(br.de) Stephan Wackwitz ist ein weitgereister Intellektueller. Derzeit leitet er das Goethe-Institut in Tiflis - und als Autor beobachtet er seine Umgebung sehr genau. Sein neues Buch berichtet von Reiseeindrücken in Tiflis, Baku und Eriwan.
Wackwitz' Buch versammelt Stücke, die zwischen September 2011 und Juni 2013 in Georgien entstanden sind und ist aus bewusst subjektiver Perspektive geschrieben. Stephan Wackwitz setzt auf Beschreibungen, schildert Blicke und Erlebnisse, ist nicht so sehr auf Pointen oder Anekdoten aus, sondern eher auf atmosphärische Dichte. Und immer wieder stellt er Bezüge zu seinem eigenen, in der westlichen Kultur und Theorie verankerten intellektuellen Universum her.
Die Zukunft der Vergangenheit
Die Silhouette einer Frau, die eine Straße heruntergeht, sieht für Wackwitz aus "wie eine Tuschezeichnung von Saul Steinberg", im Mtatsminda-Park von Tiflis mit seinem Riesenrad, seinen Karussells und Geisterbahnen erinnert ihn die Koexistenz des Absurden mit dem Poetischen an Fellini-Filme, die Bemalungen eines Betontrogs für Blumen aus der Sowjetzeit lassen ihn an Sigmar Polkes Gemälde "Moderne Kunst" von 1968 denken. Solche Verweise illustrieren auch das sperrige Zeitverhältnis, das den Besucher aus dem Westen im postsowjetischen Georgien erwartet: Vieles, was ihm hier begegnet, stammt aus einer anderen Ära und ist doch, wie es ist, weil die Gegenwart ist, wie sie ist.
Für diese Erfahrung findet Stephan Wackwitz eine Formulierung bei Walter Benjamin. Der schreibt in seinen Erinnerungen "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" von besonderen Orten, an denen es scheine, "als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes". "Prophetische Winkel" nennt Benjamin solche Orte, und Stephan Wackwitz trifft auf sie auch im Mitteleuropa von heute: Bauten, Stadtsituationen, Szenen, die zugleich Erinnerungen und Utopien verkörpern. Und die von einer Zukunft zeugen, die längst vergangen ist - oder nie Wirklichkeit wurde. Wackwitz hat in sein Buch Fotografien von Bushaltestellen eingefügt, deren futuristische oder anarchische Architektur und Ausstattung, inzwischen dem Verfall überlassen, an einen speziellen Gestaltungswillen von gestern für mögliche bessere Zeiten erinnern.
Das Georgien-Gefühl
Die Verbindung des Europäischen mit dem Orientalischen, das ihm in Tiflis begegnet, zieht Wackwitz an, er erkundet Georgien mit einem sehnsuchtsvoll-melancholisches Gefühl. Der Autor beschreibt es, ist aber reflektiert genug, ihm auch zu misstrauen. "Die kämpfende Modernisierung ist ästhetisch, politisch, moralisch interessanter als die siegreiche Moderne", weiß Wackwitz, gegenüber die Politisierung eines solchen Gefühls, wie sie etwa Peter Handke in den 90er-Jahren in Bezug auf Jugoslawien unternommen hat, ist er aber durchaus skeptisch. Wackwitz beschreibt Georgien als ein Land im Umbruch, dessen Ziel Demokratie und Moderne heißt und der in zwei Jahren einen Wandel mit sich bringt, wie er im Westen nicht denkbar ist: Das Stadtbild der Hauptstadt hat sich radikal verändert, Politiker, die 2011 fast allmächtig schienen, sitzen 2013 in Untersuchungshaft.
"Wir Bürger der reichen und freien Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks vergessen manchmal, dass Demokratie ein Experiment und der Ausgang von Experimenten offen ist. Der postsowjetische Transformationsprozess im Südkaukasus kann uns daran erinnern." (Stephan Wackwitz)
Die Gegenwart der Geschichte
Um Transformationsprozesse zu verstehen, muss man die Geschichte kennen. Sie ist auch im Buch von Stephan Wackwitz präsent. Er berichtet von der in den 20er-Jahren erbauten sowjetischen Modellstadt Eriwan, vom Schicksal historischer Bauten wie der Bagrati-Marienkathedrale im georgischen Kutaissi, für die eine brachiale Restaurierung des hochmittelalterlichen Baus mit Betonkuppel, Panoramafenster und Personenaufzug geplant wurde. Wackwitz schreibt über eine Gesellschaft, die um ein neues Selbstverständnis ringt, über Demonstrationen für die Rechte von Homosexuellen und gewalttätigen Gegendemonstrationen überzeugter Orthodoxer, die sich auf alte Werte berufen. Als Zugereister, der für längere Zeit in Georgien arbeitet, ist der Autor nah genug dran, um solche Entwicklungen genau beobachten zu können. Und zugleich hat er ausreichend Distanz, sie zu den eigenen, den westlichen Erfahrungen mit dem komplizierten Projekt der Modernisierung ins Verhältnis zu setzen.
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, leitet heute nach Stationen in Neu Delhi, Tokio, Krakau, Bratislava und New York das Goethe-Institut in Tiflis. Er hat Romane, autobiografische Bücher und Reiseberichte geschrieben. Für den Diwan hat Martina Boette-Sonner mit Wackwitz über sein Buch "Die vergessene Mitte der Welt" gesprochen, zu hören ist das Interview in der Sendung am Samstag, 24. Mai 2014 ab 14.05 Uhr auf Bayern 2 (Wiederholung 21.05 Uhr).
Friday, May 30, 2014
RADIO: Stephan Wackwitz, "Die vergessene Mitte der Welt" (br.de)
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