Monday, July 28, 2014

LESETIPP: Noch ein Land, in dem Orangen blüh’n - Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt. Von Ijoma Mangold (zeit.de)

(zeit.de) Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. S. Fischer Verlag; 248 S., 19,99 €, als E-Book 17,99 €

Für das neue Buch von Stephan Wackwitz, Die vergessene Mitte der Welt – Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan, habe ich meinen alten Schulatlas hervorgekramt und festgestellt: Kaum etwas entfaltet eine stärkere Sogkraft als eine Landkarte. Der Finger auf der Landkarte kann dem Feldherrn gehören, der sich ein Weltreich erobern will, dem Entdecker, der neue Räume gangbar macht, dem Kaufmann, der nach der sichersten Handelsroute sucht, dem Investor, der von neuen Märkten träumt, oder dem Kulturtopografen, der in den vergessenen Winkeln des Raumes die Überdauerungen vergangener Zeiten entdeckt.

Darin ist Stephan Wackwitz, einer unserer glänzendsten Essayisten, ganz groß. Als Leiter verschiedener Goethe-Institute kennt er die Welt. Er war unter anderem in Krakau, Bratislava und New York. Doch sein Herz hat er erst jetzt in Tbilissi verloren. Seine Liebe springt auf den Leser über, der sich verwundert die Augen reibt, wie ihm eine Gegend, die ihm bis dahin noch weniger als Hekuba war, zum Sehnsuchtsort wird. Zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer entdeckt Wackwitz einen Raum, der das genaue Gegenteil der Welt ist, in die wir mit unserer Miles-&-More-Karte ohne Reibungsverluste einchecken können. Als Mitte der Welt bezeichnet Wackwitz den Kaukasus, weil er geostrategisch eine Drehscheibenfunktion hatte zwischen Europa, Asien und Afrika. Keine Weltmachtfantasie, in der er nicht vorkommt. Gleichzeitig ist Georgien eine arkadische Landschaft, von den Russen gern als ihr Italien umschwärmt (und erobert). Wie in einem frühen Fellini-Film fühlt sich Wackwitz hier, weil sich die schockartige Modernisierung mit dem geschichtsfatalistischen Verfall, der Renitenz des Überkommenen, verbindet und so Dumpfheit in Poesie verwandelt. Die elementare Kraft der Dinge schlägt Wackwitz in ihren Bann. Ein bisschen ist er in diesem Buch der Peter Handke der Seidenstraße. Nur Dummköpfe können das für eine abschätzige Bemerkung halten.

Ijoma Mangold

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