(zeitschrift-osteuropa.de) Osteuropa 7-10/2015
Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.)
Berlin (BWV) 2015 [= Osteuropa 7-10/2015]
672 Seiten, 175 Abb., 21 Farbkarten
Preis: 32,00 €
ISBN: 978-3-8305-1708-5
Inhalt
Editorial
Jörg Stadelbauer Naturraum Kaukasien.Vielfalt, Kontraste, Risiken
Kaum ein anderes Gebiet des postsowjetischen Raums hat eine derartige Vielfalt aufzuweisen wie Kaukasien. Dies gilt für den naturgeographischen Rahmen, für Geschichte, Kultur, politisches Handeln und wirtschaftliche Potentiale. Wenn Georgien, Armenien und Aserbaidschan als Einheit gesehen werden, dient dies vor allem der Vereinfachung. Doch tatsächlich ist die Heterogenität enorm. Das bezieht sich auch auf die Nutzung der Bodenschätze, die Häufung von Naturgefahren durch extreme Witterungserscheinungen und globalen Klimawandel sowie die Degradation von Boden und Vegetation.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 7–44)
Tsypylma Darieva, Florian Mühlfried Kontaktraum Kaukasus.Sprachen, Religionen, Völker und Kulturen
Der Nordkaukasus und der Südkaukasus sind historisch, sozioökonomisch, kulturell und konfessionell eng verflochten. Als Teil multinationaler Imperien war der Kaukasus immer eine Kontaktzone, die von ethnischer und sprachlicher Vielfalt sowie einem reichen kulturellen Erbe geprägt ist. Ethnische Zugehörigkeit und ihre Repräsentation werden immer wieder aufs Neue hergestellt, verfestigt und aufgelöst. Gleichzeitig gibt es eine Tradition lokaler kosmopolitischer Kultur, die durch interregionalen Handel, normative Ordnungen und kulturellen Austausch aufrechterhalten wird. Allerdings gerät der „Kosmopolitismus von unten“ zunehmend in Gefahr.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 45–70)
Sofie Bedford, Emil Souleimanov Islam im postsowjetischen Kaukasus.Von Sunniten, Schiiten, Sufis und Salafisten
Der Islam ist im Kaukasus in unterschiedlichen Formen verbreitet. Der Nordostkaukasus ist von sunnitischen Sufi-Bruderschaften geprägt. Dort betrachten Eliten und Laien die Religion als Quelle politischer Legitimität. Im Nordwestkaukasus ist der sunnitische Islam der hanafitischen Rechtsschule verbreitet. In Aserbaidschan dominiert die von der iranischen Safawiden-Dynastie verbreitete Zwölfer-Schia, und der Islam ist – wie auch im Nordwestkaukasus – weitgehend auf den Bereich der Spiritualität beschränkt. Doch auch dort stellen Salafisten die Autorität des offiziellen Islam in Frage.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 71–92)
Oliver Reisner Sakral-national. Staat, Religion und Nation in Georgien
Georgiens Orthodoxe Kirche propagiert eine national-religiöse georgische Identität. Damit hat sie in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen. Eine starke Verankerung in der Gesellschaft erlaubt ihr, auch politischen Druck auszuüben. Die Anpassung der georgischen Rechtsordnung an europäische Normen, etwa durch Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes, konnte sie zwar nicht verhindern, ebenso wenig wie die rechtliche Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften. Doch mit ihrer Mission gegen eine liberale und multikonfessionelle Gesellschaft provoziert sie Konflikte, ganz gleich ob sie die georgische Gesellschaft von den Muslimen Adschariens oder von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung bedroht sieht.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 93–112)
Thomas de Waal Aneinandergekettet. Armenier und Türken im Schatten des Genozids
Die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern durch die jungtürkische Regierung im späten Osmanischen Reich hat lange Schatten geworfen. Es handelte sich um einen der ersten Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Seither dauert die Konfrontation von Armeniern und Türken an. Trotz der Unversöhnlichkeit und Entfremdung auf beiden Seiten sind die Armenier mit ihrem Trauma und die Türken mit ihrer Furcht, die Wahrheit anzuerkennen, in geradezu pathologischer Weise aneinandergekettet. Um in der armenischen Frage voranzukommen, sollte der Dialog an die Stelle der Konfrontation rücken. Es wäre vernünftig, den verhärteten, symbolischen Konflikt um den Begriff „Genozid“ zurückzustellen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 113–128)
Jan Plamper Stalinkult und Ethnizität. „Koba“: Georgier oder „Vater der Völker“?
Stalin war Georgier. Doch im Stalinkult, an dem seit 1929 alle sowjetischen Medien von der bildenden Kunst über die Volksdichtung bis zum Film mitwirkten, blieb seine persönliche Nationalität tabu. Stalin verkörperte jenseits jeder eigenen Ethnizität den „Vater der Völker“. Seine patriarchalische Rolle stand symbolisch für die Sowjetunion, für das übernationale Dach, das die nationalen Territorien des sozialistischen, föderalen Staats überspannte. Stalin füllte damit das repräsentative Vakuum, das auf der Ebene der supranationalen sowjetischen Identität bestand.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 129–149)
Aleksandr Gol’dštejn Denk an Famagusta
(Osteuropa 7-10/2015, S. 151–160)
Die Macht des Staates
Andreas Heinemann-Grüder Eingebettet, nicht eingefroren. Konflikte und Regime im Kaukasus: Ein Literaturbericht
In den vergangenen Jahren ist eine Reihe neuer Analysen zu den Gewaltkonflikten im Kaukasus erschienen. Nur den besten Studien gelingt es, die ethnonationalistischen Gewaltakteure konkret zu benennen, Spannungen zwischen offiziellen Geschichtsbildern und konkreten Erfahrungen aufzuzeigen und zu demonstrieren, wie sich die sowjetischen Muster der Feindbildproduktion bis heute fortsetzen. Föderalismus als Option der Konfliktregelung wird jedoch kaum diskutiert. Ein Forschungsdesiderat sind komparative Analysen zu den (semi-)autoritären Regimen im Kaukasus und ihren Reproduktionsmechanismen sowie zur Mikrodynamik von Konflikten und zu innergesellschaftlichen Konfigurationen. Auch eine vergleichende Politikfeldforschung, die die politische Ökonomie sowie die Funktionsweise gerade der parastaatlichen Gebilde in Bergkarabach, Abchasien und Südossetien in den Blick nimmt, steht noch aus.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 161–179)
Huseyn Aliyev Netzwerke im Südkaukasus.Formen und Funktionen informeller Praktiken
Die Menschen des Südkaukasus sind zur Bewältigung ihres Alltags auf informelle Netzwerke angewiesen. Deren Ursprünge liegen in den traditionellen Formen sozialer Organisation wie Großfamilien und ländlichen Gemeinden. In der Sowjetunion dienten informelle Netzwerke zum Ausgleich der strukturellen Defizite der Planwirtschaft. Sie garantierten Zugang zu Mangelprodukten und Dienstleistungen. Die Einführung der Marktwirtschaft ließ die Netzwerke nicht obsolet werden. Im Gegenteil: In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gewannen sie sogar an Bedeutung.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 181–190)
Petra Opitz Erneuerungsbedarf. Energiewirtschaft in Armenien, Aserbaidschan und Georgien
Armenien, Aserbaidschan und Georgien rechnen in den nächsten Jahren mit einem steigenden Energiebedarf. Aserbaidschan kann sich durch eigene Öl- und Gasvorkommen selbst versorgen. Armenien ist auf Brennstoffimporte aus Russland angewiesen und plant den Ausbau von Atomkraft. Georgiens Energiemix schwankt saisonal aufgrund eines hohen Anteils an Wasserkraft. Den Transit von Gas und Öl bekommt Georgien in Erdgas vergütet, das es für die Produktion billigen Stroms einsetzt. Mit Ausnahme von Wasserkraft spielen alternative Energiequellen in den drei Ländern bislang kaum eine Rolle. In die Steigerung der Energieeffizienz wird kaum investiert.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 191–209)
Silvia Stöber Zwischen Aufklärung und Propaganda. Medien im Südkaukasus
Die Medienlandschaften der südkaukasischen Staaten sind so unterschiedlich wie die Länder. In Georgien gibt es eine lebendige Medienszene, in Armenien ist der Markt von politischen und wirtschaftlichen Kartellen geprägt. In Aserbaidschan unterdrückt das autoritäre Regime die unabhängigen Medien.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 211–229)
Zaal Andronikashvili, Giorgi Maisuradze Philologen gegen Philosophen. Georgiens Weg in eine unfreie Freiheit
Georgien stand im Jahr 1990 an einer Wegscheide. In der Debatte über die Zukunft des kurz vor seiner Unabhängigkeit stehenden Landes zeigten sich Grundmuster des nationalen Selbstverständnisses. Eine rückwärtsgerichtete, den nationalen Mythos pflegende „philologische“ und eine nüchtern-analytische, in der Gegenwart verortete „philosophische“ Strömung lagen im Widerstreit. Die Wahl des Literaturwissenschaftlers Zviad Gamsakhurdia zum Präsidenten besiegelte auf Jahre hinaus die Dominanz der Philologen und einer klassenartig organisierten Intelligencija, die sich als Hüterin der Nationalkultur ausgab. Die Gegenströmung repräsentierte der Ende 1990 verstorbene Philosoph Merab Mamardashvili, der für ein Ethos der Verantwortung und einen tätigen Freiheitsbegriff eintrat. Die Niederlage dieser Strömung führte zur Eskalation von Konflikten, deren Folgen bis heute nicht überwunden sind.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 231–246)
Christian Timm Georgien: Staat im Markt. Vom Neoliberalismus zum gelenkten Kapitalismus
Nach der Rosenrevolution 2003 änderte sich in Georgien das Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Mikheil Saakashvilis Politik der Deregulierung und Nichtintervention hatte die erwünschten Effekte: Bürokratismus und Korruption wurden beseitigt, das wirtschaftliche Umfeld gewann an Attraktivität. Die liberalen Reformen waren jedoch von willkürlichen informellen Interventionen begleitet. 2008 bildete einen Wendepunkt in der Wirtschaftspolitik. Proteste im Inneren, der Ansehensverlust nach dem Augustkrieg und die globale Finanzkrise beschleunigten das Ende des liberalen Wirtschaftsmodells. De facto führte die Regierung ein staatlich gesteuertes Entwicklungsprogramm ein.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 255–270)
David Losaberidze Zentrum und Peripherie. Kommunale Selbstverwaltung in Georgien
Das unabhängige Georgien hat der Dezentralisierung der politischen Entscheidungen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die kommunale Selbstverwaltung fristet ein Schattendasein. Organe der kommunalen Selbstverwaltung haben kaum Kompetenzen und sind unterfinanziert. Dabei sind funktionierende Städte und Gemeinden für Schlüsselbereiche der Daseinsvorsorge unverzichtbar. Erst in jüngster Zeit setzt sich das Bewusstsein durch, dass Dezentralisierung und die Idee der Subsidiarität den Staat nicht schwächen, sondern funktionierende Dienstleistungen den Staat stärken und damit die Legitimität der Herrschenden erhöhen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 271–283)
Maria Koinova Einheit in der Vielfalt. Die armenische Diaspora und Armenien
1915 verloren bei dem Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich bis zu 1,5 Millionen Menschen ihr Leben. Ebenso viele Armenier wurden vertrieben. Die armenische Diaspora kämpft seitdem um die Anerkennung dieses Verbrechens als Genozid. Vor allem in den USA, in Frankreich, dem Nahen Osten und in Russland gibt es eine armenische Diaspora. Sie ist ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor für Armenien. Ihr großer Einfluss auf die Politik in Armenien ist nicht unproblematisch. Ihre teils kompromisslose Haltung erschwert pragmatische Lösungen in der Bergkarabach-Frage oder in den Beziehungen zur Türkei.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 285–298)
Eva-Maria Auch, Sebastian Schmidt Ambivalenzen in Aserbaidschan. Umwelt- und Naturschutz im autoritären Staat
Die ökologische Lage in Aserbaidschan ist widersprüchlich. Einerseits gab der Zusammenbruch der Sowjetunion den Blick auf die Unterwerfung, Zerstörung und Verseuchung von Natur und Umwelt frei. Das petrochemische Zentrum Sumqayit etwa gehörte zu den belastetsten Städten weltweit. Andererseits rückte ein Naturraum von einmaliger Schönheit in den Blick. Im Naturschutz und in der Forstpolitik erzielte das Land erstaunliche Erfolge. Doch in der Gesellschaft fehlt es an ökologischem Bewusstsein und Sensibilität für die Bedeutung des Umwelt- und Naturschutzes sowie zunehmend an politischer Rückendeckung. Selbst Errungenschaften im Naturschutz geraten zunehmend unter Druck.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 299–320)
Katharina Hoffmann Gesellschaft und Staat. Die lokale Ebene in Armenien und Aserbaidschan
In Armenien und Aserbaidschan sind die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat von Distanz geprägt. (Selbst-)Verwaltungsinstitutionen auf lokaler Ebene schaffen keine Annäherung. Sie dienen den regierenden Eliten zur Durchsetzung ihrer Interessen, bieten der Bevölkerung aber keinen Einfluss auf staatliche Entscheidungen zu lokalen Belangen. Der Bevölkerung bleibt vor allem, ihre Anliegen durch Selbstorganisation oder in persönlichen Netzwerken zu verfolgen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 321–334)
Ansgar Gilster, Christina Huthmann Zweite Welt. Gesundheit und Bildung im Südkaukasus
Die Sozialsysteme der südkaukasischen Staaten gerieten nach Auflösung der UdSSR in eine Krise. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis die Auswirkungen von Sezessionskonflikten und wirtschaftlichem Zusammenbruch überwunden werden konnten. Viele Entwicklungsindikatoren haben sich im vergangenen Jahrzehnt verbessert. Die Lebenserwartung steigt, das Gesundheitssystem gewährleistet eine Grundversorgung. Der Besuch einer Schule ist wieder für alle Kinder eine Selbstverständlichkeit, die Qualität weiterführender Bildungseinrichtungen wurde verbessert. Vorreiter bei Reformen ist Georgien, das wirtschaftlich am schlechtesten dasteht. Aserbaidschan hingegen nutzt das ökonomische Potential aus dem Erdölgeschäft nicht, um durch einen breiteren Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 335–350)
Lina Verschwele Unter dem Radar. Ende des autoritären Burgfriedens in Bergkarabach?
Im Mai 2015 wählte Bergkarabach ein neues Parlament. Viele Experten sahen in der Abstimmung nur politische Kosmetik, im Parlament werde ohnehin nur zum Schein diskutiert. Tatsächlich hatte der Konflikt mit Aserbaidschan lange für einen autoritären Burgfrieden gesorgt. Doch die Einigkeit bröckelt. Mit der Partei der Nationalen Wiedergeburt zog eine echte Oppositionspartei in das Parlament ein, die nicht zum herrschenden Establishment gehört.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 351–364)
Die Macht der Mächte
Roland Götz Erdöl und Erdgas im Südkaukasus. Binnenversorgung, Export, Transit
Von den drei südkaukasischen Staaten kann nur Aserbaidschan seinen Bedarf an Erdöl und Erdgas selbst decken. Georgien und Armenien sind auf Importe dieser Energieträger angewiesen. Armenien lehnt sich energiepolitisch an Russland an, Georgien hat sich als Transitland für die Lieferung von Öl und Gas aus dem Kaspischen Raum nach Europa etabliert. Aserbaidschan bereitet den Gasexport nach Europa vor. Ob zukünftig auch Erdgas aus Turkmenistan über Aserbaidschan und Georgien in die EU gelangen wird, ist ungewiss. Die EU bemüht sich mit wenig Erfolg um die Errichtung eines ihren Wettbewerbsregeln unterworfenen „südlichen Gaskorridors“, weil sie die Interessen der Gasförderländer der Region verkennt.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 365–382)
Uwe Halbach Russland im Süd- und im Nordkaukasus. Zwischen „Nahem Ausland“ und „Innerem Ausland“
Russland hat eine besondere Beziehung zum Kaukasus. Sie ist durch die Expansion des Zarenreichs historisch, kulturell und affektiv aufgeladen. Bis heute ragt Russland mit sieben Teilrepubliken in die Gesamtregion hinein. Außen- und sicherheitspolitisch, sozioökonomisch, aber auch religiös ist Russland mit dem Südkaukasus so eng verbunden, dass Moskau in seiner Politik gegenüber Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie den abtrünnigen Gebieten wie Abchasien oder Südossetien Rückwirkungen auf die eigene Peripherie im Nordkaukasus berücksichtigen muss. Das gesamte kaukasische Feld ist durch das Spannungsverhältnis zwischen russländischem Machtanspruch und faktischer Gestaltungsmacht geprägt.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 383–406)
Franziska Smolnik, Andrea Weiss, Yana Zabanova Prekäre Balance.Die Türkei, Georgien und der De-facto-Staat Abchasien
Die Türkei hat in den vergangenen 25 Jahren von Konflikt und Kooperation geprägte Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarstaaten im Südkaukasus aufgebaut. Im Zentrum stehen wirtschaftliche und politische Interessen, doch auch die Geschichte des Osmanischen Reichs in der Region spielt eine Rolle. Ankara pflegt enge Beziehungen zu Georgien, unterhält aber auch informelle Kontakte zu dem von Tbilisi abtrünnigen De-facto-Staat Abchasien. Für die gesellschaftlichen Beziehungen zu Abchasien spielt die abchasische Diaspora in der Türkei eine wichtige Rolle. Dieses Engagement der Türkei ist jedoch ein Balanceakt. Ankara muss nicht nur auf Tbilisi Rücksicht nehmen, sondern auch auf Russland. Das setzt auch der Rolle der Türkei als Vermittler im georgisch-abchasischen Konflikt Grenzen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 407–426)
Gayane Novikova Blockade à trois. Das Beziehungsdreieck Armenien–Aserbaidschan–Türkei
Die internationalen Beziehungen im Südkaukasus sind noch immer entscheidend von dem Konflikt um Bergkarabach geprägt. Aserbaidschan und die Türkei sind eng miteinander verbunden und halten die Grenze zu Armenien geschlossen. Das auf diese Weise isolierte Armenien sieht sich von einer massiven Aufrüstung in Aserbaidschan bedroht und lehnt sich aus sicherheitspolitischen Gründen an Russland an. Die Isolation Armeniens kommt Georgien zugute, das so zum alleinigen Transitland geworden ist. Der Versuch, die Blockaden durch eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen Armenien und der Türkei abzubauen, scheiterte 2010 an der Frage der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Heute herrscht wieder Eiszeit, nicht nur zwischen Baku und Erevan, sondern auch zwischen Ankara und Erevan.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 427–441)
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Emil Souleimanov, Josef Kraus Alte und neue Ansprüche. Die Politik des Iran im Südkaukasus
Der Iran ist eine wichtige Regionalmacht im Südkaukasus. Mit Georgien pflegt der Iran lediglich eine wirtschaftliche Kooperation. Das armenisch-iranische Verhältnis ist durch die Beziehungen beider Länder zu Aserbaidschan geprägt. Iran und Aserbaidschan haben ihre wirtschaftlichen Beziehungen verbessern können. Doch die politischen sind von Konflikten geprägt. Angesichts von 20 Millionen Aseris im eigenen Land fürchtet Teheran aserbaidschanischen Nationalismus und Irredentismus. Der Iran feilt an einem Instrumentarium, um die aserbaidschanische Integrität und Sicherheit von innen heraus zu unterminieren. Baku will seine Position durch die Hinwendung zu Israel und auch zu den USA stärken.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 443–457)
Julien Zarifian Bedingt engagiert. Die USA im Südkaukasus
Bis zur Auflösung der Sowjetunion sahen die USA den Südkaukasus nur durch das Moskauer Prisma. Das hat sich seit der Unabhängigkeit Armeniens, Aserbaidschans und Georgiens verändert. Die USA verfolgen im Südkaukasus eigene sicherheitspolitische, energiewirtschaftliche und politische Interessen. Georgien ist zu einem Verbündeten Washingtons geworden, Aserbaidschan ist den USA gewogen, und Armenien pflegt gute Beziehungen zu Amerika, obwohl Russland für Erevan sicherheitspolitischer Garant im Konflikt um Bergkarabach ist. Unter Obama haben die USA ihr Engagement in der Region allerdings stark reduziert.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 459–467)
Michèle Knodt, Sigita Urdze Ferne Nachbarn. Die Europäische Union im Südkaukasus
Das Interesse der EU am Südkaukasus ist begrenzt. Nach der Unabhängigkeit Armeniens, Aserbaidschans und Georgiens leistete sie humanitäre Hilfe und engagierte sich in der Entwicklungszusammenarbeit. Den ethnoterritorialen Konflikten in der Region schenkte die EU kaum Beachtung. Eine spezielle Südkaukasus-Politik hat sie nicht entwickelt. Für Brüssel war der Raum Teil der östlichen Partnerschaft. Dieses Modell ist an seine Grenzen gestoßen. Lediglich Georgien hat ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet, Armenien hat davon Abstand genommen, und Aserbaidschan hat von Anfang an klar gemacht, dass es nicht bereit ist, sich den Bedingungen der EU anzupassen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 469–485)
Die Macht der Bilder
Sergej Rumjancev Feiertage für das Volk. Transnationale Erinnerung im Südkaukasus
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Denkmäler im öffentlichen Raum des Südkaukasus nahezu unbekannt. Erst das Sowjetregime führte Feiertage und Denkmäler ein. Ziel dieser Erinnerungspraktiken war es, die multinationale Gesellschaft zu mobilisieren und zu integrieren. Nach dem Motto „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ wurden mittelalterliche Dichter einer „Nationalkultur“ zugeordnet und heroisiert. Als Beweis für die Gültigkeit des Historischen Materialismus wurden sie als übernationale Vorläufer sozialistischen Denkens interpretiert und instrumentalisiert. Shota Rustaveli, Nizami und das Volksepos David von Sasun wurden so Teil des sowjetischen Kulturerbes. Die postsowjetische Kulturpolitik verläuft in diesen Bahnen. Dieselben Eliten arbeiten in denselben bürokratischen Strukturen und bewegen sich im selben Statussystem aus Ehrentiteln und Auszeichnungen. Selbst die sowjetische Form der Erinnerung ist weitgehend unverändert.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 487–514)
Adrian Brisku So fern und doch so nah. Das Europabild in Georgien: Eine Ideengeschichte
Die Idee Europa kam aus Russland nach Georgien. Georgische Adelige im Dienst das Zaren begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Russische übertragene Schriften des deutschen Idealismus sowie der Dichter der Romantik zu lesen. Diese Texte brachten die nationale Idee nach Georgien. Auch für die nationale Bewegung der 1870er–1890er Jahre blieb Russland das Tor nach Europa. Erstmals sprachen Anfang des 20. Jahrhunderts die Dichter der symbolistischen Gruppe „Blaue Hörner“ nicht von einer Hinwendung zu einem modernen Europa, sondern von einer „Rückkehr“ Georgiens in die europäische Zivilisation. Nach der Errichtung der Sowjetherrschaft in Georgien lautete die offizielle Doktrin 70 Jahre lang, die sozialistische Zukunft liege in Asien. Erst mit der Perestrojka tauchte die Vorstellung einer Rückkehr ins gemeinsame Haus Europa wieder auf. Russland allerdings hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Rolle als Vermittler europäischer Ideen verspielt. Heute schauen die Gegner eines europäischen Georgien nach Moskau.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 515–529)
Zaal Andronikashvili Glaubensbrüder oder Reich des Bösen. Russlandbilder der georgischen Literatur
Das konfliktträchtige Verhältnis zwischen Georgien und Russland ist seit Jahrhunderten stark emotional aufgeladen. Dies schlug sich nicht nur in der russischen, sondern auch in der georgischen Literatur nieder. Der Verlust der Unabhängigkeit ab 1801 und die Eroberung durch bolschewistische Truppen 1921 bilden tiefe Zäsuren. Das Spektrum der georgischen Russlandbilder reicht von der christlichen Schutzmacht bis zum kolonialen Unterdrücker, in ihm schwingt die Verheißung individueller Freiheit, aber auch der Hass auf das große kollektive Gefängnis mit. In den literarischen Erscheinungsweisen des großen Nachbarn spiegelt sich stets auch das sich wandelnde Selbstbild Georgiens.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 531–548)
Franziska Thun-Hohenstein Der russische Georgien-Mythos. Die Sowjetisierung einer romantischen Utopie
In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde Georgien romantisch überhöht. Mit dieser Tradition brachen auch Dichter und Schriftsteller der Sowjetzeit nicht. Das zeigen die Werke von Sergej Tret’jakov, Konstantin Paustovskij oder Andrej Bitov. In Poetik und Metaphorik knüpften sie an den romantischen Georgien-Mythos an. Ungeachtet der ideologischen Überformung speisen sich ihre Texte aus dem traditionellen Arsenal an Metaphern, Motiven und Symbolen, weshalb russisch-imperiale Gesten und Deutungen Georgiens erkennbar bleiben. Auf der sprachlichen Ebene treffen die sowjetischen Ideologeme und die traditionell romantische Metaphorik vielfach unvermittelt aufeinander und lassen Kontinuitäten oder Brüche zwischen beiden hervortreten.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 549–568)
Sevil Huseynova Baku zwischen Orient und Okzident. Der Islam in der postsowjetischen Stadt
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft, die alle Religionen bekämpft hatte, kam es im unabhängigen Aserbaidschan zur Rehabilitation des Islam. In der Hauptstadt Baku wurden zweckentfremdete Moscheen restituiert, andere renoviert, neue gebaut. Der Islam ist in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Gleichzeitig betont das Regime den säkularen Charakter des Landes, versucht Kontrolle über alle Gläubigen zu bekommen, bekämpft radikale Strömungen und plädiert für einen „weltlichen Islam“ als nationale Tradition. Für Muslime ist das Nonsens. Die Stadt als ein Ort des Nebeneinanders unterschiedlicher Lebensweisen gerät unter Druck.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 569–586)
Volltext als Datei (PDF, 984 kB)
Florian Mühlfried Religion, Reinheit und Radikalisierung. Vom Ende des Alaverdoba-Fests in Georgien
Georgien erlebt seit einigen Jahren eine national-religiöse Aufladung des öffentlichen Raums. Diese Sakralisierung drängt nicht-georgisch-orthodoxe Minderheiten aus lokalen Gemeinschaften. Exemplarisch zeigt sich dies an einem Volksfest im ostgeorgischen Alaverdi. Dort löst sich ein jahrhundertealtes, von Arbeitsteilung und Handel getragenes transkonfessionelles Miteinander von Muslimen und Christen unter dem Druck der Kirchenobersten auf. Dies könnte zur Radikalisierung beider Gruppen führen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 587–598)
Zaur Gasimov Aserbaidschan: Exportware Führerkult. Der Personenkult um Heydar Aliyev
Seit einem Jahrzehnt präsentiert Baku das Andenken an Heydar Aliyev auf dem internationalen Parkett, indem es die Errichtung von Aliyev-Denkmälern und -Parks fördert. Während große Teile der aserbaidschanischen Bevölkerung trotz der enormen Öleinnahmen immer noch unter der Armutsgrenze leben, erkauft sich Baku die Erlaubnis, den Aliyev-Kult ins Ausland zu exportieren. Dies trägt weder zur Demokratisierung von Aserbaidschan noch zur Verbesserung seines Images auf dem internationalen Parkett bei. Gleichzeitig stellt es die demokratische Reputation jener Staaten in Frage, die sich auf dieses Spiel einlassen.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 599–612)
Giorgi Gvakharia Zwischen Zwang und Freiheit. Poesie und Realismus im georgischen Film
Georgien hat eine außergewöhnlich lebendige Filmszene und brachte bereits viele innovative Filmkünstler hervor. In den 1920er Jahren drehten Georgier wegweisende Stummfilme, die unter dem Einfluss der Avantgarde standen. Unter der Doktrin des Sozialistischen Realismus lieferte der georgische Film in den 1930er und 1940er Jahren systemkonforme Monumentalfilme und Stalin-Elogen, seine Blüte erlebte er jedoch in den 1950er und 1960er Jahren. Der typische lyrische Grundton ist nicht nur dem Druck der Zensur geschuldet, sondern auch Ausdruck einer besonderen Mentalität. Nach der Unabhängigkeit Georgiens geriet der georgische Film in eine Sinnkrise. In jüngster Zeit sind es vor allem Regisseurinnen, die den Film neu erfinden.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 613–630)
Michail Ryklin Eine Philosophie der Freiheit. Merab Mamardashvili und die Metaphysik der Agora
Merab Mamardashvili war ein prinzipieller Gegner staatlicher Ideologien. Seine Moskauer Seminare der 1960er und 1970er Jahre waren ein Ort der Meinungsvielfalt und der freien Rede. In ihnen trat der im georgischen Gori geborene Philosoph, den die Sowjetunion 20 Jahre mit Reiseverbot belegte, in den Dialog mit Platon, Kant und Descartes. Damit gab er der Metaphysik eine russische Sprache. Als die staatlichen Repressionen in den 1980er Jahren zurückgingen und Wandel in greifbare Nähe rückte, wurde die politische Bedeutung der Philosophie Mamardashvilis offensichtlich.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 631–642)
Aschot L. Manutscharjan Das Wort „Genozid“ gab es noch nicht. 100 Jahre Völkermord an den Armeniern
2015 jährten sich die Vertreibung und die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich zum 100. Mal. Anderthalb Millionen Menschen verloren bei diesem Massenmord ihr Leben. Dass es sich um einen Genozid handelte, ist unumstritten, auch wenn der Begriff selbst erst 1951 Eingang in das Völkerrecht fand. Das belegt eine Vielzahl von Monographien, Studien, Quelleneditionen und Aktenpublikationen aus den diplomatischen Archiven. Das Wissen über den Völkermord ist erdrückend. Es ist an der Zeit, dass die Türkei ihre Politik der Leugnung beendet und die Aufarbeitung der Vergangenheit leistet.
(Osteuropa 7-10/2015, S. 657–670)
Redaktion Osteuropa, Schaperstr. 30, D-10719 Berlin, +49 (0)30/30 10 45 81,
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Wednesday, February 17, 2016
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