Über Georgien hört man im Grunde nichts bzw. sehr selten etwas. Erst recht nicht heute, in Zeiten, wo der Corona-Virus "regiert". Ein kleiner, christlich geprägter Staat (sh. Wikipedia) mit gerade einmal 3.729.635 Einwohnern. Das Land erklärte sich am 26. Mai 1918 für unabhängig und erlangte nach dem Ende der UdSSR am 9. April 1991 wieder die Unabhängigkeit. Ich kannte das Land lange nur unter der vom Russischen herrührenden Bezeichnung Grusinien (Грузия (Grusija) früher gelegentlich auch Grusien oder Grusinien genannt; Quelle: Wikipedia).
Zuletzt war Georgien während der Olympischen Spiele in Peking stärker in den Fokus der Nachrichten gerückt. Micheil Saakaschwili, von 2004 bis 2013 Staatspräsident Georgiens, (an dessen geistiger Gesundheit so mancher zweifelte) ließ, während die Weltöffentlichkeit mit den Olympischen Spielen beschäftigt war, in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 – also zeitgleich mit dem Beginn der Olympischen Spiele in Beijing - die Hauptstadt der "abtrünnigen Republik" Südossetien, Zchinwali, militärisch angreifen, um dieses - innerhalb der Grenzen der früheren sowjetischen Teilrepublik Georgien gelegene - Territorium (erstmals seit der Zerstörung der UdSSR) der Hoheit des unabhängigen georgischen Staates zu unterstellen. Russland, das sich als Schutzmacht Südossetiens verstand (und versteht), reagierte mit einem militärischen Gegenschlag und drang auf "kerngeorgisches" – wie es hieß - Territorium vor.
Über die Geschichte Georgiens dürften viele von uns – beschönigend ausgedrückt - keine größere Kenntnis besitzen. Das Verhältnis von Georgien und Russland ist ambivalent. Der Historiker Philipp Ammon charakterisiert es in seinem Buch „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924“ als „tiefverwurzeltes, gleichsam metaphysisches Spannungsverhältnis“ . Gegen Ende seines hochinteressanten Buches lesen wir in den Schlussbetrachtungen:
„Im Verhältnis der beiden christlich-orthodoxen Länder unterschiedlich ausgeprägter Tradition spiegelt sich ein Muster von Nähe und Fremdheit, von Verbundenheit und Abkehr, von russisch-imperialer Homogenisierung und georgischer Identitätsbehauptung. Die Beziehung von Georgiern und Russen war von Anbeginn die ungleicher Partner. Seit dem späten Mittelalter sehen wir das kleine Georgien als beim nördlichen Reich Schutzsuchenden. Das Zarenreich war hingegen seit Peter d. Gr. an einer Ausgangsbasis für ein weiteres imperiales Ausgreifen nach Persien – späterhin mit Perspektive auf Indien – und den Dardanellen interessiert. Eine Harmonisierung derart unterschiedlicher Interessen fand zu keiner Zeit statt. Wie schon erstmals im Jahr 1483 König Alexander I. von Kachetien gegenüber dem Großfürsten – in der Selbstbezeichnung gegenüber Mindermächtigen sich erstmals „Zar“697 bezeichnenden – Ivan III. d. Gr. oder um 1720 Vaxt’ang VI. gegenüber Peter d. Gr. traten bei den Verhandlungen zu dem immer wieder zitierten Vertrag von Georgïevsk 1783 die Georgier als Bittsteller auf. Auf die von Georgiern bis heute als "Verrat" gedeutete verheerende Niederlage von K’rc’anisi (1795) gegen die Perser folgte die unter demütigenden Umständen vollzogene Annexion von 1801. Die Wegführung der Bagratiden nach Russland erscheint symbolhaft für den rücksichtslosen Umgang des Imperiums mit dem hilflosen kaukasischen Königreich. Anders als beim Anschluss der baltischen Provinzen unter Peter d. Gr., bei welchem sämtliche ständischen Rechte gewahrt und die deutsche Selbstverwaltung beibehalten wurde, oder bei der Inkorporation des durch einen Bagratidengeneral eroberten Finnland (1809) nahmen die Russen bei der Annexion Georgiens keine Rücksicht auf die lokalen Traditionen. Der Modus der Annexion – der dem Adel unter Bajonetten aufgezwungene Treueid in der Zionskirche 1802 – blieb im historischen Gedächtnis des Volkes, nicht nur des Adels haften. Zum ersten Bezugspunkt des verletzten Rechtsbewusstseins wurde so die Missachtung der im Vertrag von Georgïevsk getroffenen und in den Bittpunkten vom Zaren bestätigten Vereinbarung über die Beibehaltung des bagratidischen Königtums. Die Inkorporation Georgiens folgte demselben Muster wie die der benachbarten muslimischen Khanate.
697 v. Rimscha, S. 142.“
Nichtsdestotrotz, arbeitet der Autor heraus, gibt es in beiden Völkern Sympathien für das jeweils andere Volk. Ebenso freilich Antipathien.
Das wird auf Seite 212 des Buches verständlich:
"Fehlwahrnehmungen, machtgestütztes Vorgehen der Russen und Widerstand der Georgier führten zu Entfremdung. Doch die russische Dichtung löste sich nie von ihrem Traumland Georgien. Um eine einseitige Sicht der Dinge zu vermeiden, galt es, die unter russischer Herrschaft erzielten zivilisatorischen Fortschritte im Kaukasus zu berücksichtigen. Die russische Verwaltung beendete Jahrzehnte barbarischer Einfälle und islamischer Fremdherrschaft.705 Die drohende Vertilgung des georgischen Volkes wurde abgewendet. Schließlich brachte die russische Expansion in Transkaukausien eine "Sammlung der georgischen Erde" zuwege, die Verwirklichung des georgischen Traumes seit der Mongolenzeit.706 Georgien verdankte seine Konsolidierung als einheitlicher politischer Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Machtentfaltung des petrinischen Imperiums. Durch wirtschaftlich-technische und administrative Integration schuf Russland überhaupt erst die Voraussetzungen für die Herausbildung georgischer Staatlichkeit. Die unter imperialer Ägide entstandenen Institutionen bildeten die Vorformen des georgischen Staates. Die Leistungen Russlands in Georgien wurden überwiegend anerkannt. Auch die Vereinigung Georgiens durch russische Annexionen wurde als politischer Gewinn erkannt. Erst unter dem Szepter des Zaren war das alte Georgien fast wiedervereint."
Ebenfalls interessant:
"Zu den Besonderheiten der russisch-georgischen Geschichte gehört, dass die Loyalität gegenüber dem Zarenreich seitens nationalbewegter Georgier trotz aller erfahrenen Härten über lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde. Im Jahre 1880 – vor dem Regierungsantritt Alexanders III. – schrieb der Journalist Sergi Mesxi in der Zeitschrift Droeba, dem Sprachrohr der Nationalbewegung: "Wir haben uns guten Willens Rußland anvertraut, dem wir grenzenlos ergeben sind." Er fügte jedoch warnend hinzu, der Schulinspektor Janovskïj "versündigt sich gegenüber Rußland, weil er versucht, ihm die Liebe und Ergebenheit des georgischen Volkes zu rauben"." Anscheinend hat sich Sprache, Kirche und Kultur Georgiens unter der Sowjetherrschaft sogar zeitweise günstiger entfalten können als unter der Herrschaft des Zaren: "Die unterschwellig gleichwohl stets herbeigesehnte nationale Unabhängigkeit fiel den Georgiern in den Revolutionsjahren 1917/18, genauer: im Gefolge von Brest-Litowsk, eher zufällig zu. Mit dem durch die deutsche Niederlage besiegelten Umschwung der Machtverhältnisse sah sich das unabhängige Georgien in einer teils bekannten, teils neuartigen Zwangslage: im Süden die Jungtürken, im Norden die Bolschewiken. Der Verlust der Unabhängigkeit war indes nicht das Werk Lenins, sondern jener georgischen Bolschewiken, die ihr Heimatland in das neue, vermeintlich völkerverbindende Sowjetreich heimholen wollten. Zur Ironie der russisch-georgischen Geschichte gehört die Tatsache, dass sich Sprache, Kirche und Kultur Georgiens unter der Sowjetherrschaft zeitweise ungestörter entfalten konnten als unter den Zaren. Zu Recht verweist Reisner darauf, dass sich die Dialektik von russischem Machtausbau und georgischer Selbstbehauptung in vollem Umfang sogar erst in Zeiten der Sowjetherrschaft entfaltete, als der Ausbau georgischer nationaler Institutionen – zu nennen sind hier nicht nur Schulen, Universitäten, Akademien, sondern auch die kommunistische Staatspartei Georgiens, der Staatsapparat und der Geheimdienst – voranschritt. Anders als Rosa Luxemburg erkannte Lenin der Nation durchaus eine fortschrittliche Funktion zu."
Was man auch berücksichtigen sollte:
"Die Loyalität der Georgier gilt der Kirche, nicht ihrem Staat. Diese geringe Staatsbindung verleiht den Regierungswechseln seit dem Ende der Sowjetherrschaft revolutionären bis bürgerkriegsartigen Charakter, verbunden mit jeweils komplettem Austausch der Staatsdienerschaft. Politik gerät in Georgien in die Nähe einer permanenten stásis – ein Moment, das von den Georgiern selbst leider kaum reflektiert wird. Weit bequemer ist es, die schwache Staatlichkeit auswärtigen Mächten wie Russland anzulasten."
Noch immer wird in Georgien Stalin hochverehrt; während auf der anderen Seite Antikommunismus existiert. Beides werde jedoch nicht als Widerspruch empfunden.
Am schwierigen Verhältnis zwischen Russland und Georgien – lesen wir aus dem Text von Ammon heraus dürften beide Staaten wechselseitig nicht frei von Schuld sein:
"In diesem Zusammenhang spielt aber auch das von Dostoevskïj und Vasilïj Rozanov722 beklagte Desinteresse der Russen an der Historie, nicht zuletzt an Geschichte und Selbstverständnis der imperial angeeigneten Völker, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Umgekehrt leidet auch die georgische Historiographie nicht an übertriebener Selbstkritik. Beide Dispositionen sind einer vernünftigen Politik nicht förderlich. Selbst da, wo mit großem Aufwand Versuche einer Verständigung unternommen werden, zeichnet sich keine Wende zum Positiven ab."
Georgien ist nicht zuletzt so etwas wie ein Spielball – meint Philipp Ammon – in einer Neuauflage des "Great Game" zwischen den USA und Russland im Nahen Osten. Nichts so ganz eues: Habe doch Georgien seinerzeit Peter dem Großen als Aufmarschgebiet gegen Persien gedient. Und in der Gegenwart werde das Land nun von den USA und Israel in eine vergleichbare Rolle als strategische Basis gegen Iran manövriert. Ob Georgien gut beraten war (freilich in der verständlichen Absicht sich von russischem Einfluss fernzuhalten) sich die USA als neue Schutzmacht quasi an den Hals zu schmeißen, nachdem es wohl nicht an entsprechenden Winken aus Washington gefehlt haben dürfte, darf m.E. stark bezweifelt werden.
Der Vorhang zu und alles Fragen offen, könnte man nach der Lektüre betreffs des Verhältnisses zwischen Russland und Georgien sagen. Denn von positiven Aussichten betreffs einer möglichen Verbesserung des Verhältnisses beider Länder kann das Buch freilich keine Kunde geben.
Um aber zu verstehen, um nachzuvollziehen warum die Situation so ist wie sie heute ist, war es sehr lehrreich, dieses Buch von Philipp Ammon zu lesen. Man kann es durchaus als veritables Geschichtsbuch mit einer Fülle von genau beschriebenen Hintergründen bezeichnen. Ammon hat für das Buch unglaublich tief gelotet und viel Wissenswertes an den Tag befördert. Eine unglaubliche Fleißarbeit, die nicht hoch genug geschätzt werden kann, leistete der Autor augenscheinlich, die jedoch nötig war, um möglichst alle erreichbaren Quellen (akribisch aufgeführt) zu studieren, um diese Arbeit zu leisten. Einfach so und sozusagen in einem Rutsch ist das Buch – mit den vielen Hinweisen und Quellenangaben – logischerweise nicht zu lesen. Aber es ist für diejenigen, welche sich für dieses ansonsten meines Wissens wenig beackerte Thema interessieren dann doch unverzichtbar. Das Buch dürfte darüber hinaus aber auch für einen breiteren Leserkreis von Interesse sein. Die Zeit zur Lektüre dieses Buches wird man sich dann gewiss gerne nehmen. Und in der Corona-Krise hat sicher manche/r womöglich auch die Muße sich dem Buch in Ruhe zu widmen.
Das Buch
Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924
Neuauflage Neuauflage der ersten Ausgabe von 2015 mit einem Nachwort von Uwe Halbach
2020. 238 Seiten. Kt 29,80 €
Format 14 x 21,5 cm
ISBN 978-3-465-04407-9
Klostermann Rote Reihe 117
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