Thursday, December 15, 2005

Über den georgischen Charakter

Die Mentalitätsgeschichte pendelt zwischen zwei Extremen der georgischen Identität. Einerseits hält sich der Georgier die Finalität seiner Existenz vor, andererseits unternehmen Georgier energische Anstrengungen, sich im Leben gegenseitig zu beflügeln. Die georgische Kultur mit all ihrem antiken Gewicht und ihrem Klassizismus war dabei der stabilisierende und ausgleichende Faktor.
Anhand zweier Witze läßt es sich gut illustrieren, worum es dabei geht.
Ein Bauer aus Kachetien macht es sich im Schatten eines Walnussbaums bequem. An seiner Seite ein Krug voll Wein, aus dem er genüsslich trinkt, während er das Panorama des Kaukasusgebirges und des Alasani-Tals betrachtet. Plötzlich nähert sich ein amerikanischer Milliardär, den man zu ihm geführt hat, und zwischen den beiden entspinnt sich der folgende Dialog: „Was machst du so den lieben langen Tag?“ fragt der Milliardär. „Nun, es ist sehr heiß...“ antwortet der Bauer. „Dann steh mal auf, schau dir all die Nüsse an diesem Baum an, schüttele sie herunter, heb sie auf, bring sie zum Markt, verkauf sie, ...“„Und dann?“ „Und dann brauchst du nur noch das Geld anzulegen, das du mit deinem Geschäft verdient hast, und es für dich arbeiten zu lassen...“„Und dann?“ „Dann musst du ein Unternehmen gründen, eine Fabrik bauen, und so wirst du ein Chef... Du wirst so reich wie ich werden, du wirst ein Milliardär...“ „Und dann?“ „Dann kannst du dich zurücklehnen, brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen und kannst es dir unter diesem Baum bequem machen und dabei deinen Wein trinken...“ „Aber das mache ich doch gerade!“
Die Sicht der Welt
Kein anderer Witz könnte eine treffendere Beschreibung der wahren Natur des georgischen Charakters geben. Nichts ist aufschlussreicher als die spontane Verwunderung des georgischen Bauern. Hierin drückt sich das Wesen der georgischen Natur aus, in all seinen philosophischen, ich würde fast sagen religiösen Dimensionen... Der Witz stellt ihren Archetypus dar. Die Art, mit der der Bauer aus Kachetien die Wirklichkeit auffasst – seine Sicht der Welt – konfrontiert uns direkt mit den wichtigsten ontologischen und existenziellen Fragen: Was ist die Existenz? Was ist das Sein? Was ist ihre Existenzberechtigung, wenn nicht die direkte Herrschaft über Zeit und Dauer?
Das Fortschreiten der Zeit ist recht eigentlich mit dem Ziel verknüpft, das der Existenz eingeschrieben ist, sowie mit den Mitteln, die zur Erreichung dieses Ziels aufgeboten werden. Diese Anstrengungen sind wie eine Kette, und die Glieder dieser Kette sind nichts anderes als fortwährende Modifikationen der Zeit. Das Zerreißen dieser Kette bedeutet das Nicht-Erreichen und also den Stillstand der Zeit.
Für den Georgier existiert die Zeit nicht außerhalb der Existenz, sie ist mit dieser Existenz unmittelbar verwoben und kann daraus nicht extrahiert werden, ohne sie aufzulösen. Der georgische Bauer existiert hier und jetzt nicht hinsichtlich eines Ziels, sondern er ist schon am Ziel. Die Existenzberechtigung und die Existenz sind miteinander verwoben.
Der Milliardärs hingegen sieht seine Existenzberechtigung in der Aktion erst aktiv kommt er zu seinem eigentlichen Ziel. Zwischen der Weltsicht des amerikanischen Milliardärs und der des georgischen Bauern besteht ein grundlegender Unterschied. Das bedeutet nicht, daß nicht auch der georgische Bauer nicht gerne Milliardär werden würde, aber eben nur nach seiner Fasson: mit einem Minimum an Anstrengung oder ohne jede Anstrengung, unverzüglich und plötzlich, und vor allem ohne mit all dem zu brechen, was zu seinem Naturell gehört.
Die Verweigerung jeglichen Entgegenkommens
Dieser besonderen Auffassung der Zeit entspricht eine spezielle Sicht des Raums, die durch einen anderen bekannten Witz illustriert wird, der aus Westgeorgien, aus Gurien kommt:
Sitzt ein Gurier in Gedanken versunken auf einer Eisenbahnschiene. Ein anderer Gurier kommt vorbei, und als er ihn sieht, beschließt er, sich neben ihn zu setzen. Er tritt zu ihm hin und sagt: „Freund, rück ein Stück zur Seite, damit ich mich auch dahin setzen kann!“
Diese Sicht drückt das existenzielle Leiden aus, das angesichts der Unmöglichkeit der eigenen Freiheit bei der Besetzung des Raumes durch die anderen verspürt wird. Nach der georgischen Auffassung wird der Raum, der von den anderen besetzt wird, als der eigene angesehen, und von daher wird es unmöglich, sich auf den Schienen neben einen anderen hinzusetzen. Denn genau dieser bestimmte Punkt innerhalb des unendlichen Raums, der jetzt von einem anderen besetzt wird und den ich aufgrund einer Art transzendentaler Wahrnehmnung als mir gehörig ansehe, muss befreit werden, damit sich meine Freiheit realisieren kann. Wenn das nicht geschieht – wenn der andere sich nicht umsetzt und mir dadurch den Platz freimacht – wird mir meine Existenz und mein Handeln unmöglich gemacht. Die Daseinsberechtigung meiner Existenz wird somit abhängig von meiner Fähigkeit, den anderen dazu zu bringen, sich umzusetzen, oder von seiner Bereitschaft, mir den Platz zu überlassen. Aber ist der andere, der auf den Schienen sitzt, nicht letztlich auch mein Bruder, und sieht nicht auch er diesen Platz als den seinen an...?
In dem einen Fall erzeugt das Bestreben, das Ziel direkt im „leeren Raum“ zu bezwingen, eine Gleichgültigkeit gegenüber den Mitteln, die zur Verallgemeinerung des Prinzips „Alles ist erlaubt“ führen. In dem anderen Fall resultieren aus der Wahrnehmung, daß der Raum, den die anderen besetzen, mir gehört, aggressive Anspruchshaltungen und die Verweigerung jeglichen Entgegenkommens. Daraus folgt, daß es unendlich leichter ist, die Georgier gegeneinander aufzubringen, als sie dazu zu bringen, geschlossen zusammenzustehen, wenn es etwa darum geht, einer Bedrohung von außen entgegenzutreten. Dieser Charakterzug ist nicht ohne gravierende Folgen ...
Die ausgleichende Rolle der Kultur
Die Geschichte Georgiens spielt sich auf einem Feld ab, das zwischen diesen zwei Polen liegt: auf der einen Seite eine Vision der Finalität der Existenz, auf der anderen Seite die energischen Anstrengungen, sich gegenseitig zu „pushen“.
Jeder anderen Form der Aktivität wird der Georgier es vorziehen, die Seinen zu „pushen“... Daraus ergibt sich die quasi-Unmöglichkeit einer parallelen Aktivität oder echter sozialer Beziehungen. Daraus resultiert auch eine ganze Reihe sozialer Konsequenzen, die von den Behörden des russischen Imperiums perfekt analysiert und ausgenutzt wurden, und die Georgien die schweren Folgelasten beschert haben, die wir heute dort sehen. Die Dekultivierung und die grenzenlose Weiterentwicklung dieser beiden extremen Charakterzüge sind im gegenwärtigen Georgien zu entscheidenden Faktoren geworden.
Die georgische Kultur mit all ihrem antiken Gewicht und ihrem Klassizismus ist der stabilisierende und ausgleichende Faktor gewesen, der es im Laufe der Jahrhunderte erlaubte, diese zwei extremen Charakterzüge der Georgier abzumildern und einzubinden. Daher finden wir gerade dort den feinfühligen und ausgeglichenen Typus des kultivierten Georgiers, der sowohl für die sinnliche orientalische Zivilisation wie auch für die rationale okzidentale zugänglich ist, denn Georgien liegt gerade an der Schnittstelle der orientalischen Zivilisation Vorderasiens und Persiens und der westlichen byzantinisch-christlichen Welt.
Die Probleme und Schwierigkeiten, die Georgien im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte, insbesondere unter den schwierigen Bedingungen der totalitären Epoche durchmachte, hat sich im georgischen Charakter in der Steigerung gerade extremer Charaktereigenschaften niedergeschlagen, wie sie in den beiden Witzen zum Ausdruck kommen, dass also der feinfühlige kulturell-georgische Typus sich kaum kultivieren konnte, es gab den „homo sovieticus“, eine Massentypologie, die dem feinsinnigen mehr kultivierten als indidualisierten Georgier entgegensteht.
Die sowjetische Proletarisierung Georgiens verdrängte die Mentalität des Georgiers, seine kulturellen und soziale Mentalität wurde arg ramponiert. Jedoch auch bei den westlichen Ländern ist die "individuelle Freiheit" mittlerweile eingeschränkt.
Das Revolutions-Erbe
Das, was heute in Georgien und auch anderswo in der ehemaligen Sowjetunion passiert, ist einzigartig und exemplarisch. Keine der anderen Revolutionen, welche Urteile man auch immer über ihre Konsequenzen sprechen mag, hat jemals die Geschichte angehalten, indem sie deren Motor gestoppt hat: das Privateigentum. Ich bin überzeugt, daß die derzeitige Unfähigkeit, die Situation zu verstehen und zu analysieren, in der sich die dem Totalitarismus entkommenen Länder befinden, auch durch die Einzigartigkeit dieses Phänomens bestimmt wird.
Das Paradoxe der Revolutionen besteht darin, daß sie am Ende die abgehalfterten Strukturen des vorhergehenden, schon gestürzten Regimes übernehmen, um sie im Rahmen eines neuen politischen und sozialen Systems zu erneuern, was im Hinblick auf die von der Revolution selbst propagierten destruktiven Prinzipien eine absurde Situation darstellt. Die negative und korrumpierende Tendenz der Revolutionen entspringt dieser grundlegenden Unmöglichkeit, alle Brücken zur Vergangenheit zu sprengen – eine Gegebenheit, die sehr schnell von der revolutionären Verwaltung angenommen und infolgedessen zur Bewahrerin der alten Verwaltung wird und damit den radikalen Bruch unmöglich macht. Diese Unmöglichkeit einer Revolution ist der eigentliche Grundstein der revolutionären Romantik.
Der ganze Text bei caucaz.com:
Artikel Erschienen am 04/12/2005
Von Janri KACHIA in Tiflis
Übersetzt von Gebhard REUL und Gudrun STAEDEL-SCHNEIDER)

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