W. Kaufmann:
Armes Georgien – böses Russland?
Armes Georgien – böses Russland? Zu den Hintergründen der georgisch-russischen Eskalationerschienen unter: www.boell.de
In der letzten Woche ist das internationale Publikum Zeuge eines Schauspiels geworden, in dem die Rollen klar verteilt scheinen: Das kleine Georgien in der Rolle Davids, der dem großen, an post-imperialen Phantomschmerzen leidenden Goliath/Russland mutig die Stirn bietet.
In der Tat verhält sich Russland genau so, wie es dem Bild eines drohenden, tollpatschigen, dummen und zugleich gefährlichen Riesen entspricht: Auf jede Stichelei des kleinen David reagiert es aufbrausend und stößt – mit Schaum vor dem Mund – die wüstesten Drohungen aus, von denen es zumindest die weniger schlimmen auch wahr macht. Das Sündenregister des Riesen, der genau 100 Mal größer ist als der kleine David Georgien und dessen Budget 123 Mal das georgische übersteigt, ist lang und beeindruckend: Seit vielen Jahren unterstützt Russland die von Georgien abgespaltenen Sezessionsgebiete Abchasien und Südossetien politisch und wirtschaftlich. Es unterhält in beiden Gebieten sog. GUS-Friedenstruppen, deren Neutralität angesichts der eindeutigen politischen Haltung der russischen Führung von georgischer Seite zu Recht in Frage gestellt wird. Südossetien strebt den Anschluss an Russland an und wird dabei von namhaften russischen Politikern unterstützt; Abchasien möchte unabhängig werden, sieht aber angesichts seiner internationalen Isolation keine andere strategische Option als die enge Anlehnung an Russland. Die Bevölkerungen beider Gebiete verfügen mittlerweile mehrheitlich über russische Pässe – für die betroffenen BürgerInnen der nicht anerkannten De-facto-Republiken der einfachste bzw. einzig gangbare Weg zum Menschenrecht auf Reisefreiheit; für Russland die willkommene Gelegenheit, auf völkerrechtlich als georgisch anerkannten Territorien besondere Zuständigkeit „für russische Staatsbürger“ zu reklamieren.
Russland hat sich – trotz einer entsprechenden, schon 1999 gegebenen Zusage, lange geweigert, seine in Georgien verbliebenen Militärbasen zu schließen. Erst im letzten Jahr wurde eine entsprechende Vereinbarung zur Schließung der Basen bis 2008 erreicht, und tatsächlich sind mittlerweile große Teile der Bewaffnung und Truppen aus Georgien abgezogen. Nun wollen die Georgier in die NATO und genießen dabei die volle Unterstützung der USA – ein Grund für russische Großmachtpolitiker, jede Unbotmäßigkeit des südlichen Zwergnachbarn zu bestrafen. Da schließt man zwischenzeitlich den Gashahn (und hängt damit den von der durch Georgien führenden Pipeline abhängigen eigenen Bündnispartner Armenien gleich mit ab), da verbietet man den Import georgischen Weines „aus sanitären Gründen“, da führt man Visumspflicht für Georgier ein (der einzige Fall von Visumspflicht zwischen GUS-Staaten), da unterbricht man Transportverbindungen und Grenzübergänge und trifft damit die von Arbeitsmigration und Export nach Russland abhängigen Georgier ins Mark.
Da all dies nicht zu helfen scheint, um den aufmüpfigen Zwerg in die Knie zu zwingen, spekuliert man schon einmal darüber, dass eine „Kugel ja billiger sei als ein Krieg“ (von Kreml-Berater Pavlovskij auf den georgischen Präsidenten Saakaschwili umgemünztes Zitat von George W. Bush), während in russischen Meinungsumfragen nach den „Feinden Russlands" das kleine Land gleich nach den USA auf Platz 2 aufgestiegen ist.
Beim Blick auf dieses – unvollständige – Sündenregister dürften kaum Zweifel daran aufkommen, dass Spione des russischen Militärgeheimdienstes GRU tatsächlich in Georgien ihr Unwesen treiben – in einer von Konflikten zerrissenen und zugleich von geopolitischer Konkurrenz aufgeladenen Region wie dem südlichen Kaukasus eine im übrigen recht verbreitete Beschäftigung.
Ist es da nicht nur recht und billig, dass sich Georgien lautstark gegen diese Unterwanderung wehrt und der Welt zeigt, wie man mit russischen Agenten umzugehen hat – nämlich Festnahme vor laufender Kamera, Verbreitung der Namen, und bei der durch die OSZE vermittelten Abschiebung noch einmal vor Fernsehpublikum eine laut verlesene Lektion – „Sie werden der Spionage gegen Georgien beschuldigt und dürfen hier nie wieder einreisen!“
Der kleine David Georgien hat sich wahrlich nach Kräften bemüht, seine Heldenrolle in die internationalen Schlagzeilen zu bringen. So sehr, dass man doch geneigt ist, nach dem Kalkül des georgischen Präsidenten Saakaschwili zu fragen, als er entschied, eine allenfalls durchschnittliche Agentenaffäre nicht im international üblichen Stil diplomatischen Protests und schneller Abschiebung zu lösen, sondern auf maximale Publizität und Eskalation zu setzen. Glaubte er wirklich, Russland erziehen zu können, das „wohl noch nicht begriffen habe, dass Georgien nun ein ernstzunehmender, demokratischer Staat mit eindeutigen rechtstaatlichen Prozeduren ist, der sich nicht unterwandern lässt“?Sicher ist, dass Saakaschwili den Westen in die uneingeschränkte Solidarität mit Georgien gegenüber Russland zwingen will. Saakaschwili hat seinen Wählern versprochen, Georgien noch in diesem Jahrzehnt in die NATO zu führen. Gerade erst wurde dem Land – trotz erheblicher innenpolitischer Reformdefizite – als nächster Schritt zur NATO-Mitgliedschaft der „Intensive Dialog“ (ID) angeboten, und in Georgien ist man überzeugt, schon im nächsten Jahr mit amerikanischer Unterstützung zum „Membership Action Plan“ (MAP) übergehen zu können. Doch glaubt der Präsident wirklich, Georgien sei den USA und der EU so wichtig, dass sie die strategische Zusammenarbeit mit Russland (Energie, Iran, Nahost etc.) aufs Spiel setzen, um Georgien gegenüber einem geradezu aufs Blut gereizten Russland zu verteidigen? Oder geht er umgekehrt davon aus, dass der russischen Machtelite letztlich gegenüber Georgien die Hände gebunden sind, um ihre Gasgeschäfte mit dem Westen nicht aufs Spiel zu setzen? Zumindest schadet die bewusste Eskalation der Spionage-Affäre dem Ziel der NATO-Annäherung eher, als das sie ihm nützt.
Noch zweifelhafter ist, ob die Regierung der „Rosenrevolution“ dem Ziel einer „friedlichen Wiederherstellung der territorialen Integrität“, also der gewaltfreien Wiedereingliederung der Sezessionsrepubliken Südossetien und Abchasien und der Rückkehr der georgischen Flüchtlinge in diese Regionen, in irgendeiner Weise näher gekommen ist.In der georgischen Führung wie unter der Mehrheit der georgischen Bevölkerung dominiert die Überzeugung, dass es sich bei beiden Konflikten im Kern um Spielarten des großen georgisch-russischen Konfliktes handele. Damit erübrigt sich offenbar – zumindest bis zur endgültigen Vertreibung der Russen von georgischem Territorium – der Dialog mit den Abchasen bzw. Südosseten – und die Auseinandersetzung mit der georgischen (Teil-)Verantwortung für die militärische Eskalation der Konflikte zu Beginn der 90er Jahre. Aus Sicht der Separatisten sind nämlich die Georgier der böse Goliath, dessen ethnozentristischem Radikalismus die kleinen David-Völker der Abchasen und Südosseten die Stirn boten und bieten.
Doch in Georgien will man Verhandlungen nur unter der Vorbedingung, dass sich die Gegenseite von vorneherein mit der Unterordnung unter die georgische Zentralgewalt einverstanden erklärt. An langfristigem Vertrauensaufbau durch Kooperation unterhalb der Statusfrage besteht kein Interesse, und seit einiger Zeit werden informelle georgisch-abchasische Dialogprojekte internationaler Organisationen, die seit Jahren für einen kontinuierlichen Informationsaustausch zwischen den Seiten gesorgt haben, von offizieller georgischer Seite nicht nur boykottiert, sondern sogar behindert.
Offenbar setzt die georgische Führung ganz auf eine Strategie der Stärke. Nach der Statistik des schwedischen SIPRI-Institutes rüstet Georgien proportional so stark auf wie kein anderes Land der Erde. Auch wenn die Militärausgaben offiziell mit den Anforderungen der NATO- Standards begründet werden, wird die Botschaft im Innern und in den sezessionistischen Republiken sehr wohl verstanden. Doch das Kalkül, durch eine Strategie des politischen und militärischen Drucks (international auf Russland, national auf die Separatisten) die gewaltfreie Wiedereingliederung der Regionen zu erzwingen, kann nach aller Erfahrung nicht aufgehen. Dazu sitzt die Angst und die Abwehr gegenüber Georgien unter der nichtgeorgischen Bevölkerung beider Regionen zu tief – und dafür ist ihre Entschlossenheit zu hoch, sich nicht widerstandslos geschlagen zu geben. Dass die georgisch-russische Eskalation diese Motivlage eher noch verstärkt, steht außer Zweifel.
Was also könnte den georgischen Präsidenten noch bewogen haben, die Affäre um die russischen Agenten derart publikumswirksam auszunutzen?
Мöglicherweise liegt die Antwort im Politikstil des georgischen Präsidenten begründet. Er liebt es, zu polarisieren und Spannungen zu erzeugen, um sich dann in der Krise als genialer Taktiker zu beweisen. Und schließlich stehen am 5. Oktober Kommunalwahlen an – die ersten Wahlen, bei denen die Wähler ein Urteil über die Regierung der „Rosenrevolution“ abgeben können. Am überwältigenden Sieg von Saakaschwilis „Nationaler Bewegung“ gibt es keine Zweifel. Dennoch hat die Regierungspartei alles dafür getan, durch Wahlrechtsänderungen, überraschendes Vorziehen des Wahltermins und mediale Omnipräsenz der zersplitterten Opposition auch jede Aussicht auf einen Achtungserfolg zu nehmen.
David gegen Goliath – keine guten Zeiten für ein Land, das so gerne ein „ernstzunehmender, demokratischer Staat mit eindeutigen rechtstaatlichen Prozeduren“ sein will.
Walter Kaufmann
Tbilisi, 03.10.06
1 comment:
Sehr guter Beitrag von Herrn Kaufmann ! Eine echt ausweglose Lage.
Russland mit 17.075.400 km² ist aber etwa 245 so groß wie Georgien mit seinen 69.700
Ändert natürlich nix an der Sache ;-)
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