(oe1.orf.at) Der russische Dichter Boris Pasternak nannte die Stadt eine Chimäre - ein Fabelwesen mit westlichem Kopf und östlichem Rumpf. Tiflis, georgisch Tbilisi, verdankt seiner strategischen Lage an sieben historischen Handelsstraßen nicht nur Gutes. Die Perser haben Tiflis erobert, die Araber, Byzantiner, Seldschuken. Den Georgiern und ihrer wichtigsten Stadt waren nur kurze Perioden der Unabhängigkeit gewährt - im Mittelalter beispielswiese, einer Blütezeit des nach seinen heißen Thermalquellen benannten Tiflis mit frühchristlichen Kirchen, Badehäusern und bemerkenswert urbaner Kultur.
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17:05 Intro
17:14 Die Rolle der Kirche
17:17 Wohin junge und ältere Tifliser sich heute orientieren
17:39 Tifliser Kreativszene
17:52 Geschichtsstunde am Friedhof
17:55 Revolutionskunde
18:12 Wunderland der Baukunst
18:34 Leben im Plattenbau
18:51 Im Badehaus
1801 annektierte das zaristische Russland Georgien. Romantiker in Petersburg und Moskau schwärmten für ihr "Italien", den Kaukasus. Der russischen Epoche schuldet Tiflis manche seiner schöneren Viertel, darunter den Rustaweli-Boulevard mit Prunkbauten und Jugendstilhäusern, den sieben sowjetischen Jahrzehnten hingegen ausgedehnte Plattenbauten, den jüngeren Jahren aber spektakuläre Neubauten etwa der italienischen Architekten Massimiliano und Doriana Fuksas.
Die Umgestaltung der Stadt scheint zum Zankapfel zwischen Präsident und Bürgermeister und zum Gegenstand symbolischer Kulturkämpfe geworden zu sein: zwischen liberal eingestellten Modernisierern und konservativen Nationalisten. Georgische Intellektuelle beklagen ein rauer werdendes Klima in der einzigen georgischen Millionenstadt - die bis jetzt eine kosmopolitische Metropole und Zentrum einer produktiven Kunst- und Kulturszene war und ist.
Eine Sendung im Rahmen des Ö1 Schwerpunktes "Nebenan - Georgien".
Tschaikowskys Klavier und Thonetsessel
Das Land, wo die Zitronen blühen, war für die Russen Georgien. Puschkin kam nach Tiflis, Romantiker wie Lermontow besangen den Kaukasus. Arthur und Bertha von Suttner verbrachten Jahre in Tiflis, während georgische Adelige Europa bereisten. Und jetzt, nach 70 Jahren sowjetischer und bald drei Jahrzehnten postsowjetischem Durchwursteln? Wohin junge und ältere Tifliser sich heute orientieren.
Aufbruch aus der Dunkelheit
Mit dem Geräusch von Generatoren begann unser Stadtporträt im Jahr 2000: Diese erzeugten in Tiflis Tag und Nacht den Strom, der nicht aus der Steckdose kam. Die Profiteure der nicht-und-nicht behebbaren Dauerpanne vermutete man ganz nah am damaligen Präsidenten Edward Schewardnadze. Und das war nur ein Beispiel für die allgegenwärtige Korruption. Inzwischen erstrahlen Tifliser Sehenswürdigkeiten nachts in hellem Glanz, Strom gibt es rund um die Uhr. 2003 fegte die Georgische Rosenrevolution die exkommunistische Nomenklatur aus dem Amt, eine von vier sogenannten Farbrevolutionen in sozialistischen oder postsozialistischen Ländern. Waren sie vom Westen gesteuert, wie Sympathisanten Russlands behaupten?
Schwammerln, Röhren, Slip-Einlagen
Der Revolutionspräsident Mikheil Saakashvili hat ein spektakuläres Erbe hinterlassen: architektonische Eye-Catcher von georgischen und internationalen, vor allem italienischen Architekturbüros, setzen im Stadtbild Akzente, von Touristen bestaunt, von Einheimischen auch gern verspottet. Dorothee Frank über die markantesten Neubauten, vom klotzigen Biltmore-Hochhaus bis zu gläsernen Amtsstuben.
Der Streit um die Luft
Noch weitere gebaute Sensationen sollen folgen, geht es nach dem Milliardär Bidzani Ivanishvili, dem Mann hinter und auch ober der aktuellen Regierung. Er residiert auf einem Hügel über Tiflis. Sein Panorama-Projekt würde die schon jetzt strapazierte Altstadt weiter verschandeln, befürchten Bürger und Bürgerinnen der Stadt. Und greifen zum Spaten, um Bäume zu pflanzen, weil immer mehr Grünraum in der Stadt der Bauspekulation zum Opfer fällt. Ein nicht nur symbolischer Streit darüber, wie das Tiflis der Zukunft aussehen soll.
Kaffee um Mitternacht
Auf Besuch bei einem jungen Ehepaar, Lado und Sally. Das wohnt so, wie rund die Hälfte der Tifliser Bevölkerung: im Plattenbau. 14 große Siedlungen sind in sowjetischer Zeit entstanden, zum Teil weit außerhalb der ursprünglichen Stadt und heute zum Teil in schlechtem Zustand. Lado und Sally erklären, warum sie trotzdem nicht aus der Platte wegziehen, und warum junge Georgier unbezahlte Überstunden machen.
Kleinmöbel und Musik
Beobachtungen des in Tiflis lebenden deutschen Autors Stefan Wackwitz, davor streifen wir durch die ebenso schöne wie bedrohte Altstadt. Ist Tiflis das neue Berlin? Die Tifliser Kunst-, Musik- und Ausgehszene bringt manche Trend-Scouts ins Schwärmen; eine kleine internationale Community hat Wurzeln geschlagen. Der deutsche Filmemacher Stefan Tolz findet in Tiflis gar südfranzösisches Flair. Wir machen eine Stippvisite in einem Tifliser Badehaus und besuchen einen alten Friedhof. Musik aus und über Tiflis begleitet uns durch die Sendung, zu Beginn gibt’s Hardcore. Der Chor der ältesten Kirche von Tiflis, der Anchiskhati-Kirche, singt nur für westliche Ohren dissonant, das Volkslied Adila Alipasha.
Service
Adolph Stiller (Hg.), "Tiflis. Architektur am Schnittpunkt der Kontinente", aus der Reihe "Architektur im Ringturm", Müry Salzmann Verlag
Stephan Wackwitz, "Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan", S. Fischer Verlag (antiquarisch)
Stephan Wackwitz, "Tiflis, fünf Jahre später" in Merkur Heft 810, Verlag Klett-Cotta
Marlies Kriegenherdt, "Reise Know-How Georgien. Reiseführer", Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH
Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.), Zeitschrift "Osteuropa" Heft 7-10: "Grenzland. Konflikt und Kooperation im Südkaukasus", Berliner Wissenschafts-Verlag
Kaukasische Post
Friday, December 02, 2016
#NEBENANGEORGIEN: Stadtporträt Tiflis. Die Stadt an der Kreuzung. Eine Sendung von Johann Kneihs und Peter Lachnit vom 12.11.2016 (oe1.orf.at)
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