VOM KRIEG DES WEINBAUERN:
„Jedes Volk hat seinen eigenen Wert. Der des georgischen Volkes besteht darin, daß es wie ein Wald ist, wo die Bäume, das Unterholz, die Gräser und die Vögel im Chor singen.“ (Viktor Šklovskij) Wie an vielen anderen Orten des Sowjetreiches kam es auch in den nichtrussischen Unionsrepubliken zu Beginn der sechziger Jahre zu einer Belebung der Filmproduktion, ein Phänomen, das von der Filmgeschichte später als „Emanzipation der nationalen Kinematographien“ bezeichnet wurde.1 Insbesondere der georgische Film, der sich von Anfang an in eigenen, von der russischen Filmkunst weitgehend unabhängigen Bahnen entwickelt hatte, erlebte in den „Tauwetterjahren“2 eine Renaissance.
Die Stalin-Ära war für die oft kleinen Studios in den südlichen Sowjetrepubliken eine besonders finstere Periode. Von den knapp 290 Spielfilmen, die zwischen 1945 und 1955 in der Sowjetunion produziert wurden, stammten nur 19 aus den fünf zentralasiatischen Republiken. Die drei transkaukasischen Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien produzierten lediglich 22 Filme, von denen 12 aus den noch bevorzugten georgischen Studios kamen.3
Als Chruščev das Erbe Stalins antrat, erklärte er seinen Vorgänger zum alleinigen Verantwortlichen für die Leiden der sowjetischen Bevölkerung. Er verurteilte den „Personenkult“ und beschuldigte das Kino, dessen Komplize gewesen zu sein.4 Das „Tauwetter“ bewirkte in der sowjetischen Kinematographie, in der künstlerischen Praxis, in der Filmästhetik sowie im Verhältnis zwischen Filmkunst und Zuschauer grundlegende Veränderungen. Mitte der fünfziger Jahre wurden viele der alten Einschränkungen aufgehoben, was ein beachtliches Ansteigen der Filmproduktion zur Folge hatte. Regisseure, die in der Vergangenheit interessante Arbeit geleistet hatten, nutzten die neue Freiheit und kehrten zum Experiment zurück. Neue Regie-Talente hatten die Chance zur Entfaltung, wodurch das Kino insgesamt vielfältiger wurde. In einem System, das alle Aspekte des Lebens politisierte, hatte jeder Film, der die Realität mehr oder weniger realistisch zeigte, subversives Potential. Zwar erreichte der sowjetische Film nie wieder die weltweite Anerkennung, die er einst in den zwanziger Jahren genossen hatte, aber die Filme wurden wieder sehenswert und auch international als positiver Beitrag zum kulturellen Leben der Sowjetunion gewertet.5
Die neuen Filme unterschieden sich radikal von der stalinistischen Dogmatik der vergangenen Jahre. Ihre Helden waren gewöhnliche Menschen in einer konkreten Umgebung, die filmisch in einer annäherungsweise realistischen Art und Weise beschrieben wurde.6 Der Film leistete so einen wichtigen Beitrag gegen die Tendenz, Kunst als Bebilderung von Abstraktionen zu verstehen, gegen ei-nen Monolithismus, der keinen Widerspruch zuließ zwischen Individuellem und Gesellschaft, gegen die „perspektivische“ Abbildung einer Realität, die der Theorie des Sozialistischen Realismus entsprang.
Entscheidend für die Entwicklung des Kinos in den nichtrussischen Sowjetrepubliken war in diesem Zusammenhang die Rolle der Moskauer Filmhochschulen, insbesondere des All-Unions-Staatsinstituts für Kinematographie (VGIK) mit seinem zweijährigen Förderstudium, das seit 1960 für Drehbuchau-toren und nach 1963 auch für Regisseure angeboten wurde. Die Moskauer Institute bildeten Schmelztiegel verschiedener „nationaler“ Stile, in denen zukünftige Regisseure von anerkannten Altmeistern des Fachs unterrichtet wurden: Eisenstein, Trauberg, Dovženko sowie deren Nachfolger Savčenko, Rajzman, Romm und Gerasimov. Der positive Effekt von „Quoten” für Studenten der kleineren Republiken und die besonders fruchtbare kulturelle Atmosphäre in Moskau zwischen 1955 und 1965 übten einen tiefen Einfluß auf diese jungen Künstler aus. Auch in Georgien war der Aufschwung in der Filmproduktion durch eine neue Generation von kreativen Regisseuren geprägt, deren stilistischer Bruch mit der Vergangenheit eine vergleichbare Wirkung hatte wie die Tätigkeit ihrer russischen Fachkollegen. Dieser Bruch war nicht einfach. Um ein Projekt zu Ende zu bringen, mußte häufig die Hilfe der Intelligencija, besonders von Schriftstellern, gewonnen werden. Die durch das ”Tauwetter” aufgerissene Kluft war so groß, daß es Regisseuren der früheren Generation wie Arno Bek-Nazarov oder Michail Čiaureli nicht gelang, weiterhin überzeugende Arbeiten zu liefern. Trotz dieser Konflikte entstanden – oft nach ermüdenden Kämpfen der beteiligten Regisseure – Filmwerke, die in der Tradition der nationalen Kinematographien verankert und weit von der von oben verordneten Doktrin des Sozialistischen Realismus entfernt waren. 7
Der geteilte Blick auf ein Paradies In Georgien gelang es, in den Studios der Hauptstadt Tiflis eine neue Filmsprache zu entwickeln, die fest in der Tradition des nationalen Films verwurzelt zu sein schien. Der Erfolg des georgischen Films wurde dem Genre der Tragikomödie zugeschrieben, das auf den Zusammenprall alter patriarchalischer Lebensformen mit der modernen Zivilisation beruhte. Die Grundsituation konnte scheinbar unendlich variiert werden: Ein Bauer kommt in die Stadt, ein Weinbauer an die Front; ein Parteisekretär kämpft gegen lokale Sitten, die im modernen Staat als Korruption, innerhalb der patriarchalischen Lebenswelt des Dorfes jedoch als Verhaltensnorm gelten. Der georgische Film setzt die parabelhafte Abrundung seiner Geschichten gegen die grobe Abbildnatur des Mediums. „Der metaphorische Lakonismus ist die Formel des orientalischen Denkens überhaupt“, so die Einschätzung des georgischen Filmemachers Ėl'gar Šengelaja.8 Kennzeichen georgischer Filme ist demzufolge häufig die Zuflucht in eine sym-bolische und metaphorisch distanzierende, poetisch-humoristische Sprache – am beeindruckendsten in Michail Kobachidzes Meisterwerken9 – oder in anderen Kurzfilmen der georgischen Schule10 – und vor allem in den Arbeiten von Otar Ioseliani.11 Sein Film „Es war einmal eine Singdrossel“ (Icho šašwi mgalobe-li/Žil pevčij drozd, 1971) handelt von einem Paukisten in einem großen Sinfonieorchester, dessen Rolle sich lediglich auf ein paar Trommelwirbel am Ende der Konzerte beschränkt. In zerstreuter Manier kommt er meistens erst in letzter Minute. Der Zuschauer folgt einem ruhigen Träumer, der komponiert, einen Uhrmacher besucht, in einer Bibliothek Bücher liest oder in einem medizini-schen Labor herumstreicht, auf der Suche nach seiner Freundin. Er ist nicht zu fassen, man weiß nie, wo er gerade zu finden ist. Um Haaresbreite verfehlen ihn herabfallende Gegenstände, und am Ende erwischt ihn, als er einem Mädchen nachschaut, ein fahrendes Auto.12
Auch Georgij und Ėl’dar Šengelaja, Söhne des Regisseurs Nikolaj Šengelaja und der populären Schauspielerin Nato Vačnadze, debütierten Mitte der sechziger Jahre als eigenwillige Regietalente. Georgij Šengelaja absolvierte seine Ausbildung an der Moskauer Filmhochschule in den Meisterklassen von Aleksandr Dovženko und Michail Čiaureli. In seinen Werken, die der georgischen Filmkunst zu Weltruhm verhalfen, stehen die Traditionen und die Kultur Georgiens im Mittelpunkt. An seinem vielleicht bekanntesten Film „Pirosmani“ (Pirosmani, 1969; Verleih 1972 mit 107 Kopien und 1,8 Mio. Zuschauern) arbeitete Georgij Šengelaja zwei Jahre lang. Das Werk versteht sich als Annäherung an das rätselhafte Leben des naiven georgischen Volksmalers Niko Pirosmanišvili (1862–1918), genannt Pirosmani. Dabei ist es jedoch nicht als bloße Inszenierung biographischer Stationen zu verstehen, sondern bildet eine Art Dialog des Künstlers und Filmemachers Šengelaja mit einem Maler des alten, vorrevolutionären Georgien, eine Suche nach Übereinstimmung mit der Tradition, eine Reflexion über das Ethos des Künstlers und die moralischen Intentionen seines Seins. Somit wird der Film auch zu einem Beitrag in der Diskussion um die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft – ein Thema, mit dem sich der sowjetische Film während dieser Zeit wiederholt auseinandersetzte.13 Der Film widmet sich dem Leben Pirosmanis im Spannungsfeld seiner außergewöhnlichen Künstlernatur, dem Leben der armen, aber nach den moralischen und ethischen Grundsätzen des Christentums lebenden bäuerlichen Bevölkerung, und der aus Entfremdung resultierenden Einsamkeit in den Städten: Zwei junge Männer stoßen 1912 in einer Kneipe in Tiflis auf Pirosmanis Bilder und entschließen sich, diesen ausfindig zu machen. Dabei stoßen sie jedoch lediglich auf Spuren von ihm, auf weitere Werke, die er anderen Gastwirten zur Abzahlung seiner Schulden hinterlassen hat, auf merkwürdige Geschichten aus seinem Leben, die ihnen von anderen Menschen erzählt werden. Den Einzelgänger, Bauernsohn aus dem kachetischen Dorf Mirsani, zog es in die weite Welt. Deren Krämergeist kann er nicht begreifen, die gleichmacherischen Kunstschulen verachtet er, er wird Dienstbote, Eisenbahnarbeiter, Soldat und schließlich Gebrauchs- und Wandermaler. Er läßt sich durch Weinhändler und Gastwirte ausbeuten und erhält statt Geld oft nur einen Becher Wein oder einen Teller Suppe. Man will ihn verheiraten, doch er macht sich beim Hochzeitsfest davon. Eines Tages wird er in einer Scheune eingesperrt, damit er ein Bild vollendet und dort buchstäblich vergessen. Als man ihn zum Osterfest freiläßt, bleibt ihm die einzige Freiheit, arm und einsam zu sterben. Das Auferstehungsfest scheint hier bereits das des Künstlers nach seinem eigenen Tode zu sein. Der Film parallelisiert somit die künstlerischen und persönlichen Schwierigkeiten der Hauptfigur mit dem Leidensweg und der Auferstehung Christi.14
Auch war die unsichere Zukunft einer Gesellschaft, die nicht mit ihren Traditionen brechen wollte, ein entscheidendes Thema vieler georgischer Spielfilme und machte einige Produktionen aus Tiflis weltweit beliebt.15 In seiner späteren „Pastorale“ (Pastoral‘, 1976) konstatiert Ioseliani, daß der Fortschritt an die Wurzeln rührt. Über die nur scheinbar unberührte Landschaft fliegt ein Flugzeug, das Düngemittel oder Insektizide verstreut; in den klaren Gebirgsbächen detonieren die Dynamitstangen, mit denen man Fische fängt; nachbarliche Streitigkeiten unterbrechen den ländlichen Frieden und die spontane Fröhlichkeit bei einem Familienfest kann insgesamt nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß die Menschen in diesem Dorf wenig von den Segnungen des Fortschritts und der Zivilisation erfahren haben. Und schließlich verschweigt der Film auch nicht, daß in dieser Umgebung die Menschen weniger an der Planerfüllung interessiert sind als daran, mit unter der Hand beschafften Materialien ein Haus zu bauen. Der Film verweilt stärker auf den Unstimmigkeiten und Widersprüchen der Mo-derne als auf dem traditionellen Bild des Georgiers, der singt und eine Menge Wein trinkt.
Auch der später weltbekannte Tengiz Abuladze16 nutzte in „Das Gebet“ (Vedreba/Molba, 1968) die Vergangenheit, um wichtige moralische Fragen zu thematisieren. Arrangiert nach Motiven des bedeutenden georgischen Dichters Važa P'šavela aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, projiziert der Film eine Geschichte vom Scheitern eines Versuchs, einer Ordnung der Gewalt und Unbarmherzigkeit einen Weg der Menschlichkeit und friedlichen Versöhnung entgegenzusetzen, ins Mittelalter. In einem kaukasischen Bergdorf weigert sich ein christlicher Krieger, den getöteten muslimischen Feind nach traditioneller Sitte zu verstümmeln. Er wird daraufhin aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen und begibt sich als nun Vogelfreier auf die Wanderschaft. Er begegnet dem Bruder des Toten, der ihn – anstatt Blutrache zu nehmen – in sein Haus aufnimmt. Dessen Stammesgenossen setzen sich allerdings über das Gesetz der Gastfreundschaft hinweg – der Versuch, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, endet
tödlich. „Das Gebet“ gehört mit „Der Baum der Wünsche“17 (Natvris khe/Drevo želanija, 1977) und „Die Reue“18 (Monanieba/Pokajanie, 1984) zu einem insge-samt dreiteiligen Filmzyklus, der auch im Westen stark rezipiert wurde und dem Regisseur internationalen Ruhm bescherte.19
Tengiz Abuladze begann seine Laufbahn als Filmemacher gemeinsam mit Revaz Čcheidze in der Tradition des Neorealismus. Ihr Debüt „Magdanas Eselchen“ (Lurdža Magdany, 1955) bekam in Cannes einen Preis. Später inszenierten beide Regisseure Filme über die Tragik des Krieges. Abuladze berichtet in „Ich, Großmutter, Iliko und Illarion“ (Ja, Babuška, Iliko i Illarion, 1963) über den Krieg als Einbruch der fremden, feindlichen, hoch technisierten Zivilisation in die patriarchalische Welt eines Dorfes. Revaz Čcheidze zeigt in dem 1964 pro-duzierten Film „Der Vater des Soldaten“ (Otec soldata), wie ein alter Bauer, der von der Verwundung seines Sohnes an der Front erfährt, sein Dorf verläßt, um diesen zu finden.
Der Regisseur und sein überzeugender Hauptdarsteller Sergo Zakariadse erzählen in diesem georgischen „road movie“ vom Zusammenprall der Welt des Weinbauern Georgij Macharašvili und der des Frontsoldaten. Der bodenständige Alte mit seinen vom Dorfleben geprägten Verhaltensmustern ignoriert die Realitäten des Krieges. Selbst im Schützengraben lebt er konsequent nach seinen eigenen Gesetzen weiter, woraus sich im Film Humor und Dramatik ergeben und was den Hauptdarsteller zu einem Liebling des sowjetischen Publikums werden ließ.20
Der alte Georgier gerät über die wechselnden Stationen seiner Odyssee immer näher an die wankende Front einer der erbarmungslosen Sommerschlachten des Jahres 1942. In dem Maße, in dem sich der Unterschied zwischen Zivilbe-völkerung und kämpfender Truppe verwischt, verwandelt sich der scheinbar unbeholfene Alte, den man besorgt nach Hause abschieben will, in einen zähen, tapferen Soldaten, der auch noch den Jüngeren Eindruck abverlangt. Auf der Reise ins Lazarett begegnet Georgij zum ersten Mal der Sowjetarmee – in Form von diszipliniert in geordneten Reihen und zu Marschmusik vorbeiziehenden Truppen, die einen spürbaren Gegensatz zur undisziplinierten Quirligkeit seines Heimatdorfes bilden. Kurz darauf fährt der Alte mit einigen Zivilisten auf einem Pferdewagen, wo er dem Kutscher seine Meinung über den Krieg mitteilt. Der Krieg sei „nicht meine Sache“, sondern eine Angelegenheit für „die Jungen“, die kämpfen könnten – am Zielort angekommen, bemerkt er, daß der Mann ein beinloser Invalide ist, der sich nur auf primitiven Prothesen fortbewegen kann. Auch im Lazarett begegnet er Menschen, die von der Realität gezeichnet sind – verwundeten Soldaten und einem Arzt, der vor Erschöpfung einschläft, als Georgij von seinem Sohn erzählt. Die Konfrontation mit den Ereignissen und Folgen des Krieges kulminiert in der Szene, in der Georgij zwischen die Fronten gerät und aus Wut über den feigen Mord an seinem jungen russischen Kameraden einen deutschen Soldaten erschlägt. Vater Macharašvili will sich nun auch zur Armee melden und es gelingt ihm sogar, den perplexen General zu überzeugen, daß er trotz seines hohen Alters noch „voll einsatzfähig“ ist. Dieser formale und propagandistische Akzent macht den georgischen Soldaten zum Helden.
Noch bemerkenswerter als die Umwandlung von Passivität in Aktivität im Handeln der Hauptfigur ist das starre Gleichbleiben seines Wesens und seines Verhaltens im „Alltag“. Die knorrige Individualität des alten Weinbauern ist so ausgeprägt, ruht so fest in sich selbst, daß sie sogar von der Extremsituation des Krieges unberührt zu bleiben vermag. Nicht die unmenschlichen Maßstäbe und Gesetze des Krieges zwingen sich dem alten Soldaten auf – wenn er auch töten muß – sondern er besitzt die urtümliche Kraft, seine überzeitliche bäuerliche Denkweise von Pflanzen und Ernten, vom Erhalten und Pflegen den Menschen seiner Umgebung aufzuprägen. Macharašvili liebt eigentlich nur seinen Sohn und seine Erde: den einen, weil er Vater, die andere, weil er Bauer ist. Das Konzept der „Erdverbundenheit” zieht sich durch die gesamte Handlung und manifestiert sich permanent in der Handlungsweise des Hauptprotagonisten. Selbst als sich Georgij vor einem Gefecht mit seinen Kameraden zur Deckung ein Erdloch ausgraben muß, zerreibt er sinnierend den Boden zwischen den Fingern: „Gute und lebende Erde“ (zemlja). Auch er ist es, der im verschneiten Boden auf dem Marsch nach Deutschland eine symbolträchtige Entdeckung macht: Ein Grenzschild mit der Aufschrift „SSSR“.
In einer späteren, in der Nähe einer deutschen Kirche spielenden Szene spricht der Alte in seiner georgischen Muttersprache – mit den Weinstöcken, die ihn an sein Dorf erinnern und ihn dazu inspirieren, ein Liedchen anzustimmen. Doch seine Freude währt nur kurz: Ein sowjetischer Panzer biegt von der Straße in das Feld ein und zermalmt die ersten Weinstöcke unter seinen Ketten. Georgij wirft sich vor das donnernde Ungetüm und bringt schließlich die Panzerbesat-zung unter Zuhilfenahme von Ohrfeigen dazu, ihre Richtung zu ändern und die Gewächse zu schonen. Weinstöcke zu zerstören sei für ihn ebenso ein Verbrechen wie Menschen zu töten – wobei er auf zwei im Weinberg stehende deutsche Kinder aufmerksam macht und den Panzerkommandanten auffordert, diese „Faschisten“ doch auch zu erschießen. Wenn der Alte einer vom Kriege abgestumpften, hartgesottenen Panzerbesatzung ins Gewissen redet und erreicht, daß sie beschämt den Weinstöcken ausweicht, die sie gerade zu überrollen im Begriff war, so wird suggestiv eine klare, sichere Gewißheit darüber spürbar, nach welchen Grundsätzen der Mensch – unabhängig von der Situation – sein Handeln auszurichten habe.
In den Kampfszenen fällt Čcheidze zudem des öfteren in den pathetischen Monumentalstil der „stalinistischen“ Kriegsepen zurück. Gleich weit entfernt von dokumentarischem Realismus und distanzierender Abstraktion – man denke an die exzentrische, sich schwerelos drehende Kamera Grigorij Čuchrajs in der „Ballade vom Soldaten“ (Ballada o soldate, 1959) während des deutschen Pan-zerangriffs – entfaltet sich das Kriegsgeschehen in schöner Plastizität, in die Tiefe einer gewaltigen Freiluftbühne gestaffelt. Bezüglich dieser theatralischen Formen scheint sich der Film eher an Werken wie Vladimir Petrovs „Die Stalingrader Schlacht“ (Stalingradskaja Bitva, 1949) oder Michail Čiaurelis „Der Fall von Berlin“ (Padenie Berlina, 1949/50) zu orientieren. Die Szene, in denen Macharašvili auf dem Weg zu seinem Sohn wie ein entfesselter Kriegsgott das Treppenhaus eines von den Deutschen besetzten Gebäudes mit der Maschinen-pistole stürmt, wirkt einer Sequenz bei Petrov nachgestellt, in der ein Sergeant im Alleingang ein Haus in Stalingrad vom Keller bis zum Dachboden von Deutschen leerfegt. Solche Szenen wie auch der ganz als Bühnenfinale inszenierte Abschied Georgijs von seinem sterbenden Sohn auf dem Hausdach über der Stadt stehen im Widerspruch zu der mit chronistischer Sorgfalt beobachteten Detailzeichnung der kleinen Ereignisse und ihrer Charaktere am Rande der Schlacht.
Die Handlung des Films ist einfach und schlicht – doch gerade darin liegt der Charakter ihrer Allgemeingültigkeit. Formal durchschnittlich und mit konventio-nellen Mitteln gestaltet, gelangt der Film doch zu einer eindringlichen Wirkung. Das verdankt er der zweifellos herausragenden Darstellungskunst Sergo Zakariadses. Der freilich nimmt den gesamten Krieg auf seine breiten Schultern. Der georgische Regisseur wollte vermutlich mit dem bäuerlichen Dickschädel be-wußt eine exemplarische Charakterstudie seines ganzen Volkes liefern. Der erdverbundene Bauer, begeisterte Soldat und liebende Vater versetzt in jeder Phase des Films den Zuschauer in den Zustand, dem künstlerischen Abbild des georgischen Weinbauern etwas Vorbildliches und Sinnbildhaftes abgewinnen zu können. „Der Vater des Soldaten“ steht somit zweifellos in der Tradition des in der georgischen Filmschule verbreiteten Genres der Tragikomödie, das auf dem Zusammenprall alter, patriarchalischer Lebensformen mit der Moderne beruht und dessen Grundsituation scheinbar unendlich variiert werden kann. So reihte sich „Der Vater des Soldaten“ ein in eine Galerie skurriler Dorfkäuze, diesem ständigen Ornament der folkloristischen Komödie, in der die Helden in ihren Träumen und Utopien leben und die schlechten Dinge der Realität nicht wahrhaben können oder wollen. Dies führt zu einem unüberwindlichen Auseinander klaffen von Leben und Ideen und endet unausweichlich in der Tragödie. Ėl'gar Šengelaja charakterisierte diesen Sachverhalt wie folgt: „Realismus ist und bleibt ein Produkt des europäischen analytischen Denkens. Die orientalische Kultur strebt nicht nach Abbildung, sondern immer nach Symbolik, Parabel, Ornament. Und die georgische Kultur steht an der Scheide, ja dazwischen." 21
Der in der UdSSR als einer der größten Filmerfolge des Jahres 1965 rangierende „Vater des Soldaten" war gleichfalls einer der letzten sowjetischen Kriegsfilme, die in Form und Inhalt der Periode des „Tauwetters" zugerechnet werden können. Mit Beginn der Ära Brežnev brach nicht zuletzt im kulturellen Bereich die „Zeit der Stagnation" an, in der ein neuer Konservatismus und eine verschärfte Zensur auch das verfilmte Bild des Krieges in konventionellere Schablonen gießen sollten.22
1 Vgl. Engel, Ch. (Hg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart/Weimar 1999, S. 164-181; Lawton, A. (Hg.): The Red Screen. Politics, Society, Art in Soviet Cinema, London/New York 1992; Radvanyi, J. (Hg.): Le cinéma georgien, Paris 1988; Mostra interna-zionale del Nuovo cinema (Hg.): Il cinema delle repubbliche transcaucasiche sovetiche: Arme-nia, Azerbaigian, Georgia, Venezia 1986. Zum sowjetischen „Vielvölkerkino" aus zeitgenössi-scher sowjetischer Perspektive vgl. Čachirjan, G.: Mnogonacional'noe sovetskoe kinoiskusstvo, Moskau 1961; Kandelaki, D.: Kino i iskusstvo, Tiflis 1957; Mamatova, L.: Mnogonacional'noe sovetskoe kinoiskusstvo, Moskau 1982; Pisarevskij, D.: Mnogonacional'noe sovetskoe kino, in: Iskusstvo kino, 4/1962, S. 100–111; Vajsfel'd, I.: Naše mnogonacional'noe kino i mirovoj ekran, Moskau 1975; Vajsfel'd, I. V.: Zavtra i segodnja. O nekotorych tendencijach sovremennogo fil -ma i o tom, čemu nas učit opyt mnogonacional'nogo sovetskogo kinoiskusstva, Moskau 1968.
2 Der Begriff „Tauwetter" entstammt dem Titel des Romans „Ottepel'" (1954–56) des Schriftstel-lers Il'ja Ehrenburg, wird jedoch ebenso auf alle anderen Bereiche der Kunst angewandt. Zum „Tauwetter" in der Filmkunst vgl. Woll, J.: Real Images. Soviet Cinema and the Thaw, Lon-don/New York 2000.
3 Aus einem Bericht des Komitees für Kinematographie beim ZK der KPdSU „Über den Zustand der produktionstechnischen Basis der Spielfilmstudios in den Unionsrepubliken" vom 17.11.1952 geht hervor, daß die Kinostudios von Tiflis im Vergleich zu denen in anderen nicht-russischen Sowjetrepubliken materiell vergleichsweise gut ausgestattet waren. GARF, f. 5446, op. 86, d. 2491, Bl. 1–6. © Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien Nr. 32-33/2004 19
4 Vgl. Woll, Real Images, S. 9 ff.
5 Zu den internationalen Erfolgen des sowjetischen „Tauwetter“-Kinos vgl. Bol'šakov, I.: Sovet-skie fil'my na ekranach mira, in: Iskusstvo kino, 9/1959, S. 120–124; Kacev, I.: Sovetskie fil'my i zarubežnyj zritel', in: Iskusstvo kino, 3/1961, S. 22–27; Pobeždaet pravda. Uspech sovetskogo kinoiskusstva na mirovom ekrane, in: Iskusstvo kino, 2/1961, S. 1–6; Sadul', Ž.: Tri perepo-lennych zalach. Uspech sovetskich kinofil'mov vo Francii, in: Kul'tura i žizn', 8/1959, S. 58–59; Zorkaja, N. M.: Sovetskie fil'my na zarubežnom ekrane, Moskau 1987. 6 Zum veränderten Menschenbild im „Tauwetter“-Kino vgl. Hänsgen, L.: Vom Pathos des Auf-bruchs zur kulturellen Selbstreflexion: Entwicklungstendenzen im sowjetischen Film von der zweiten Hälfte der fünfziger bis in die frühen achtziger Jahre, Bochum 1999.
7 Vgl. Maglakelidse, D.: Nationale Identitäten in den westdeutschen und georgischen Autorenfil-men zwischen den 60er- und 80er Jahren, Berlin 2002; Amirėdživi, N. I.: Na zare gruzinskogo kino, Tiflis 1978; Cereteli, K. D.: Gruzinskij chudožestvennyj kinematograf, 1925-1967, Moskau 1968; Cereteli, K. D.: Kinoiskusstvo Sovetskoj Gruzii, Moskau 1969; Rondeli, L.D.: Tradicija i ėkran, Tiflis 1978; Tikanadze, R.: Gruzinskoe kino..., problemy, iskanija, Tiflis 1978.
8 Zit. nach Engel, Geschichte des sowjetischen und russischen Films, S. 168.
9 Etwa „Die Hochzeit" (Korsile/Svad'ba, 1964).
10 Etwa Iraklij Kvirikadzes „Der Weinkrug" (Kvevri/Kuvšin, 1971).
11 Etwa „Die Weinernte" (Giorgowistwe/Listopad, 1967). Zum Filmschaffen Ioselianis vgl. Trošin, A.: Interv’ju s Ioseliani. Vse idet po krugu…, in: Iskusstvo kino, 12/1996, S. 12-17; Amirejibi, N.: Kinorezisori Otar Ioseliani, Tiflis 2003; Fiant, A.: Le cinéma d’Otar Iosseliani. Lausanne 2002; Silvestri, S.: Otar Iosseliani, Rom 1997.
12 Vgl. dazu: Es war einmal eine Singdrossel, in: Binder, E./Engel, Ch. (Hg.): Eisensteins Erben: der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1951–1991), Innsbruck 2002, S. 188-191; Gromov, E.: Duchovnost‘ ėkrana, Moskau 1976, S. 93-95; Ioseliani, O: Ja chotel by.., in: Fomin, V.: Peresečenie parallel’nych, Moskau 1976, S. 118-147; Lordkipanidze, N.: Motivy tvorčestva, in: Komsomol’skaja pravda, 12.1.1972; Nekrasov, V.: Ioseliani protiv Ioseliani, in: Ėkran 71–72, Moskau 1972, S. 23–27; Problemy sovremennogo kino, Moskau 1976, S. 89-96; Šklovskij, V.: Za 60 let: Raboty o kino, Moskau 1985, S. 322–325; Vajsfel’d, I.: O sovremennom kino, Mos-kau 1973, S. 5–6.; Zak, M.: Kinorežissura. Opyt i poisk, Moskau 1983, S. 139–146.
13 Etwa in Andrej Tarkovskijs „Andrej Rubljow" (Andrej Rublev, 1966) und Gleb Panfilovs „Durch das Feuer führt keine Furt" (V ogne broda net, 1968).
14 Vgl. dazu: Pirosmani, in: Binder/ Engel, Eisensteins Erben, S. 169–171; Donadze, M.: Proizve-denija živopisi na ėkrane, in: Literaturnaja gazeta, 3/1980; Ėkran 66–67. Moskau 1967, S. 144–147; Gasparov, Ė.: Niko Pirosmani – legenda i čelovek, in: Moskovskij komsomolec, 4.6.1968; Lorkipanidze, N.: Motivy i tvorčestvo, in: Komsomol’skaja Pravda, 12.1.1972; Tikanadze, Gru-zinskoe kino, S. 325-342. 15 Etwa Merab Kokočašvilis „Ein großes grünes Tal“ (Didi mtsavane veli/Bol'šaja zelenaja dolina, 1967) oder Lana Gogoberidzes „Grenzen“ (Rubeži, 1968). 16 Zum Filmschaffen Abulazes vgl. Tuguši, S.: Ešče odin urok Tengiza Abuladze, in: Murian, V. M. (Hg.): Kino: Metodologičeskie issledovanija. Moskau 2001, S. 187-190; Horton, A. (Hg.): Russian Critics on the Cinema of Glasnost. New York 1994; Youngblood, D.: Repentance: Sta-linist Terror and the Realism of Surealism, in: Rosenstone, R. A. (Hg.): Revisioning History: Film and the Construction of a New Past. Princeton 1995, S. 139-154.
17 „Der Baum der Wünsche" erzählt von der Zerstörung des Mythos eines georgischen Paradieses am Anfang des 20. Jahrhunderts. In ein kleines Dorf hält die Moderne Einzug, doch dessen skur-rile Bewohner verdrängen dies stoisch. Der Dorflehrer predigt von der geistigen Übermacht Ge-orgiens, eine Verrückte berichtet von ihrer aus Groschenheften zusammengeträumten Liebe, ein Anarchist beschwört den technischen Fortschritt, ein Gegner die Tradition. Viele der Geschich-ten enden tragisch, denn das wirkliche Leben und die Wünsche und Ideen der Beteiligten klaffen zu weit auseinander.
18 Diese Geschichte über einen Diktator und sein Volk wird als „kleine Begebenheit" in der Chro-nik eines nicht näher genannten Städtchens in einer nicht näher genannten Zeit aufgerollt. Varlam, der „Vater des Volkes", liquidiert nach und nach die Bevölkerung, löscht die alte Kultur und das historische Gedächtnis aus, läßt die Kathedrale sprengen, versucht, den Künstler mit dessen Auserwähltheit zu korrumpieren und vernichtet ihn schließlich. Doch nach dem Ableben Varlams wird dessen Leiche immer wieder von Unbekannten ausgegraben und in seinem Garten aufgestellt.
19 Vgl. dazu Anninskij, L.: Zur Stalinismuskritik im Kino. Anmerkungen zum sowjetischen Film „Reue", in: NZZ, 11./12.10.1987; Der Preis der Identität. Tengis Abuladse und Wim Wenders triumphieren in Cannes, in: Süddeutsche Zeitung, 21.5.1987.
20 Vgl. Papava, M.: Otec soldata, in: Iskusstvo kino, 6/1965; Kogan, L. N. (Hrsg.): Kino i zritel': Opyt sociologičeskogo issledovanija, Moskau 1968, S. 111.
21 Zit. nach Engel, Geschichte des sowjetischen und russischen Films, S. 168. 22 Zum sowjetischen Kino in der Brežnev-Ära vgl. Golovskoy, V./Rimberg, J.: Behind the Soviet Screen. The Motion-Picture Industry in the USSR 1972–1982, Ann Arbor 1986; Jampolskij, M.: Kino bez kino, in: Iskussvo kino, 6/1988, S. 88–95; Turovskaja, M.: K probleme massovogo fil'ma v sovetskom kino, in: Kinovedčeskie zapiski, 8/1990, S. 72–78.
Quelle: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien Nr. 32-33/2004 (pdf)
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