Tuesday, February 16, 2016

ARTIKEL: Architektonische Reise nach Georgien. Text und Fotos von Peter Sägesser (swiss-architects.com)

(swiss-architects.com) Georgien ist beinahe doppelt so gross wie die Schweiz, hat aber nur halb so viele Einwohner. Eindrückliche Naturlandschaften vom Schwarzen Meer bis zum Kaukasus und Bauten aus der Sowjetzeit machen das Land zu einer interessanten Destination. 

Auf dem Weg in den Grossen Kaukasus: Denkmal der georgisch-russischen Freundschaft, Architektur: Giorgi Chakhava, Bild: P. Sägesser
Das Land befindet sich zwischen Tradition und Aufbruch. Das lässt sich auch an seiner Architektur ablesen. Schon auf dem Weg vom Flughafen der Hauptstadt Tiflis ins Zentrum fallen zahlreiche Neubauten auf. Interessanter sind aber die Bauten aus sowjetischer Zeit und die Altstadt von Tiflis. Sich in Tiflis zu orientieren ist nicht einfach. Vom Hausberg der Stadt, dem Mtazminda, erhält man aber einen guten Überblick. Die heutige Bergstation der Standseilbahn wurde 1938 im Stile des Sozialistischen Realismus erbaut, darin befindet sich ein Restaurant und ein Casino. 2007 wurde das Gebäude komplett saniert und ist heute ein beliebter Ausflugsort am Abend.

Ikone der Sowjetarchitektur, Ministerium für Strassenbau, Architektur.: Giorgi Chakhava, Z. Dzhalaganiya, T. Tkhilava, W. Kimberg (1974). Bild: P. Sägesser

Tiflis wuchs vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stark, und es entstanden neben neuen Wohngebieten einige herausragende Beispiele sowjetischer Architektur. Bekannt ist vor allem das Ministerium für Strassenbau. Der Bau aus sich überlagernden Balken erinnert an El Lissitzkys Wolkenbügelprojekt von 1924 für Moskau. Der Minister für Strassenbau, George Chakhava, war zugleich Bauherr und Architekt. Sein Ziel war es, eine Raumstruktur zu schaffen, die so wenig wie möglich den Boden berührt und in alle Richtungen beliebig erweitert werden kann.

Etwas weiter stadtauswärts liegt der ab 1971 erbaute Universitätscampus. Ursprünglich sollte rund um einen künstlichen See ein neues Quartier entstehen, von dem aber nur ein Teil verwirklicht wurde. Eine Seilbahn, welche die Hochschulbauten mit den Studentenwohnungen verbindet, steht seit Jahren still. Eine Gondel hängt mitten über dem Fluss in der Luft. Sehenswert ist vor allem die Universitätsbibliothek des Architekten Leri Medzmariashvili.


Teil des nie fertiggestellten Universitätscampus: Bibliothek von Leri Medzmariashvili (1971). Bild: P. Sägesser
Ganz anders wirkt der zentrale Pavillon des Messegeländes. In seiner Leichtigkeit erinnert er an Bauten Oskar Niemeyers. Einen Blick sollte man auch in den Landwirtschaftspavillon mit seinem Palmenhaus werfen. Weitere sehenswerte Bauten aus sowjetischer Zeit sind unter anderem der an ein Flughafenterminal erinnernde Hauptbahnhof von 1980, die Wohnbauten in der Nutsubidze-Strasse und der Palast der Rituale von 1985. Im letzteren feierten Georgierinnen und Georgier ihre Hochzeitsrituale.

WDNCH-Messegelände, Zentraler Pavillon, Architektur: L. Mamaladze (1961). Bild: P. Sägesser
Tiflis wurde in den letzten Jahren stark umgebaut. Am Ufer des Flusses Mtkwari stehen zwei wenig geglückte Neubauten des Architekturbüros Fuksas, und der Friedensbrücke von Michele de Lucchi haben die Stadtbewohner den Übernahmen «Always Ultra» gegeben. Viele Altstadthäuser wurden abgerissen und neu aufgebaut. Beim Spaziergang durch die Altstadt findet man aber noch traditionelle Wohnhäuser. Man sollte unbedingt einen Blick in die Innenhöfe werfen. Typisch sind hier hölzerne Konstruktionen, die über aussenliegende Treppen und Laubengänge die Wohnungen erschliessen.

Fussgängerbrücken verbinden die Wohnbauten in der Nutsubidze-Strasse, Architektur: O. Kalandarishvili, G. Potskhishvil (1974 bis1976). Bild: P. Sägesser
Im Palast der Rituale wurden Hochzeiten gefeiert, Architektur: 
V. Dzhorbenadze, V. Orbeladze (1985). Bild: P. Sägesser


Typische Holzkonstruktionen in der Altstadt von Tiflis. Bild: P. Sägesser
Kinosaal über einer archäologischen Ausgrabungsstätte in Mzcheta. Bild: P. Sägesser

Von der Hauptstadt in einem Tagesausflug erreichbar sind die Städte Gori und Rustavi, die ein Name verbindet: Stalin. Im Zentrum von Gori liegt an der Stalin-Allee ein grosser Park mit dem wiederaufgebauten Geburtshaus Stalins. Ein Museum huldigt dem Diktator seit 1951 unverändert. Auf dem Weg nach Gori sollte man unbedingt im Mzcheta Halt machen. Neben der eindrücklichen Svetizchoveli-Kathedrale, die zum UNESCO-Welterbe gehört, gibt es im Ort ein wunderschönes Kinotheater aus den 1960er-Jahren. Leider ist es nicht mehr in Betrieb und der Bau in einem desolaten Zustand. Man kann sich nur vorstellen, was für ein Erlebnis ein Kinobesuch hier gewesen sein muss: Über archäologischen Ausgrabungen schwebt der Zuschauersaal. Eine Promenade Architecturale führt vom Kassenraum mit Blick auf die Ausgrabungen hinauf ins Foyer und von da in den Saal. Nach der Vorstellung verliessen die Besucher den Saal über zwei seitlichen Stege.
 

1947 ordnete Stalin im Rahmen der Industrialisierung der Sowjetunion die Neugründung der Stadt Rustavi an. Es entstand das grösste Stahlwerk des Kaukasus und eine Stadt im Stile des Sozialistischen Realismus. Mit dem Tod Stalins 1953 und der Machtübernahme durch Chruschtschow forcierte man das industrielle Bauen. In Rustavi entstanden Wohngebiete mit Plattenbauten. So sind hier in Reinform zwei komplett unterschiedliche Vorstellungen von Städtebau verwirklicht worden. Während die stalinistische Stadt abgesehen vom Hauptsitz des Stahlwerkes einen menschlichen Massstab hat und fast mediterranen Charme ausstrahlt, mangelt es den Plattenbauquartieren an einer städtischen Identität.

Typischer Wohnungsbau in Rustavi im Stile des Sozialistischen Realismus. Bild: P. Sägesser
Beste Reisezeit für Georgien ist der Herbst, wenn es in Tiflis nicht mehr so heiss ist, und die Wälder in den Bergen in allen Farben leuchten. Nicht nur Wanderer sollten ein paar Tage im Grossen Kaukasus verbringen – die Landschaft ist überwältigend.
 

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Der Architekt Peter Sägesser arbeitete in Budapest als der Eiserne Vorhang 1989 fiel. Auf Reisen in Ungarn und anderen ehemaligen kommunistischen Ländern entdeckte er bemerkenswerte Architektur, die im Westen gänzlich unbekannt war. Seither dokumentiert er diese vom Zerfall bedrohten Werke. Seit 2006 auf der Website www.ostarchitektur.com.

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