts steigt Momzemlidse in seinen Jeep. Der Nebel liegt über dem Weihnachtsbaumwald wie in einem alten kaukasischen Märchen. Moser und Pein haben noch immer kein Signal zur Ernte gegeben. Die Scheinwerfer von Momzemlidses Wagen schneiden einen gelben Kegel in die Dunkelheit. Im Labyrinth der Bäume sieht er ein paar Gestalten. Sie füllen Tannenzapfen in große Säcke.
Das hier ist der Waldabschnitt der PlusBaum Samen GmbH. Aber es sind nicht Momzemlidses Pflücker.
Momzemlidse stößt einen Fluch aus.
Nach einem langen Aufstieg durch Farne, Brombeerdickicht und kniehohes Gras stemmt Karl Moser seine klobigen Schuhe in den Waldboden und legt seine Arme um die schönste Tanne, die er je gesehen hat. Ein Traum von einem Baum. Pyramidenförmig, dichte Äste, buschige Nadeln. Nahezu vollkommen. So eine Tanne existiert kein zweites Mal. Weder hier in Georgien noch sonst wo. "Das ist die Granate, die wir brauchen!", ruft Moser schnaufend.
Er kann den Stamm mit beiden Armen umfassen. "200 bis 300 Jahre alt, 30 Meter hoch", schätzt Moser. Neben Moser steht ein Mann und nickt: sein Geschäftspartner Henning Pein. "Perfekte Weihnachtsbaum-Gene", sagt Pein. Und das größte Glück: Die Baumkrone hängt voller rötlich schimmernder Zapfen, mit Zehntausenden winziger Tannenbaumsamen.
Fast 3000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat stehen zwei Deutsche im August 2013 in einem Wald im Kaukasus und umarmen eine Tanne wie eine Chance, die es zu ergreifen gilt. Karl Moser und Henning Pein, beide Mitte fünfzig, Moser kahl, mit Stirnfalten, Pein mit rotblondem Haar. Zwei Handlungsreisende in Förstergrün, die sich in den tiefsten Osten Europas begeben haben, an den Anfang einer Geschichte, die jedes Jahr zu Weihnachten ihr Ende in den Wohnzimmern Westeuropas findet.
Vor zwei Tagen ist Moser morgens um halb sechs in seinen Passat gestiegen und die 50 Kilometer zum Stuttgarter Flughafen gefahren, vorbei am Spalier der Straßenlaternen, durch seine Heimatstadt Nagold mit ihren Brunnen, Parks und Fachwerkhäusern.24 Millionen
Gemeinsam mit Pein betreibt Moser die PlusBaum Samen GmbH. Sie sind die Zulieferer einer Zulieferindustrie: Sie verkaufen Samen an deutsche Baumschulen für alle Bäume, die in Wäldern, Parks und Gärten gepflanzt werden – Eiche, Buche, Douglasie, Weißtanne, Ahorn.
Am meisten Geld verdienen Moser und Pein mit den Samen der Nordmanntanne. "Sie ist der einzige Baum, den die Deutschen konsumieren wie ein Wegwerfprodukt", hatte Moser im Auto gesagt. Jedes Jahr zu Weihnachten, 24 Millionen Mal. Was kaum ein Kunde weiß: Die Samen des Weihnachtsbaums wachsen dort, wo sich Europa in den Weiten Asiens verläuft. Deshalb diese Reise.
Im Transitbereich des Flughafens Istanbul-Atatürk hatte Moser Pein in der Menge gesichtet. Pein, dem auch eine Baumschule in Norddeutschland gehört, war in Hamburg ins Flugzeug gestiegen. Nun schlug ihm Moser auf die Schulter: "Dann woll’n wir mal." Sie tranken ein überteuertes Heineken und stiegen in eine Maschine in die georgische Hauptstadt Tbilissi.
Die schönsten Nordmanntannen wachsen im Kaukasus ab etwa 1.000 Meter Höhe, in der Region Ambrolauri, nahe der Grenze zu Russland. Die Bergrücken fallen zu einem Stausee ab, dem Schaori-See. Tagsüber spiegelt sich die Sonne auf dem Wasser, nachts der Mond. Aus den Tälern steigen Rauchsäulen. Die Menschen heizen ihre Häuser mit Holz, ihre Straßen sind aus nacktem Lehm. Armut und Idylle sehen sich in Ambrolauri zum Verwechseln ähnlich.
1841 hat der finnische Biologe Alexander von Nordmann hier eine Tannenart mit kräftigen Zweigen und tiefgrünen Nadeln entdeckt und sie Abies nordmanniana getauft. Lange interessierte dieser Fund nur Botaniker. Bis vor zwanzig, dreißig Jahren stellten die Deutschen an Weihnachten eher einheimische Blaufichten in ihre Wohnzimmer. Doch die Anspruchshaltung im Westen stieg: Weihnachtsbäume sollten tiefgrün leuchten und weder piksen noch nadeln.
Als im Osten der Kommunismus zusammenbrach, wurde der Blick auf die Nordmanntanne frei. Moser – wie Pein gelernter Gärtnermeister, dazu Außenhandelskaufmann – flog nach Georgien, vermaß Bäume, tüftelte Transportwege aus und wurde gemeinsam mit Pein zum größten deutschen Importeur für georgisches Saatgut.
Drei von vier in Deutschland verkauften Weihnachtsbäumen sind heute Nordmanntannen. Moser und Pein haben aus einer botanischen Rarität ein ökonomisches Massenprodukt gemacht.
Die Samen für neue Bäume ließen sich auch in Deutschland ernten, theoretisch. Aber es gibt hier kaum Nordmanntannen, man müsste sie erst anpflanzen. Und bis sie Zapfen tragen, dauert es Jahrzehnte. So lange wollen die Weihnachtsbaumproduzenten nicht warten. Also holen sie die Samen für die nächsten Tannen wieder aus Georgien.
Pro Jahr verkaufen Moser und Pein rund zwei Tonnen Samen aus dem Kaukasus an deutsche Baumschulen. Seit einiger Zeit aber stoßen sie auf Konkurrenz, wenn sie nach Ambrolauri kommen.
Früher waren Girci, Tannenzapfen, in Georgien so wertlos wie Laub. Sie fielen von den Bäumen und verfaulten. Seit in Europa die Nordmanntanne zum weihnachtlichen Sinnbild avancierte, ist aus den Zapfen ein wertvoller Rohstoff geworden. Sie sind Georgiens Gold. Und um Gold wird gekämpft.
Importeure wie Moser und Pein wollen die Zapfen haben. Aber auch die Einheimischen. Der Staat. Eine Mafia, angeführt von einem georgischen Maiglöckchenhändler. Und noch eine Mafia hinter der Mafia, von Russen geführt.
In den Wäldern von Ambrolauri ist schwer zu erkennen, wer gut und wer böse ist in diesem Kampf.
Am Flughafen Tbilissi wurden Moser und Pein von drei Georgiern empfangen, die so wenig Englisch sprachen wie Moser und Pein Georgisch. Die Verständigung beschränkte sich auf Händeschütteln und schiefes Lächeln, bis eine Dolmetscherin in den gemieteten Geländewagen zustieg.
Fünf Stunden dauerte die Fahrt über kurvige Bergstraßen nach Ambrolauri, es folgte eine Nacht auf harten Matratzen, Zähneputzen am Brunnen und nun der Aufstieg durch den Wald. "Wir sollten zusammenbleiben, ich habe hier schon mal die Orientierung verloren", sagt Moser zu Pein.
Am Stamm des perfekten Weihnachtsbaumes hängt ein kleines Metallschild. Darauf steht mit schwarzer Farbe eine Zahl gekritzelt: 4.
Bei ihrem Besuch vor einem Jahr hatten Moser und Pein 33 Bäume markiert, die besonders schön gewachsen waren, deren Zapfen besonders gute Samen versprachen. An die Stämme hatten sie Schilder genagelt. Die meisten sind verschwunden. Moser massiert sich die Schläfen. "Jemand muss die Schilder abgerissen haben", sagt er langsam.
Dabei ist das hier ihr Erntegebiet, offiziell verbrieft. In diesem Wald passieren seltsame Dinge.
Moser überlegt. "Besser, wir entfernen auch dieses Schild", sagt er. "Wir sollten nicht unnötig auf unsere Prachttanne hinweisen."
Ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen
Bis heute ist Georgien für Moser und Pein ein Land voller Rätsel. Die verlassenen Städte, die schwarzen Fabrikruinen. "Ich frag mich, was die Menschen hier machen, ich sehe keine einzige Firma, die funktioniert", flüsterte Moser im Geländewagen. Und Pein sagte, er wünsche sich von den Georgiern mehr Elan: "Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun. Das ist von Goethe."
In vier Wochen, Ende September, soll die Ernte beginnen. Moser und Pein sind nach Ambrolauri gekommen, um die Zapfen zu prüfen, Erntemengen zu berechnen und Verträge mit vertrauenswürdigen Pflückern aufzusetzen. Die vergangenen beiden Jahre waren miserabel: Es gab wenige Zapfen, und die waren auch noch von Insekten zerfressen.
Die Abhängigkeit vom Wetter macht den Kampf um Georgiens Tannenzapfen unberechenbarer als den um andere Rohstoffe. Öl fließt, sobald die Quelle angebohrt ist, Diamanten vertrocknen nicht in wochenlanger Dürre. Doch selbst wenn ein Samensammler an alles gedacht, den besten Wald gefunden, eine Erntelizenz gekauft, Pflücker eingestellt hat – ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen. Noch eine schlechte Ernte, und Moser und Pein können kein Saatgut mehr liefern. Dann fehlen in ein paar Jahren in Europa die Weihnachtsbäume.
Moser zückt sein Taschenmesser, legt einen unreifen Zapfen vor sich auf einen Baumstumpf und schneidet ihn der Länge nach auf. Die beiden Hälften kippen rechts und links der Klinge auseinander.
Moser hält die Luft an, dann atmet er langsam aus. Pein, der eine Ansammlung fremdartiger Pilze studiert hat, dreht sich um. "Das wird eine Wahnsinnsernte", sagt Moser. Die Samen liegen gleichmäßig und unversehrt im Inneren des Zapfens. Hunderte kleiner Körner, nicht größer als Sonnenblumenkerne. In einem Monat, wenn kein Harz mehr aus den Zapfen tritt, werden sie reif sein. Dann müssen sie aus bis zu 50 Meter hohen Baumkronen gepflückt werden. Es muss schnell gehen – bevor die Zapfen sich öffnen und der Wind die Samen verteilt.
"So etwas habe ich seit Jahren nicht gesehen", sagt Moser. Seine Stirnfalten haben sich geglättet.
In der Stube von Gia Momzemlidse ist der Tisch für das Abendessen gedeckt. Schüsseln und Teller, gefüllt mit Tomaten, Ziegenkäse, Huhn, Krautsalat, Bohnenbrot, gebackener Paprika, Pflaumensoße. Momzemlidse ist 38 Jahre alt, Vater von zwei Kindern und Förster, angestellt beim Ministerium für regionale Entwicklung und Infrastruktur, gesegnet mit dem Bauchansatz eines Bessergestellten. Im Herbst soll er als Chefpflücker für Moser und Pein arbeiten. Weil es in den Tälern um den Schaori-See keine Hotels gibt, übernachten die beiden Deutschen in seinem Haus.
Es ist nicht aus Holz wie die anderen im Dorf, sondern aus rotem Ziegel. Momzemlidse hat einen Internetanschluss und eine Toilette mit Spülung. Aber die Wände sind dünn, im Winter heult der Wind durch die Fensterritzen.
Momzemlidse hebt das Weinglas. "Auf die Freundschaft zwischen Deutschland und Georgien", sagt er. Er trinkt das Glas in einem Zug aus, dreht es um, lässt den letzten Tropfen auf seinen Daumennagel rinnen und leckt ihn ab. "So macht man das bei uns, es muss völlig leer sein."2 Lari
Er stellt Moser ein randvolles Glas hin. Der mag nicht schon wieder trinken. Der süße Wein bekommt ihm nicht. Nach jeder Georgien-Reise schreibt er in sein Notizbuch: "zu viel gelabert".
Aber was soll er machen? Es geht jetzt darum, sich gegenseitig Vertrauen anzutrinken.
Moser nimmt einen Schluck. Dann fängt er an, über die Arbeit zu sprechen. "Wir haben in Deutschland ein Problem", sagt er. "Billiges Saatgut überschwemmt den Markt. Es steht Ambrolauri als Herkunftsort drauf, aber es muss illegal geerntet worden sein, sonst wäre es nicht so billig. Diese Mafiosi machen uns das Geschäft kaputt."
Momzemlidse nickt und schweigt.
Moser und Pein haben von Jahr zu Jahr weniger Kundenanfragen. Immer mehr Konkurrenten bieten Samen aus Georgien an, immer weniger Baumschulen kaufen bei der PlusBaum Samen GmbH.
2009 hat das georgische Wirtschaftsministerium die 80.000 Hektar Wald um den Schaori-See aufgeteilt und Erntelizenzen versteigert. Moser und Pein haben eine fünfstellige Summe bezahlt, damit sie in ihrem Waldabschnitt zwölf Jahre lang jede Saison 17,5 Tonnen Zapfen ernten dürfen, aus denen sich ihre knapp zwei Tonnen Samen kratzen lassen.
Doch die Ordnung hat Risse bekommen. Einem skandinavischen Unternehmen wurde die Lizenz geschenkt, heißt es. Und die Regierung hat angefangen, für weitere Waldgebiete einjährige Zusatzlizenzen herauszugeben. Mehr Wald heißt: mehr Samen. Das macht den Preis kaputt.
Moser und Pein stellten auch fest, dass im Herbst während der Ernte oft gar nicht kontrolliert wird, wer eine Lizenz besitzt. "Das ist eine Riesensauerei", schimpft Moser. "Unsere teure Lizenz ist für die Katz."
Vor einigen Jahren wollten Unbekannte die beiden Deutschen erpressen: Sie verlangten Schutzgeld. Als Moser und Pein nicht zahlten, wurden ihre Pflücker von bewaffneten Männern überfallen. Danach trugen die Pflücker eine Zeit lang Maschinenpistolen bei sich. Wie Nebel liegt jetzt das Misstrauen über den Wäldern und Dörfern rund um den Schaori-See. Wer Freund ist und wer Feind, ist oft spät zu erkennen. Manchmal gar nicht.
Gia Momzemlidse arbeitet seit zehn Jahren für Moser und Pein. Er hält die beiden Deutschen für ein wenig steif. Sie trinken nicht und lassen die Samen jedes Jahr von einem Institut für Forstgenetik untersuchen. Aber sie haben auch ihre gute Seite. Sie zahlen pünktlich und meist mehr als die Konkurrenz.
Im vergangenen Jahr, als die Ernte schlecht war, versuchte ein Georgier im Auftrag des dänischen Großunternehmens Levinsen & Abies, Momzemlidses Pflückern die Zapfen für Moser und Pein zu einem noch höheren Preis abzukaufen. Momzemlidse verprügelte ihn. Seitdem gilt er als eine Art ständige Vertretung der PlusBaum Samen GmbH in Georgien.
Drei Tage lang bereiten Moser und Pein in Ambrolauri ihr Weihnachtsbaumgeschäft vor. Sie gehen mit Momzemlidse Wachteln schießen. Sie spähen mit einem Feldstecher die Zapfen im Waldabschnitt ihres dänischen Rivalen aus. Sie messen mithilfe eines elektronischen Chips, den sie voriges Jahr im Unterholz versteckt haben, die Temperatur im Wald, begutachten die Maschine, mit der die Samen aus den Zapfen getrennt werden, und müssen mit Momzemlidse dauernd einen trinken. Einmal flüstert Moser zu Pein: "Zum Glück sind die nicht in der EU."
Es gibt neuerdings noch einen Konkurrenten, der Moser und Pein Ärger macht: Fair Trees, auch aus Dänemark. Die Marke wirbt damit, ihre Weihnachtsbäume seien fair gehandelt. Die Pflücker tragen Schutzhelme, ein Teil des Erlöses geht an die lokale Bevölkerung. Kommt gut an bei deutschen Käufern.
Moser und Pein haben sich eine Gegenstrategie überlegt: Bio-Bäume. Beim Frühstück am Tag ihrer Abreise legen sie Momzemlidse einen Arbeitsvertrag für alle seine 15 Pflücker vor. Ein ordentlicher, schriftlicher Kontrakt zwischen deutschen Auftraggebern und georgischen Pflückern ist erste Voraussetzung für eine Bio-Zertifizierung.
Auf dem DIN-A4-Papier stehen einige Verhaltensregeln für die Ernte: keine Steigeisen an die Füße schnallen, weil die den Stamm verletzen. Nie die ganze Baumkrone abernten. Keine Äste abbrechen. Und: Alle Arbeiter tragen Sicherheitsausrüstung.
"Warum steht das da?", fragt Momzemlidse. "Einen Helm will ich nicht, der ist zu schwer. Und Schutzkleidung? So etwas besitzen wir nicht. Zu teuer. Das unterschreibe ich nicht."
Moser zieht die Augenbraue hoch. "Helme bringen wirklich nichts", sagt er. "Wenn man runterfällt, ist eh Ende."
Momzemlidse rennt raus und kommt mit einer rot-blau geringelten Kindermütze wieder, die er sich tief in die Stirn zieht. "So etwas brauchen wir, damit das Harz die Haare nicht verklebt", sagt er.
Mützen? Moser und Pein schauen sich an.
Helmverschlüsse, sagt Momzemlidse, verhakten sich dauernd in den Zweigen. Aber Mützen sind nicht bio. Tief im Kaukasus trifft europäische Ethik auf georgischen Pragmatismus. Es geht hin und her.
Irgendwann sagt Pein mit einem Seufzer: "So viel Streit dafür, dass der Weihnachtsbaum später Ruhe und Frieden verbreiten soll."
Man weiß nie, wer von der Mafia bezahlt wird
Bevor er mit Pein zurück nach Tbilissi fährt, besucht Moser den Provinzgouverneur. Vielleicht kann er helfen, das Chaos im Wald einzudämmen. In Ambrolauri, der regionalen Hauptstadt, leben 2.400 Einwohner, acht von zehn Erwerbsfähigen hier haben keinen festen Job. Im Rathaus – außer der Polizeistation das einzige Gebäude im Ort, das nicht aussieht, als könne es jeden Augenblick einstürzen – sitzt der Gouverneur hinter einem dunklen Konferenztisch und schaut Moser an. In seinem Gesicht regt sich nichts. Im Regal stehen Spirituosen.
"Sie möchten etwas für die Bevölkerung tun?", fragt der Gouverneur. "Gute Idee! Uns fehlt es an allem. Wenn Sie eine Straße bauen oder eine Schule sanieren, helfen wir gerne." Für Moser läuft das Gespräch in die falsche Richtung. Das liegt an Momzemlidse. Er hatte das Treffen vereinbart und Moser anvertraut: "Für einen Termin beim Gouverneur braucht man einen guten Grund. Ich habe gesagt, ihr wollt euch sozial engagieren."
"Wir überlegen uns das", sagt Moser zum Gouverneur. "Aber Sie müssen sich zuerst darum kümmern, dass nicht weiter illegal Saatgut geerntet wird. Das ruiniert uns das Geschäft."
"Ein großes Problem!", stimmt der Gouverneur zu, wirkt aber nicht besonders besorgt. Die Dolmetscherin hatte Moser empfohlen, keine Visitenkarte herauszugeben. Er solle sagen, er habe sie vergessen. Man wisse nie, wer alles von der Mafia bezahlt werde.
Moser und Pein reden wenig auf dem Rückflug nach Europa. Moser blättert im Nadel-Journal, dem Branchenmagazin. Pein liest in einem Buch namens Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte, eine Empfehlung seiner Yogalehrerin.
Anfang September, Moser und Pein sind seit zehn Tagen aus Georgien zurück, findet im sauerländischen Eslohe die Internationale Weihnachtsbaumbörse statt. Im Sauerland liegt das größte zusammenhängende Weihnachtsbaum-Anbaugebiet Europas, 11.000 Hektar groß. Hier werden aus Samen Bäume, wachsen Tannen und Profit. Als der Orkan Kyrill 2007 ganze Wälder fällte, nutzten die Baumproduzenten die Gelegenheit, um auf noch mehr Flächen kleine Nordmanntannen anzupflanzen.
Die Branche trifft sich in einer Schützenhalle außerhalb des Ortes. Hier hält am Wochenende nicht einmal ein Bus. 1.500 Besucher reisen an, aus Bayern, dem Schwarzwald, auch aus Dänemark, Besitzer von Baumschulen, Samenhändler, Weihnachtsbaumverkäufer. Maschinenbauer kommen mit Anhängern, auf die riesige Apparate zum Düngen, Fällen oder Verpacken von Weihnachtsbäumen geschnallt sind. Schweres Gerät, fast wie für einen Krieg. Es regnet. In der Halle gibt es belegte Brote.
Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Weihnachtsbaumerzeuger hält eine Begrüßungsrede. "450 Millionen Euro stehen nicht für irgendwas, sondern für den Umsatz im Weihnachtsbaumgeschäft", ruft er. "450 Millionen Euro stehen auch für Arbeitsplatzsicherheit. Das verstehen die da oben in der Politik langsam. Trotzdem bekommen wir Weihnachtsbaumproduzenten keine Subventionen wie andere Landwirte, wir kämpfen auf dem freien Markt."
Moser nickt zustimmend. Um ihn herum sitzen Männer in Gummistiefeln, karierten Hemden und bunten Funktionsjacken. Männer, die wenig Worte machen. Man braucht gute Nerven, wenn es im November regnet, stürmt und schneit, die Maschinen im Matsch versinken oder einfrieren und 80 Millionen Deutsche trotzdem erwarten, dass der Baum pünktlich zu den Feiertagen in ihrem Wohnzimmer steht.
Moser tritt in den Regen hinaus. Er sieht den Messestand von Levinsen & Abies, dem Konkurrenten aus Dänemark, auf dessen Unterhändler Mosers Chefpflücker Momzemlidse im vergangenen Jahr wütend einschlug. Einer der Geschäftsführer sitzt unter dem Dach des Stands.
"Und, wie läuft es bei euch dieses Jahr?", fragt Moser. Er schildert das Problem mit dem illegalen Saatgut. "Es wäre schön, wenn ihr da auch mal was unternehmen würdet", sagt Moser.
Der Däne reagiert kaum. "Ja, das ist schon ein Problem", sagt er dann. Die Schlägerei erwähnen beide mit keinem Wort. Was in Georgien passiert, bleibt in Georgien.
Mit dem Herbst kommt der Regen nach Ambrolauri. Im Haus des Chefpflückers Momzemlidse stapeln sich Etiketten, die bald auf prall gefüllten Säcken kleben sollen. Vor ein paar Tagen holten die Männer einen Zapfen vom Baum und pressten ihn mit den Händen zusammen. Es tropfte Harz heraus, für die Ernte ist es noch zu früh. Ab und zu ruft Moser an, dieser gewissenhafte Deutsche, und sagt, die Georgier sollten sich gedulden. Von Tag zu Tag würden die Samen besser. Also liegt Gia Momzemlidse im Wohnzimmer auf dem Sofa und schläft.
Auch sein Nachbar, 20 Jahre alt, wartet und spielt mit einem Cousin Backgammon. Jeden Herbst kommt er für die Zapfenernte hinauf in die Berge, um für Momzemlidse auf die Bäume zu klettern. Das übrige Jahr schuftet er in einer Kohlenmine. "Lieber würde ich das ganze Jahr über Zapfen pflücken", sagt er. Aber die Erntezeit dauert nur zwei Wochen. Seine Frau trägt ein Baby auf dem Arm. Die Hälfte der 60 Familien im Dorf haben Zapfenpflücker im Haus. In den umliegenden Dörfern ist es dasselbe. Alle sitzen und warten und belauern den Nachbarn.
Wer zu früh pflückt, kommt mit unreifen Zapfen nach Hause. Aber wer zu spät in die Bäume steigt, verdient womöglich gar nichts – sogar in einem guten Jahr wie diesem. Weil dann schon die Schwarzpflücker in den Wäldern waren und ihre Beute illegal, am Zoll vorbei, nach Europa verkauft haben.
Die Manager von Fair Trees schätzen, dass mittlerweile 70 bis 90 Prozent der Nordmannsamen, die in den Westen kommen, illegal geerntet sind. Dass diese Hehlerware, zu früh gepflückt und schlecht gelagert, manchmal nichts taugt, wird in den Baumschulen erst ein paar Jahre später deutlich. Bis aus einem weit gereisten Samen ein Weihnachtsbaum wird, vergehen etwa acht Jahre.
Hinter Momzemlidses Haus stehen sieben Pflücker mit verschränkten Armen. Momzemlidse hat sie zusammengerufen. "Die Tannenzapfen sind für uns Milch, Honig und Brot", sagt er. "Besser wäre natürlich, wenn direkt das Geld oben hinge." Die Männer lachen. Auf Anweisung der Deutschen soll Momzemlidse ihnen zeigen, wie man einen Klettergurt anzieht. Moser und Pein haben auch Öljacken und Gummihosen geschickt, Schutzkleidung. "Wenn die gut ist, ziehe ich die auch sonst an", sagt einer.
Die Winter sind hart in Georgiens Bergen, die Temperaturen fallen weit unter null, die Brunnen frieren zu. Mit dem Schnee kommen Bären und Wölfe in die Dörfer, auf der Suche nach Nahrung.
Die meisten Menschen gehen dann ins Tal hinunter, in die Städte. Sie erzählen sich wilde Geschichten von Betrug, Verrat und unermesslichem Reichtum. In ihren Wäldern wachsen die Verschwörungstheorien mittlerweile schneller als die Bäume.
Ein reicher Jude, heißt es, habe 25 Dollar pro Kilo Zapfen bezahlt, bis er auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sei. Und der russische Präsident Putin höchstpersönlich besitze einen Wald mit Nordmanntannen nördlich des Schwarzen Meeres.
Trotz der Gerüchte wissen viele Männer nach wie vor nicht, was mit den Zapfen geschieht, für die sie in die Bäume klettern. Daraus werde in einem fernen Land Parfüm hergestellt, vermuten manche. Von deutschen Weihnachtsbaumplantagen haben sie nie gehört. Weihnachtsbäume kauft in Georgien niemand, abgesehen von ein paar Reichen in Tbilissi.
Auch die Pflücker von Fair Trees warten, auf 1.800 Meter Höhe, mitten im Wald. Seit drei Tagen und zwei Nächten hoffen sie, dass der Regen aufhört. Er macht die Stämme glitschig und das Klettern noch gefährlicher. Die Chefs haben verboten, bei Regen zu klettern. Sie haben auch verboten, ohne Sicherheitsausrüstung in die Bäume zu steigen.
Schweigend hocken die Männer um ein kleines Feuer und rauchen. Ab und zu verschwindet einer mit der Axt im Wald und kommt mit ein paar feuchten Holzscheiten zurück. Mit einer Plastikplane und Ästen haben sie ein Dach über ihrer Schlafstätte gebaut, dort liegen Schlafsäcke und zwei Gewehre.
Bio, öko, fair gepflückt – der Regen von Ambrolauri verwäscht alle Labels. Mosers und Peins Pflücker unten im Dorf haben zwar keine Helme, warten aber im Warmen. Die Erntehelfer der sozial engagierten Dänen sind ausgerüstet wie Bergsteiger, hausen aber im Wald wie in einem Slum. Dafür gewährt Fair Trees den Kindern der Pflücker kostenlose Arztbesuche.
Er springt ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne
Weiter unten ruckelt ein grauer Pick-up durch den Wald. Das hier ist offiziell das Erntegebiet der Dänen von Levinsen & Abies. Der Wald von Moser und Pein ist nicht weit. Drei kräftige Männer mit grimmigem Blick, dunklen Bärten und verdreckter Arbeitskleidung springen aus dem Auto. Dann ein dünner Junge, keine zwanzig Jahre alt. Es sind Schwarzpflücker.
Die vier Männer stammen aus dem Nachbardorf. Der Wald ist ihnen vertraut, sie sind hier aufgewachsen. Dieses Jahr soll der Schwarzmarktpreis hoch sein, haben sie gehört, zwei Lari pro Kilo Zapfen, umgerechnet 85 Cent. Sonst gab es manchmal nur 20 Cent.
In einer guten Baumkrone hängen bis zu 100 Kilo. Zwei Baumkronen bringen dieses Jahr also rund 170 Euro, das entspricht fast dem monatlichen Durchschnittseinkommen in Georgien.
Der Jüngste zieht sich eine harzverschmierte Wollmütze mit Augenschlitz über den Kopf, wie ein Bankräuber steht er im Wald. Er streift sich rote Handschuhe über und geht mit hochgezogenen Schultern und federndem Gang auf eine schmale Tanne zu. Seit er acht Jahre alt ist, steigt er in die Bäume.
Wie eine Katze zieht er sich am ersten Ast hoch, greift nach dem nächsten, immer dicht am Stamm. Er klettert schnell und still, immer höher, die Äste sind jetzt dünner als seine Handgelenke. Je höher er klettert, desto mehr schwankt der Baum.
Dann steht er oben in der Krone, die Baumspitze dicht neben seinem Gesicht. Mit einer Hand hält er sich am obersten Ast fest, der dünn ist wie ein Finger, dafür voll buschiger Nadeln. Mit der anderen Hand bricht er die Zapfen ab und wirft sie herunter. Durch die Äste rauschen sie bis auf den Waldboden.
Als keine Zapfen mehr in der Krone hängen, beugt er sich mit dem Oberkörper nach hinten wie ein Weitspringer beim Anlauf, schnellt dann nach vorne, sodass der Baum zu schwanken beginnt. Ein paar Mal schwingt er hin und her, dann springt er ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne. So hat er sich einen Ab- und einen Aufstieg gespart.
Unten lehnt der Anführer der Gruppe an einem Baum. Sein Name sei Bekia Kemoklidse, sagt er. Er hat tiefe Augenringe, seine Lippe ist aufgeplatzt. "Manche von uns können zwölf Baumkronen hintereinander abernten", sagt Kemoklidse, "ohne den Boden zu berühren."
Einer seiner Komplizen sammelt die Zapfen auf. "Früher ist auch er in die Tannen gestiegen", sagt Kemoklidse, "aber vor fünf Jahren hatte er einen Unfall." Er war den Stamm bis zur Hälfte hochgeklettert, da brach ein Ast. Ein gebrochener Arm, gebrochene Rippen, die sich in die Lunge bohrten. Wäre er von oben abgestürzt, wäre er jetzt tot.
Fast jedes Jahr stirbt ein Pflücker. Viele verletzen sich. "Ich würde trotzdem keinen Klettergurt anlegen", sagt Kemoklidse. "Wenn man 30 Meter hoch- und 30 Meter runtersteigt, und das mehr als zehnmal am Tag, zählt jedes Gramm. Und wenn der Ast bricht, an dem das Seil hängt, schützt auch ein Gurt nicht."
Zapfen fallen auf den Waldboden. Der Junge hat auch den zweiten Baum abgeerntet. Er hangelt sich von Ast zu Ast hinunter, nicht am Stamm entlang, sondern außen an den Zweigen, das geht schneller. Er rutscht ein Stück auf einem Zweig, greift nach dem nächstunteren, rutscht weiter, bis er unten auf dem Boden steht, heftig atmend.
Es dämmert. Die vier Männer machen ein Feuer, holen Wein in Plastikflaschen aus dem Auto, Wurst, Brot, Thunfisch aus der Dose. Sie stellen die Konserven an die Flamme, spießen Käse auf Holzspieße. Kemoklidse hebt das Glas. "Auf alle Menschen, egal, aus welchem Land sie kommen. Auf unsere Kinder, denn Kinder bedeuten Fortschritt." Die Männer stehen in der Dunkelheit, unbeeindruckt vom Regen, der ihre Pullover und Anoraks durchnässt.
Von dem System der Erntelizenzen haben die Schwarzpflücker gehört. Es stört sie nicht, dass Männer wie Moser und Pein sie Zapfendiebe nennen. "Mein Großvater, mein Urgroßvater und sein Vater haben diese Bäume gepflegt", sagt Kemoklidse. Als Kinder haben sie in diesem Wald gespielt, warum sollten sie keine Zapfen pflücken? "Der Wald gehört den Menschen, die hier leben", sagt Kemoklidse.
Es ist dunkel geworden. Vom Tal steigt Gebrumm herauf. Voll beladene Pick-ups rollen auf die Dörfer zu. Wer nicht direkt für eine Saatgutfirma arbeitet, wie die von Moser und Pein, muss seine Zapfen schnell anderswo loswerden. In den Gärten der umliegenden Weiler stapeln sich Säcke auf Holzgestellen, hinter vorgehaltener Hand werden Namen von Schleusern und Zwischenhändlern gezischelt.
Nur noch ein paar Wochen bis Weihnachten, in den deutschen Supermärkten liegen längst Lichterketten und Lametta. In den Wäldern von Ambrolauri ist vom Fest der Liebe nichts zu spüren: Der dänische Chef der Firma Levinsen & Abies wird von seinen eigenen Pflückern verprügelt, weil er nicht den Preis zahlen will, den sie ihm mit einem Streik abgerungen haben. Ein gutes Jahr ist manchmal schlecht – plötzlich sind da mehr Samen, als sich verkaufen lassen.
Auch Moser und Pein scheinen zu pokern: Sie richten Momzemlidse aus, mit der Ernte weiter zu warten. Es ist nicht mehr klar, ob es den Deutschen um die Reife der Zapfen geht. Oder ob sie auf fallende Preise spekulieren. Oder einfach nur ratlos sind.
Eines Nachts steigt Momzemlidse in seinen Jeep. Der Nebel liegt über dem Weihnachtsbaumwald wie in einem alten kaukasischen Märchen. Moser und Pein haben noch immer kein Signal zur Ernte gegeben. Die Scheinwerfer von Momzemlidses Wagen schneiden einen gelben Kegel in die Dunkelheit. Im Labyrinth der Bäume sieht er ein paar Gestalten. Sie füllen Tannenzapfen in große Säcke.
Das hier ist der Waldabschnitt der PlusBaum Samen GmbH. Aber es sind nicht Momzemlidses Pflücker.
Momzemlidse stößt einen Fluch aus.
PHOTOGRAPHY: PROMISING WATERS. By Mila Teshaieva - Reportage from the Caspian Sea (artbooksheidelberg.com)
(artbooksheidelberg.com) »Everything is great on the Caspian Sea: the expectations for future
oil and gas revenues, ambitious development projects, promises and
hopes. Everything is uncertain on the Caspian Sea: the fate of the
environment and the direction of its people; even the status of these
promising waters is as yet undefined…« Christoph Moeskes
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Seit über vier Jahren dokumentiert die Fotografin Mila Teshaieva den Wandel in den drei am Ufer des Kaspischen Meers gelegenen ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan. Der Kampf um die enormen Erdöl- und Gasvorkommen und die Suche nach einer eigenen staatlichen Identität bringen tiefgreifende Veränderungen für die Bevölkerung, Umwelt und die allgemeinen Werte der Gesellschaft mit sich. Mit ihren Bildern spürt Mila Teshaieva einer Atmosphäre der Unsicherheit nach, den Hoffnungen und den Erwartungen an einen Wandel, deren Richtung indessen ungewiss bleibt. Ihre Fotoserie hinterlässt beim Betrachter offene Fragen über die Verbindungen zwischen Staat und privater Identität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie der Grenze von Aufstieg und Fall einer Region.
Mila Teshaieva (* 1974 in der Ukraine) lebt in Berlin. Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix de la Photographie Paris, dem Humanistic Prize der Phodar Biennale, dem NPPA Best of Photojournalism, sowie dem PDN Photo Annual 2013, und wurde mehrfach in Galerien und auf Festivals in ganz Europa gezeigt. Mila Teshaieva ist Gewinnerin des Photolucida Critical Mass Book Award 2012, der das Erscheinen dieses Fotobands ermöglicht.
Autoren: Christoph Moeskes, Maya Iskenderova, Mila Teshaieva
Künstler: Mila Teshaieva
www.milateshaieva.com
AmazonShop: Books, Maps, Videos, Music & Gifts About The Caucasus
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Seit über vier Jahren dokumentiert die Fotografin Mila Teshaieva den Wandel in den drei am Ufer des Kaspischen Meers gelegenen ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan. Der Kampf um die enormen Erdöl- und Gasvorkommen und die Suche nach einer eigenen staatlichen Identität bringen tiefgreifende Veränderungen für die Bevölkerung, Umwelt und die allgemeinen Werte der Gesellschaft mit sich. Mit ihren Bildern spürt Mila Teshaieva einer Atmosphäre der Unsicherheit nach, den Hoffnungen und den Erwartungen an einen Wandel, deren Richtung indessen ungewiss bleibt. Ihre Fotoserie hinterlässt beim Betrachter offene Fragen über die Verbindungen zwischen Staat und privater Identität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie der Grenze von Aufstieg und Fall einer Region.
Mila Teshaieva (* 1974 in der Ukraine) lebt in Berlin. Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix de la Photographie Paris, dem Humanistic Prize der Phodar Biennale, dem NPPA Best of Photojournalism, sowie dem PDN Photo Annual 2013, und wurde mehrfach in Galerien und auf Festivals in ganz Europa gezeigt. Mila Teshaieva ist Gewinnerin des Photolucida Critical Mass Book Award 2012, der das Erscheinen dieses Fotobands ermöglicht.
Autoren: Christoph Moeskes, Maya Iskenderova, Mila Teshaieva
Künstler: Mila Teshaieva
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Gestaltet von Ania Nałecka
Festeinband
24 x 22 cm, 120 Seiten, 52 Farbabb.
Englisch
Lieferbar
ISBN 978-3-86828-421-8
Euro 39,90
2013
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24 x 22 cm, 120 Seiten, 52 Farbabb.
Englisch
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2013
Collector’s Edition mit 2 Prints in handgefertigter Box, 3 Sets
zur Auswahl, Blattformat ca. 22 x 30 cm, in einer Auflage von 75
Exemplaren, Euro 175,–
Ausgezeichnet mit dem Prädikat "Deutscher Fotobuchpreis - Nominiert 2014"
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Sunday, December 22, 2013
VIDEO: Das Ende einer Odysee - Der georgische Pianist Rudolf Kehrer (youtube.com)
(youtube.com) Kompletter Film (28 Min.) auf Docufilms Das Ende einer Odyssee - Der Pianist Rudolf Kehrer [docufilms.com]
Achtzehn Jahre alt war Rudolf Kehrer, die größte Pianistenhoffnung Georgiens, als er im Oktober 1941 aus seiner Geburtsstadt Tiflis in Georgien nach Südkasachstan in die ehemalige UDSSR deportiert wurde. In der fensterlosen Hütte des kasachischen Dorfes begann seine Verbannung, die dreizehn Jahre dauerte. Dreizehn Jahre 'spielte' Rudolf Kehrer Klavier auf einem Tisch mit selbstgezeichneter Tastatur. Erst nach Stalins Tod durfte er den Verbannungsort verlassen. Sein unbeugsamer Wille und die Liebe zur Musik wurden belohnt: Rudolf Kehrer machte eine große Pianistenkarriere.
(magazin.klassik.com) Späte Bekanntheit im Westen aufgrund Ausreiseverbots
Rudolf Kehrer wurde als Sohn deutschstämmiger Eltern am 10. Juli 1923 in Tiflis (Georgien) geboren. Der Vater, Richard Kehrer, war Klavierbauer und Klavierstimmer, der die kleine, von seinem Vater Hermann Kehrer aufgebaute Werkstatt übernommen hatte. Die Klavierausbildung begann im Alter von 6 Jahren. Im Alter von 11 Jahren wurde er in eine Gruppe talentierter Jugendlicher aufgenommen, die auf Beschluss des Ministeriums für Kultur ausgebildet wurden, Kehrer studierte bis zu seinem 18. Lebensjahr bei Professorin Anna Tulaschwili.
Seine Familie wurde nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Oktober 1941 nach Kasachstan deportiert. Dort musste Kehrer auf einer Baumwollplantage harte Arbeit verrichten und konnte nicht mehr dem Klavierspielen nachgehen. Er zeichnete sich die Tasten eines Klaviers auf ein Brett und übte damit über 13 Jahre lang ohne "echte" Musik. Als sich die restriktiven Bestimmungen der Sowjetregierung lockerten, begann er 1954 im Alter von 31 Jahren in Taschkent (Usbekistan) ein Klavierstudium. 1957 schloss er sein Studium mit Auszeichnung ab und erhielt gleichzeitig eine Berufung auf einen Lehrstuhl des Taschkenter Konservatoriums.
1961 durfte er trotz seines fortgeschrittenen Alters Dank einer Sondergenehmigung am 2. All-Unionswettbewerb in Moskau teilnehmen. Diesen hatten zuvor 1945 Svjatoslav Richter und Viktor Merzhanov gewonnen. Kehrer gewann mit der höchstmöglichen Punktzahl und erhielt sofort eine Berufung als Professor an das Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Gleichzeitig wurde er Solopianist an der Moskauer Philharmonie.
Erst Ende der 80er Jahre erhielt Kehrer die Erlaubnis, in das westliche Ausland zu reisen, 1990 wurde er als Gastprofessur an die Wiener Musikhochschule berufen. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und war Jurymitglied vieler renommierter Klavierwettbewerbe.
Weitere Infos zu der Biografie finden Sie auf hier [wikiperdia.org] >>>
(rudolf-kehrer.info) Schwere Schicksalsjahre bis zum Erfolg ...
Skizzen aus dem Leben des Pianisten Rudolf Kehrer
Kindheit und Jugend
Rudolf Kehrer wurde als Sohn deutschstämmiger Eltern am 10. Juli 1923 in Tiflis, Georgien, geboren. Seine Vorfahren waren um 1816/17 aus Württemberg nach Georgien ausgesiedelt. In dieser Zeit siedelten sich viele deutsche Familien in der Ukraine und in der Kaukasusländem Georgien, Aserbaidschan und Armenien an.
Rudolf Kehrer wuchs in einer deutschen Gemeinde auf, in der neben einer evangelischen Kirche und einer deutschsprachigen Schule auch ein Krankenhaus existierte, an dem deutsche Ärzte tätig waren. Die deutschen Familien pflegten deutsches Brauchtum und ihre Traditionen. Dazu gehörte auch ein reges Konzertleben.
Neben Moskau, Leningrad, Odessa und Kiew haben alle bekannten Künstler, die in der UdSSR konzertierten, auch in Tiflis Konzerte gegeben. Berühmte Künstler wie z.B. Oistrach, Kogan und Richter stammten aus der Ukraine, Bashkirov, Wlassenko und Wirssaladze sogar aus Tiflis. Tiflis war also ein wichtiges Zentrum sowjetischen Musiklebens.
Der Vater, Richard Kehrer, war Klavierbauer und Klavierstimmer, der die kleine, von seinem Vater Hermann Kehrer aufgebaute Werkstatt übernommen hatte. In diesen geordneten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen wuchs Rudolf Kehrer zusammen mit seinem Bruder auf. In Tiflis lebte auch die Verwandtschaft der Familie.
Erste Schritte
Nachdem sein Vater ihn schon an den Umgang mit dem Klavier herangeführt hatte, begann die gezielte Klavierausbildung für Rudolf Kehrer im Alter von 6 Jahren. Seine erste Lehrerin war die Deutsche Erna Krause, die nach einer Ausbildung in Deutschland in Tiflis eine Privatschule eröffnet hatte. Der Klavierklasse gehörte er rund 6 Jahre an. Diese, so Rudolf Kehrer, sei im Vergleich mit zu seiner zweiten Lehrerin, Anna Tulaschwili, zwar nicht so erfahren gewesen, alle Schüler hätten aber eine gute technische Basis erhalten.
Durch die Tätigkeit des Vaters, der als Klavierstimmer die Klaviere in den Konzertsälen auch während der Klavierabende betreute, hatte Rudolf Kehrer seit frühester Jugend Gelegenheit, das Repertoire aller auftretenden Pianisten kennenzulernen.
Im Alter von 11 Jahren wurde er in eine der Gruppen von talentierten Jugendlichen aufgenommen, die auf Beschluss des Ministeriums für Kultur gebildet wurden, um ihnen eine Weiterbildung an der Hochschule zu ermöglichen.
Unter der Anleitung von der Professorin Anna Tulaschwili studierte Rudolf Kehrer bis zu seinem 18. Lebensjahr.
Im Alter von 12 Jahren spielte Rudolf Kehrer bereits Chopin‑Etüden, und anläßlich eines Konzerts des berühmten Pianisten Egon Petri in Tiflis hatte er Gelegenheit, diesem die Revolutionsetüde c‑moll von Chopin vorzuspielen. Zwei Jahre später spielte er schon fast alle Etüden von Chopin.
Zeit der Verfolgung und Vertreibung
Nachdem die Deutschen lange Zeit unbehelligt in ihren Gebieten gelebt hatten, richteten sich in den 30er Jahren unter dem Einfluß von Stalin mehr und mehr staatliche Ünterdrückungsmaßnahmen gegen die Minderheiten in der UdSSR.
Bereits 1934 wurden alle Deutschen in der UdSSR heimlich in Listen erfaßt, die später die Grundlage für die erfolgten Verhaftungen und die Deportationen bildeten.
Die sogenannten "Russifizierungsmaßnahmen” führten dazu, dass die kulturellen Einrichtungen der Minderheiten geschlossen wurden. und die russische Sprache zur alleinigen Amtssprache erhoben wurde.
So konnte Rudolf Kehrer die deutsche Schule nur bis zum Abschluss der 4. Klasse besuchen, den Schulabschluss absolvierte er auf einer russischen Schule.
Nachdem die Rechte der Deutschen immer weiter eingeschränkt worden waren, wurden im November 1938 die deutschen Rayons (= Gebiete, in denen eine deutsche Verwaltung existierte) im Altai-Gebiet aufgelöst, Ende März 1939 folgte die Auflösung sämtlicher deutscher Rayons in der Ukraine.
1937/38 wurden die ersten Verhaftungen in großem Umfang durchgeführt, von denen insbesondere Deutsche, Juden und russische Intellektuelle betroffen waren. Zwei Onkel von Rudolf Kehrer wurden 1938 verhaftet. Von ihrem weiteren Schicksal ist nichts bekannt geworden. Vermutlich wurden beide umgebracht. Der Vater wurde 1939 unter dem Vorwurf der Spionage für Deutschland verhaftet. Er verstarb 1943 im Internierungslager. Seine Frau erhielt nur eine kurze Mitteilung, daß ihr Ehemann verstorben sei ‑ ohne Hinweis auf den Ort und die Umstände.
Mit Ausbruch des deutsch‑sowjetischen Krieges am 22.6.1941 wurde die Situation für die Deutschen immer dramatischer. In den Monaten Juli bis Oktober 1941 wurden rund 100.000 Deutsche nach Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan deportiert.
Im August 1941 wurden die deutschen Gebiete von Kampf‑ und Sondereinheiten der Armee und des NKVD (= Einheiten des Innenministeriums, Vorgänger des KGB) besetzt und die Verbindungen zu anderen Landesteilen unterbrochen.
Mit Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28.8.1941 "Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen", in dem der Bevölkerung pauschal die Kollaboration mit Deutschland und die Vorbereitung von Anschlägen vorgeworfen wurde, wurde eine umfassende Umsiedlung der Deutschen in die asiatischen Gebiete der Sowjetunion eingeleitet.
Anfang September wurden etwa 400.000 Wolgadeutsche, rund 80.000 Deutsche aus dem übrigen europäischen Teil der UdSSR und rund 25.000 Personen aus Georgien und Aserbaidschan nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Zwischen 1942 und 1944 folgten ihnen weitere 50.000 Deutsche aus dem Gebiet Leningrad und aus kleineren deutschen Siedlungsgebieten.
Am 18. Oktober 1941 wurde auch Rudolf Kehrer zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder und zwei Tanten deportiert. In Lastkraftwagen und Viehtransportwaggons der Bahn wurden sie bis Baku am Kaspischen Meer transportiert. Nach einer stürmischen Überfahrt erfolgte der Weitertransport bis nach Kasachstan. Rund 70 Kilometer vor Taschkent, der heutigen Hauptstadt Usbekistans, hielt der Zug mitten in der Wüste an. Die Soldaten, die den Transport begleiteten, ließen alle in dieser Einöde aussteigen. Nach einer langen Wartezeit wurden die Betroffenen von Einheimischen auf Ochsen‑ und Pferdegespannen abgeholt und auf verschiedene kleine Dörfer verteilt.
Unter Kommandanturüberwachung
Die Deutschen durften die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte unter Androhung schwerer Strafe nicht oder nur mit Erlaubnis des Ortskommandanten verlassen. Durch diese Maßnahme wurde jede Initiative unterdrückt.
Erst 1956 wurde die Beschränkung der Freizügigkeit wieder aufgehoben. Das bedeutete aber nicht, dass die Deutschen in die Gebiete, aus denen sie deportiert worden waren, zurückkehren durften. Das ist ihnen bis in die 80er Jahre verwehrt gewesen.
Die Familie Kehrer kam in das Dorf Slawjanka im südkasachischen Bezirk Pachta‑Aralski Rayon. Ab 1946 lebten sie auf der Sowchose (landwirtschaftlicher Kollektivbetrieb) "PachtaAral", was auf Deutsch "ein Meer von Baumwolle" bedeutet.
Die Unterbringung und die Versorgungslage waren äußerst schlecht. Die Unterkünfte bestanden aus kahlen Lehmwänden, ohne Fenster, mit einer Schilfrohrdecke und einem Boden aus gestampftem Lehm. Hauptnahrungsmittel in den ersten Monaten war Mais und ab und zu eine Schildkröte.
Viele litten auch unter den extremen klimatischen Bedingungen, sehr kalte Winter und im Sommer Wüsten-klima mit bis zu 40 Grad Celsius Hitze.
Die Deutschen wurden zu den verschiedensten Arbeiten gezwungen; Rudolf Kehrer hatte harte Arbeit auf den Baumwollplantagen zu verrichten.
In der Arbeitsarmee
Ab Oktober 1941 wurden alle arbeitsfähigen Männer aus den Verbannungsorten zur sogenannten Arbeitsarmee ("Trud‑Armee") eingezogen, ab 1942 auch kinderlose Frauen und später auch Frauen, die keine Säuglinge hatten. Insgesamt wird die Zahl der Deutschen in der Trud‑Armee auf 100.000 Personen geschätzt.
Die Trupps der Arbeitsarmee wurden zum Bau von Industrieanlagen, Bahnlinien, Straßen und Kanälen eingesetzt. Wegen der extremen Arbeitsbelastung und der schlechten Versorgung starben viele an Entkräftung oder sie wurden wegen der kleinsten "Verfehlung" einfach erschossen.
Rudolf Kehrer sollte ebenfalls eingezogen werden. Nachdem er zunächst wegen einer schweren Krankheit freigestellt worden war, wurde er im Rahmen der letzten Mobilisierung eingezogen. Er saß bereits in dem abfahrbereiten Zug, als eine Bekannte, ihn vom Bahnsteig aus entdeckte, ihn wieder aussteigen ließ und es aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Polizei erreichte, dass Rudolf Kehrer nicht mehr zur Arbeitsarmee eingezogen wurde.
13 Jahre ohne Klavier
In den folgenden Jahren begann Rudolf Kehrer in den ersten Klassen der Schule Mathematikunterricht zu erteilen, ohne dass er eine Lehrerausbildung absolviert hatte. Weil er diese Tätigkeit mit Erfolg ausübte, wurde er schließlich zum Fernstudium zugelassen.
Das Lehrerdiplom wurde ihm verliehen, nachdem er die Prüfungen mit gutem Erfolg abgelegt hatte.
Diesen Berufsweg des Lehrers hatte Rudolf Kehrer eingeschlagen, weil er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, eine Karriere als Musiker durchlaufen zu können.
In dieser Zeit konnte Rudolf Kehrer weder Musik hören noch spielen. Rundfunkempfänger standen den Deutschen nicht zur Verfügung. Um vom geliebten Klavierspiel wenigstens etwas zu erahnen, zeichnete er die Klaviatur auf ein Brett, bewegte die Finger und ließ die Musik in seinem Kopf erklingen.
Dieser Zustand dauerte 13 Jahre!
Ein neuer Anfang
1954 wurde die Beschränkung der Freizügigkeit teilweise aufgehoben. Erst jetzt stand der Weg offen, in größeren Städten eine weitere Ausbildung in Angriff zu nehmen oder sich eine neue Beschäftigung zu suchen.
Rudolf Kehrer war bereits 31 Jahre alt, als im Familienrat ihm zugeredet wurde, er solle doch noch eine Ausbildung zum Musiker anstreben. Dem Wunschgedanken, dies zu tun, stand der Zweifel gegenüber, ob dies überhaupt noch realisierbar sei.
Rudolf Kehrer meldete sich zur Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Taschkent an, die er nach einmonatiger Vorbereitung mit Erfolg ablegte. Er wurde gleich in das dritte von fünf Studienjahren eingestuft.
Während dieser Studienzeit arbeitete Rudolf Kehrer sehr hart, zum Teil sieben bis acht Stunden am Tag. Der Erfolg dieser Anstrengungen war herausragend: nach Abschluss der Prüfung bot man ihm gleich einen Lehrstuhl am Konservatorium an, was allgemein ganz unüblich war.
Der entscheidende Durchbruch
Rudolf Kehrer hätte sicherlich sein ganzes Leben lang an der Hochschule in Taschkent gearbeitet, wenn nicht 1961 der 2. All‑Unionswettbewerb der Sowjetunion stattgefunden hätte, an dem er teilnahm. Der ersten Wettbewerb 1945 hatten Svjatoslav Richter und Viktor Merzhanov gewonnen.
Rudolf Kehrer wurde trotz der Überschreitung der Altersgrenze zum Wettbewerb zugelassen. Der Erfolg war weitaus größer als erwartet. Er gewann den Wettbewerb mit der maximalen Punktzahl 50 von 50 möglichen Punkten. In der Begründung der Jury heißt es u.a.: "Er ist ein Phänomen im Musikleben der Somjetunion, ein großes reifes Talent von origineller Individualität, ausgestattet mit den besten Qualitäten pianistischen Könnens..."
Rudolf Kehrer erhielt sofort eine Berufung als Professor an das Tschaikowski-Konservatorium in Moskau, die bedeutenste Musikhochschule der damaligen Sowjetunion. Gleichzeitig wurde er Solopianist an der Moskauer Philharmonie.
Auftritte nur im Ostblock
Bei allen Erfolgen blieb es aber Rudolf Kehrer - anders als anderen Künstlern wie z.B. Richter und Gilels ‑ lange versagt, im westlichen Ausland aufzutreten. Er musste seine Tätigkeit auf osteuropäische Staaten einschließlich der ehemaligen DDR beschränken. In Paris waren die Plakate bereits gedruckt, aus den USA lagen Einladungen vor, aber Rudolf Kehrer bekam ohne Angabe von Gründen keine Reiseerlaubnis. Die Tatsache, dass seinen Unterlagen zu entnehmen war, dass Vater und Onkel in Stalin'schen Straflagern gestorben waren, ließ die sowjetischen Behörden befürchten, dass Kehrer von einer Reise in den Westen nicht zurückkehren könnte. So wurde Rudolf Kehrer in der Bundesrepublik Deutschland nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt, die ihn entweder im Konzert oder Rundfunk hören durften oder eine seiner zahlreichen Schallplattenaufnahmen für das sowjetische Staatsuntemehmen “Melodija” erwerben konnten.
Endlich auch im Westen
Erst Ende der 80er Jahre bekam Rudolf Kehrer die Erlaubnis, in das westliche Ausland zu reisen. 1990 erhielt er – nach 29 Jahren Lehrtätigkeit am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau – eine Berufung als Gastprofessor an der Musikhochschule Wien. Diese hatte er bis 1998 inne.
Professor Rudolf Kehrer ist Träger zahlreicher Auszeichnungen. Er wirkt Mitglied der Jury vieler renommierter Klavierwettbewerbe mit und leitet internationale Meisterkurse für Klavier. Mehrere seiner Schüler wurden mit Preisen bei bei bedeutenen Klavierwettbewerben ausgezeichnet.
Inzwischen fast 80 Jahre alt hat Rudolf Kehrer im Westen viel zu spät Bekanntheit erlangt. Es ist eine traurige Erkenntnis, dass einem großen Künstler durch die Schrecken des Stalinismus eine Weltkarriere verweigert wurde …
Thomas Sandvoß, Köln 2003
mehr:
Zur Person Rudolf Kehrer [goethe.de]
Der Pianist Rudolf Kehrer ist tot [br.de]
Die ungewöhnliche Laufbahn des Pianisten Rudolf Kehrer [nmz.de]
Eine ausführliche Sammlung seiner Aufnahmen wird im Rudolf-Kehrer-Archiv in Overath aufbewahrt. (Quelle: de.cyclopaedia.net/Rudolf-Kehrer)
Achtzehn Jahre alt war Rudolf Kehrer, die größte Pianistenhoffnung Georgiens, als er im Oktober 1941 aus seiner Geburtsstadt Tiflis in Georgien nach Südkasachstan in die ehemalige UDSSR deportiert wurde. In der fensterlosen Hütte des kasachischen Dorfes begann seine Verbannung, die dreizehn Jahre dauerte. Dreizehn Jahre 'spielte' Rudolf Kehrer Klavier auf einem Tisch mit selbstgezeichneter Tastatur. Erst nach Stalins Tod durfte er den Verbannungsort verlassen. Sein unbeugsamer Wille und die Liebe zur Musik wurden belohnt: Rudolf Kehrer machte eine große Pianistenkarriere.
(magazin.klassik.com) Späte Bekanntheit im Westen aufgrund Ausreiseverbots
Pianist Rudolf Kehrer im Alter von 90 Jahren verstorben
München, 31.10.2013. Einer Meldung des öffentlich-rechtlichen Senders BR zufolge ist der Pianist Rudolf Kehrer im Alter von 90 Jahren verstorben.Rudolf Kehrer wurde als Sohn deutschstämmiger Eltern am 10. Juli 1923 in Tiflis (Georgien) geboren. Der Vater, Richard Kehrer, war Klavierbauer und Klavierstimmer, der die kleine, von seinem Vater Hermann Kehrer aufgebaute Werkstatt übernommen hatte. Die Klavierausbildung begann im Alter von 6 Jahren. Im Alter von 11 Jahren wurde er in eine Gruppe talentierter Jugendlicher aufgenommen, die auf Beschluss des Ministeriums für Kultur ausgebildet wurden, Kehrer studierte bis zu seinem 18. Lebensjahr bei Professorin Anna Tulaschwili.
Seine Familie wurde nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Oktober 1941 nach Kasachstan deportiert. Dort musste Kehrer auf einer Baumwollplantage harte Arbeit verrichten und konnte nicht mehr dem Klavierspielen nachgehen. Er zeichnete sich die Tasten eines Klaviers auf ein Brett und übte damit über 13 Jahre lang ohne "echte" Musik. Als sich die restriktiven Bestimmungen der Sowjetregierung lockerten, begann er 1954 im Alter von 31 Jahren in Taschkent (Usbekistan) ein Klavierstudium. 1957 schloss er sein Studium mit Auszeichnung ab und erhielt gleichzeitig eine Berufung auf einen Lehrstuhl des Taschkenter Konservatoriums.
1961 durfte er trotz seines fortgeschrittenen Alters Dank einer Sondergenehmigung am 2. All-Unionswettbewerb in Moskau teilnehmen. Diesen hatten zuvor 1945 Svjatoslav Richter und Viktor Merzhanov gewonnen. Kehrer gewann mit der höchstmöglichen Punktzahl und erhielt sofort eine Berufung als Professor an das Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Gleichzeitig wurde er Solopianist an der Moskauer Philharmonie.
Erst Ende der 80er Jahre erhielt Kehrer die Erlaubnis, in das westliche Ausland zu reisen, 1990 wurde er als Gastprofessur an die Wiener Musikhochschule berufen. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und war Jurymitglied vieler renommierter Klavierwettbewerbe.
Weitere Infos zu der Biografie finden Sie auf hier [wikiperdia.org] >>>
(rudolf-kehrer.info) Schwere Schicksalsjahre bis zum Erfolg ...
Skizzen aus dem Leben des Pianisten Rudolf Kehrer
Kindheit und Jugend
Rudolf Kehrer wurde als Sohn deutschstämmiger Eltern am 10. Juli 1923 in Tiflis, Georgien, geboren. Seine Vorfahren waren um 1816/17 aus Württemberg nach Georgien ausgesiedelt. In dieser Zeit siedelten sich viele deutsche Familien in der Ukraine und in der Kaukasusländem Georgien, Aserbaidschan und Armenien an.
Rudolf Kehrer wuchs in einer deutschen Gemeinde auf, in der neben einer evangelischen Kirche und einer deutschsprachigen Schule auch ein Krankenhaus existierte, an dem deutsche Ärzte tätig waren. Die deutschen Familien pflegten deutsches Brauchtum und ihre Traditionen. Dazu gehörte auch ein reges Konzertleben.
Neben Moskau, Leningrad, Odessa und Kiew haben alle bekannten Künstler, die in der UdSSR konzertierten, auch in Tiflis Konzerte gegeben. Berühmte Künstler wie z.B. Oistrach, Kogan und Richter stammten aus der Ukraine, Bashkirov, Wlassenko und Wirssaladze sogar aus Tiflis. Tiflis war also ein wichtiges Zentrum sowjetischen Musiklebens.
Der Vater, Richard Kehrer, war Klavierbauer und Klavierstimmer, der die kleine, von seinem Vater Hermann Kehrer aufgebaute Werkstatt übernommen hatte. In diesen geordneten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen wuchs Rudolf Kehrer zusammen mit seinem Bruder auf. In Tiflis lebte auch die Verwandtschaft der Familie.
Erste Schritte
Nachdem sein Vater ihn schon an den Umgang mit dem Klavier herangeführt hatte, begann die gezielte Klavierausbildung für Rudolf Kehrer im Alter von 6 Jahren. Seine erste Lehrerin war die Deutsche Erna Krause, die nach einer Ausbildung in Deutschland in Tiflis eine Privatschule eröffnet hatte. Der Klavierklasse gehörte er rund 6 Jahre an. Diese, so Rudolf Kehrer, sei im Vergleich mit zu seiner zweiten Lehrerin, Anna Tulaschwili, zwar nicht so erfahren gewesen, alle Schüler hätten aber eine gute technische Basis erhalten.
Durch die Tätigkeit des Vaters, der als Klavierstimmer die Klaviere in den Konzertsälen auch während der Klavierabende betreute, hatte Rudolf Kehrer seit frühester Jugend Gelegenheit, das Repertoire aller auftretenden Pianisten kennenzulernen.
Im Alter von 11 Jahren wurde er in eine der Gruppen von talentierten Jugendlichen aufgenommen, die auf Beschluss des Ministeriums für Kultur gebildet wurden, um ihnen eine Weiterbildung an der Hochschule zu ermöglichen.
Unter der Anleitung von der Professorin Anna Tulaschwili studierte Rudolf Kehrer bis zu seinem 18. Lebensjahr.
Im Alter von 12 Jahren spielte Rudolf Kehrer bereits Chopin‑Etüden, und anläßlich eines Konzerts des berühmten Pianisten Egon Petri in Tiflis hatte er Gelegenheit, diesem die Revolutionsetüde c‑moll von Chopin vorzuspielen. Zwei Jahre später spielte er schon fast alle Etüden von Chopin.
Zeit der Verfolgung und Vertreibung
Nachdem die Deutschen lange Zeit unbehelligt in ihren Gebieten gelebt hatten, richteten sich in den 30er Jahren unter dem Einfluß von Stalin mehr und mehr staatliche Ünterdrückungsmaßnahmen gegen die Minderheiten in der UdSSR.
Bereits 1934 wurden alle Deutschen in der UdSSR heimlich in Listen erfaßt, die später die Grundlage für die erfolgten Verhaftungen und die Deportationen bildeten.
Die sogenannten "Russifizierungsmaßnahmen” führten dazu, dass die kulturellen Einrichtungen der Minderheiten geschlossen wurden. und die russische Sprache zur alleinigen Amtssprache erhoben wurde.
So konnte Rudolf Kehrer die deutsche Schule nur bis zum Abschluss der 4. Klasse besuchen, den Schulabschluss absolvierte er auf einer russischen Schule.
Nachdem die Rechte der Deutschen immer weiter eingeschränkt worden waren, wurden im November 1938 die deutschen Rayons (= Gebiete, in denen eine deutsche Verwaltung existierte) im Altai-Gebiet aufgelöst, Ende März 1939 folgte die Auflösung sämtlicher deutscher Rayons in der Ukraine.
1937/38 wurden die ersten Verhaftungen in großem Umfang durchgeführt, von denen insbesondere Deutsche, Juden und russische Intellektuelle betroffen waren. Zwei Onkel von Rudolf Kehrer wurden 1938 verhaftet. Von ihrem weiteren Schicksal ist nichts bekannt geworden. Vermutlich wurden beide umgebracht. Der Vater wurde 1939 unter dem Vorwurf der Spionage für Deutschland verhaftet. Er verstarb 1943 im Internierungslager. Seine Frau erhielt nur eine kurze Mitteilung, daß ihr Ehemann verstorben sei ‑ ohne Hinweis auf den Ort und die Umstände.
Mit Ausbruch des deutsch‑sowjetischen Krieges am 22.6.1941 wurde die Situation für die Deutschen immer dramatischer. In den Monaten Juli bis Oktober 1941 wurden rund 100.000 Deutsche nach Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan deportiert.
Im August 1941 wurden die deutschen Gebiete von Kampf‑ und Sondereinheiten der Armee und des NKVD (= Einheiten des Innenministeriums, Vorgänger des KGB) besetzt und die Verbindungen zu anderen Landesteilen unterbrochen.
Mit Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28.8.1941 "Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen", in dem der Bevölkerung pauschal die Kollaboration mit Deutschland und die Vorbereitung von Anschlägen vorgeworfen wurde, wurde eine umfassende Umsiedlung der Deutschen in die asiatischen Gebiete der Sowjetunion eingeleitet.
Anfang September wurden etwa 400.000 Wolgadeutsche, rund 80.000 Deutsche aus dem übrigen europäischen Teil der UdSSR und rund 25.000 Personen aus Georgien und Aserbaidschan nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Zwischen 1942 und 1944 folgten ihnen weitere 50.000 Deutsche aus dem Gebiet Leningrad und aus kleineren deutschen Siedlungsgebieten.
Am 18. Oktober 1941 wurde auch Rudolf Kehrer zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder und zwei Tanten deportiert. In Lastkraftwagen und Viehtransportwaggons der Bahn wurden sie bis Baku am Kaspischen Meer transportiert. Nach einer stürmischen Überfahrt erfolgte der Weitertransport bis nach Kasachstan. Rund 70 Kilometer vor Taschkent, der heutigen Hauptstadt Usbekistans, hielt der Zug mitten in der Wüste an. Die Soldaten, die den Transport begleiteten, ließen alle in dieser Einöde aussteigen. Nach einer langen Wartezeit wurden die Betroffenen von Einheimischen auf Ochsen‑ und Pferdegespannen abgeholt und auf verschiedene kleine Dörfer verteilt.
Unter Kommandanturüberwachung
Die Deutschen durften die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte unter Androhung schwerer Strafe nicht oder nur mit Erlaubnis des Ortskommandanten verlassen. Durch diese Maßnahme wurde jede Initiative unterdrückt.
Erst 1956 wurde die Beschränkung der Freizügigkeit wieder aufgehoben. Das bedeutete aber nicht, dass die Deutschen in die Gebiete, aus denen sie deportiert worden waren, zurückkehren durften. Das ist ihnen bis in die 80er Jahre verwehrt gewesen.
Die Familie Kehrer kam in das Dorf Slawjanka im südkasachischen Bezirk Pachta‑Aralski Rayon. Ab 1946 lebten sie auf der Sowchose (landwirtschaftlicher Kollektivbetrieb) "PachtaAral", was auf Deutsch "ein Meer von Baumwolle" bedeutet.
Die Unterbringung und die Versorgungslage waren äußerst schlecht. Die Unterkünfte bestanden aus kahlen Lehmwänden, ohne Fenster, mit einer Schilfrohrdecke und einem Boden aus gestampftem Lehm. Hauptnahrungsmittel in den ersten Monaten war Mais und ab und zu eine Schildkröte.
Viele litten auch unter den extremen klimatischen Bedingungen, sehr kalte Winter und im Sommer Wüsten-klima mit bis zu 40 Grad Celsius Hitze.
Die Deutschen wurden zu den verschiedensten Arbeiten gezwungen; Rudolf Kehrer hatte harte Arbeit auf den Baumwollplantagen zu verrichten.
In der Arbeitsarmee
Ab Oktober 1941 wurden alle arbeitsfähigen Männer aus den Verbannungsorten zur sogenannten Arbeitsarmee ("Trud‑Armee") eingezogen, ab 1942 auch kinderlose Frauen und später auch Frauen, die keine Säuglinge hatten. Insgesamt wird die Zahl der Deutschen in der Trud‑Armee auf 100.000 Personen geschätzt.
Die Trupps der Arbeitsarmee wurden zum Bau von Industrieanlagen, Bahnlinien, Straßen und Kanälen eingesetzt. Wegen der extremen Arbeitsbelastung und der schlechten Versorgung starben viele an Entkräftung oder sie wurden wegen der kleinsten "Verfehlung" einfach erschossen.
Rudolf Kehrer sollte ebenfalls eingezogen werden. Nachdem er zunächst wegen einer schweren Krankheit freigestellt worden war, wurde er im Rahmen der letzten Mobilisierung eingezogen. Er saß bereits in dem abfahrbereiten Zug, als eine Bekannte, ihn vom Bahnsteig aus entdeckte, ihn wieder aussteigen ließ und es aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Polizei erreichte, dass Rudolf Kehrer nicht mehr zur Arbeitsarmee eingezogen wurde.
13 Jahre ohne Klavier
In den folgenden Jahren begann Rudolf Kehrer in den ersten Klassen der Schule Mathematikunterricht zu erteilen, ohne dass er eine Lehrerausbildung absolviert hatte. Weil er diese Tätigkeit mit Erfolg ausübte, wurde er schließlich zum Fernstudium zugelassen.
Das Lehrerdiplom wurde ihm verliehen, nachdem er die Prüfungen mit gutem Erfolg abgelegt hatte.
Diesen Berufsweg des Lehrers hatte Rudolf Kehrer eingeschlagen, weil er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, eine Karriere als Musiker durchlaufen zu können.
In dieser Zeit konnte Rudolf Kehrer weder Musik hören noch spielen. Rundfunkempfänger standen den Deutschen nicht zur Verfügung. Um vom geliebten Klavierspiel wenigstens etwas zu erahnen, zeichnete er die Klaviatur auf ein Brett, bewegte die Finger und ließ die Musik in seinem Kopf erklingen.
Dieser Zustand dauerte 13 Jahre!
Ein neuer Anfang
1954 wurde die Beschränkung der Freizügigkeit teilweise aufgehoben. Erst jetzt stand der Weg offen, in größeren Städten eine weitere Ausbildung in Angriff zu nehmen oder sich eine neue Beschäftigung zu suchen.
Rudolf Kehrer war bereits 31 Jahre alt, als im Familienrat ihm zugeredet wurde, er solle doch noch eine Ausbildung zum Musiker anstreben. Dem Wunschgedanken, dies zu tun, stand der Zweifel gegenüber, ob dies überhaupt noch realisierbar sei.
Rudolf Kehrer meldete sich zur Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Taschkent an, die er nach einmonatiger Vorbereitung mit Erfolg ablegte. Er wurde gleich in das dritte von fünf Studienjahren eingestuft.
Während dieser Studienzeit arbeitete Rudolf Kehrer sehr hart, zum Teil sieben bis acht Stunden am Tag. Der Erfolg dieser Anstrengungen war herausragend: nach Abschluss der Prüfung bot man ihm gleich einen Lehrstuhl am Konservatorium an, was allgemein ganz unüblich war.
Der entscheidende Durchbruch
Rudolf Kehrer hätte sicherlich sein ganzes Leben lang an der Hochschule in Taschkent gearbeitet, wenn nicht 1961 der 2. All‑Unionswettbewerb der Sowjetunion stattgefunden hätte, an dem er teilnahm. Der ersten Wettbewerb 1945 hatten Svjatoslav Richter und Viktor Merzhanov gewonnen.
Rudolf Kehrer wurde trotz der Überschreitung der Altersgrenze zum Wettbewerb zugelassen. Der Erfolg war weitaus größer als erwartet. Er gewann den Wettbewerb mit der maximalen Punktzahl 50 von 50 möglichen Punkten. In der Begründung der Jury heißt es u.a.: "Er ist ein Phänomen im Musikleben der Somjetunion, ein großes reifes Talent von origineller Individualität, ausgestattet mit den besten Qualitäten pianistischen Könnens..."
Rudolf Kehrer erhielt sofort eine Berufung als Professor an das Tschaikowski-Konservatorium in Moskau, die bedeutenste Musikhochschule der damaligen Sowjetunion. Gleichzeitig wurde er Solopianist an der Moskauer Philharmonie.
Auftritte nur im Ostblock
Bei allen Erfolgen blieb es aber Rudolf Kehrer - anders als anderen Künstlern wie z.B. Richter und Gilels ‑ lange versagt, im westlichen Ausland aufzutreten. Er musste seine Tätigkeit auf osteuropäische Staaten einschließlich der ehemaligen DDR beschränken. In Paris waren die Plakate bereits gedruckt, aus den USA lagen Einladungen vor, aber Rudolf Kehrer bekam ohne Angabe von Gründen keine Reiseerlaubnis. Die Tatsache, dass seinen Unterlagen zu entnehmen war, dass Vater und Onkel in Stalin'schen Straflagern gestorben waren, ließ die sowjetischen Behörden befürchten, dass Kehrer von einer Reise in den Westen nicht zurückkehren könnte. So wurde Rudolf Kehrer in der Bundesrepublik Deutschland nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt, die ihn entweder im Konzert oder Rundfunk hören durften oder eine seiner zahlreichen Schallplattenaufnahmen für das sowjetische Staatsuntemehmen “Melodija” erwerben konnten.
Endlich auch im Westen
Erst Ende der 80er Jahre bekam Rudolf Kehrer die Erlaubnis, in das westliche Ausland zu reisen. 1990 erhielt er – nach 29 Jahren Lehrtätigkeit am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau – eine Berufung als Gastprofessor an der Musikhochschule Wien. Diese hatte er bis 1998 inne.
Professor Rudolf Kehrer ist Träger zahlreicher Auszeichnungen. Er wirkt Mitglied der Jury vieler renommierter Klavierwettbewerbe mit und leitet internationale Meisterkurse für Klavier. Mehrere seiner Schüler wurden mit Preisen bei bei bedeutenen Klavierwettbewerben ausgezeichnet.
Inzwischen fast 80 Jahre alt hat Rudolf Kehrer im Westen viel zu spät Bekanntheit erlangt. Es ist eine traurige Erkenntnis, dass einem großen Künstler durch die Schrecken des Stalinismus eine Weltkarriere verweigert wurde …
Thomas Sandvoß, Köln 2003
mehr:
Zur Person Rudolf Kehrer [goethe.de]
Der Pianist Rudolf Kehrer ist tot [br.de]
Die ungewöhnliche Laufbahn des Pianisten Rudolf Kehrer [nmz.de]
Eine ausführliche Sammlung seiner Aufnahmen wird im Rudolf-Kehrer-Archiv in Overath aufbewahrt. (Quelle: de.cyclopaedia.net/Rudolf-Kehrer)