"Ich dachte, es sei Aluminium"
Auf dem rechten Auge sieht Metleb Nasibov nichts mehr. Das Augenlid bleibt geschlossen. Im Gesicht ist eine weitere längliche Narbe zu sehen. Metleb krempelt den Ärmel des Hemdes zurück; eine weitere Wunde kommt zum Vorschein, am linken Unterarm hat er eine grossflächige Einbuchtung. Metleb ist es eines der vielen Opfer, die die gefährliche sowjetische Hinterlassenschaft gefordert hat. Metleb Nasibov trägt einen einfachen Anzug. Er sitzt an einen Tisch, nebenan läuft der Fernseher. Es wird Tee gereicht, das Nationalgetränk in Aserbaidschan. Metleb will sich nicht fotografieren lassen, dennoch erzählt er von seinem persönlichen Schicksal. Anfangs der Neunziger Jahre diente er in der aserbaidschanischen Armee. Es waren keine einfachen Zeiten. In allen ehemaligen Sowjetrepubliken gestaltete sich das Leben hart. Lebensmittel waren knapp. Auch die politische Lage im Kaukasus war schwierig. Ab 1992 weitete sich der Konflikt um Nagorno-Karabach zum Krieg aus. Erst 1994 konnte ein Waffenstillstand unterschrieben. In der Zwischenzeit war Metleb Vater von zwei Kindern geworden. Als er 1996 aus der Armee ausschied, schlug er sich zunächst mit diversen Jobs durch. Und wurde dann schliesslich arbeitslos. Wie viele andere begann er, in der Region Saloglu Metall einzusammeln und weiter zu verkaufen. Es lag schliesslich offen herum auf den Feldern.
Auch an einem Morgen Ende Sommer 1998 verliess Metleb Nasibov wieder sein Haus, um Metall einzusammeln. Sein Heim liegt nur ein paar Hundert Meter von den Feldern entfernt. An diesem Morgen fand er ein besonderes Metallstück. Ein längliches Stück, ein Rohr. „Ich dachte, es sei Aluminium“, so Metleb. Wieder zu Hause, versuchte er es zu öffnen. Schliesslich sollte das Metall von anderem Material gesäubert sein, geputzt werden. In diesem Moment explodierte es. Vom Knall aufgeschreckt, eilte die Familie hinter das Haus. Dort fanden sie Metleb, Vater und Ehemann. Schwer verwundet, das Gesicht, beide Beine, ein Arm, waren verletzt. Verwandte fuhren ihn ins nächste Spital in die Provinzhauptstadt Agstafa. Nach nur einem Tag musste er weiter nach Baku verlegt werden. Der Aufenthalt in der Klinik dort dauerte einen Monat. Wenigstens zahlte die Armee ihrem jungen Veteranen 50 Prozent an die medizinischen Massnahmen, obwohl sich der Unfall ausserhalb des Militärdienstes ereignete. Metleb Nasibov: Eine nicht ganz untypische Lebensgeschichte eines Mannes in der Region Saloglu.
Wie bösartige Wucherungen unter der Haut
Die heutige Autofahrt führt in einen entfernteren Sektor. Mahdat Mammudov ,der Supervisor, und seine Männer arbeiten im Sektor 17. Sie sind daran, den Boden bis in eine Tiefe von 30 Zentimetern zu entminen. Streifenweise. Etwas Humus abgetragen, kommen die verrosteten Blindgänger zum Vorschein. Es ist, wie wenn man Haut aufkratzt und darunter bösartige Wucherungen entdeckt. In diesem Sektor wurden 23 Bunker gezählt, fünf davon noch voll gefüllt. Wenn die Blindgänger noch Zünder enthalten, sprengt man sie vor Ort. Ansonsten wird das Material eingesammelt und zum Sprengungsgelände gebracht. In Sektor 17 wurden auf 90 000 Quadratmetern rund 7090 Blindgänger gehoben. Weiter hinten im Gelände liegen noch offen Granaten herum.
Mit dem Jeep geht es weiter, vorbei an der ehemaligen Sowjetbasis, mit Kurs auf eine Anhöhe hinter der Basis. Kurz nach der Basis ein Feld. Eine Begleitperson weist auf das Feld hin: „Dort, wo die gelben Pflöcke stehen, ist die Pipeline im Boden“, sagt ein Mitfahrer. Nicht nur die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan, welche ein zentraler Faktor im „Great Game“ um die kaspischen Erdölvorkommen eine Rolle spielt, durchquert die Region hier. Auch die Gasleitung Baku-Tiflis-Erdurum und die Ölpipeline Baku-Supsa führen durch die Gegend. Dann erreichen wir das Sprenggelände. „Yandirma Arizisi“ und „Burning Area“ steht auf einem verbeulten Schild. Ein paar Meter weiter ist das Gelände übersät mit Kratern. Detonationskatern. Es ist eine wüstenähnliche Gegend. Eine 15 Männer umfassende Sprengtruppe arbeitet hier. Tags darauf wird die wöchentliche Sprengung der Blindgänger stattfinden. In einem drei Meter tiefen Loch liegt die sorgfältig präparierte, alte Munition. Rund 10 000 Projektile, insgesamt 1,8 Tonnen sollen diese Woche in die Luft gejagt werden. Ganz unten in der Grube liegen die kleinkalibrigen Projektile, darauf sind die grösseren Geschosse deponiert. Zwei Schichten, wie bei einer Torte. Für die Sprengungen wird TNT benutzt.
Abends, zurück auf der Basis. Am Eingangstor steigen auch die Minenräumer aus den Fahrzeugen, es ist Arbeitsschluss. Am Tor steht auch Metleb Nasibov, das Blindgängeropfer. Er hat wieder einen Job, er sorgt jetzt für den Unterhalt auf der Anama-Basis. Es gibt noch viel zu tun in Saloglu.
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Im Transportkorridor des "great game"
Von André Widmer
Das Ausmass der Dekontaminierung ist weiterhin riesig, bisher wurden fast 550 000 Blindgänger auf den 44 Quadratkilometern weggeräumt; 7082 mit weissem Phosphor. 250 verschiedene Munitionsarten sind es total, die identifiziert wurden. Inzwischen hat Anama eine Basis errichtet und beschäftigt um die 70 Angestellte, das meiste sind Minenräumer im Feld. Der Rest arbeitet in Administration, in der Küche oder im Unterhalt. Leute aus der Gegend haben Arbeit bei Anama gefunden.
Photoreportage: André Widmer (slideshow) >>>
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