Während meines Sommers in Tbilisi war ich oft nicht allein. Robert kam, schlief, trank mit mir Bier auf dem Balkon und philosophierte, ging, kam, schlief und philosophierte wieder. Robert ist Ethnologe und hat eine Zeit lang in Rumänien gelebt und dort seine Wäsche mit dem Waschbrett gewaschen. Wenn er mich in Tbilisi besucht dann führt er ähnliche Waschrituale durch, bevor er wieder abreist nach Armenien, Swanetien, zum Kazbeg oder sonst wohin.
Als Deutsche in Georgien zu Leben hat unglaubliche Anziehungskraft - auf andere Deutsche. Irgendwie spricht es sich herum, jeder kennt jeden, und plötzlich findet man im Ausland neue Freunde aus der Heimat. So komme ich auch an Timo und Tine. Timo ist Fotograf und liebt es, sich ein wenig auf dem dünnen Grad zwischen abenteuerlicher und gefährlicher Foto- und Recherche-Reise zu bewegen. Seine Frau ist eine sanfte Elfe mit Herz und Verstand, die manchmal sehr direkt und unerwartet ihre klare Meinung artikuiert. Eines abends, als wir satt gegessen mit unendlich vielen Khinkalis im Magen den Rustaweli entlang laufen, hängt ihr ein kleiner Straßenjunge penetrant am Short-Zipfel. Ich glaube, ich habe noch nicht einmal eine Georgierin so vehement "Ara" sagen hören. Von der Elfengleichen kommt es im wahrsten Sinne wie aus der Pistole geschossen: "ARA!" Robert und ich zucken zusammen um dann in erstaunte Bewunderung für Tine überzugehen. Von diesem Nein kann ich mir noch eine Scheibe abschneiden.
So fahren wir eines schönen Tages zu viert nach Achal Sopeli in den Garten zu Ehren Stalins: Tine, Timo, Robert und ich. Ich war schon einmal dort, und der Garten ist wirklich eine skurrile Attraktion. Jeder, der sich irgendwann einmal etwas mehr mit Georgien beschäftigt hat, kommt an diesem Wunderwerk nicht vorbei. Wendel Stevensen, Fred Nielsen, ja sogar mein Freund und Lektor Ralph Hälbig waren dort, und konnten sich nicht erwehren hier ein paar Zeilen nieder zu schreiben. Nun - zunächst stehen wir in Didube und versuchen ein Taxi nach Achal Sopeli zu bekommen. Das ist gar nicht so einfach, denn Timo handelt gerne und will nicht mehr bezahlen als unbedingt nötig und Robert sieht gar nicht ein, so viel Energie darauf zu verschwenden. Schließlich tun uns die zwei, drei Lari mehr oder weniger nicht wirklich weh. Ich habe inzwischen schon ein wenig Erfahrung in den Verhandlungen mit Taxifahrern gesammelt, und finde einen bereitwilligen Fahrer zu einem - wie ich finde - angemessenen Preis. Als wir ankommen, verhandelt Timo noch über die Rückfahrt, und letztendlich fahren wir für umgerechnet zwei Euro pro Kopf hin und zurück. Und Achal Sopeli ist dann doch nicht ganz so nah, wie ich es in Erinnerungen habe.
Im Alten Dorf angekommen, schreiten wir durch das Tor und werden sogleich von der ersten Stalin-Büste begrüßt. Hier wohnt er also, der ultimative Fan; und hat seinem Idol einen Garten gewidmet mit Bildern, Statuen, Texten, nachgebildeten Raketen und sogar einem Mausoleum, was sich selbst im Makaberen kaum übertrifft. Erschaffen mit eigener Hand. Ob je jemand so viel Herzblut in die Unvergesslichkeit von Tokio Hotel stecken wird? Oder vielleicht in die Reminiszenz weitaus bewundernswerterer Persönlichkeiten, wie Gandhi oder Mutter Theresa? Mich fasziniert der Garten genau wegen dieser Passion. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand über Jahrzehnte hinweg mit so viel Liebe und Elan ein solches Monument baut - und dann auch noch für einen erwiesenen Massenmörder wie Stalin. Timo erzählt, dass es heute noch in Zugdidi eine Straße gibt, die nach dem KGB-Chef Lavrentiy Beria - auch ein gebürtiger Georgier - benannt ist. Auch das wirkt auf mich surreal und unbegreiflich. Und doch übt dieser Garten eine eigenartige Anziehungskraft aus. Sein Erschaffer Temuri Kunelauri ist lediglich 52 Jahre alt - als er geboren wurde, war Stalin bereits tot. Und trotzdem hat er so einen Verve entwickelt um dieses Monument zu schaffen, und das wohl kaum weil Stalin vermeintlich Georgier war. Tochter Nino führt uns durch den Garten. Ihr Vater ist nicht da - schade, ich hätte ihn gerne einmal kennen gelernt, diesen heißblütigen Diktatoren-Fan. Stattdessen beglückt uns Nino mit Kaffee, Keksen und Bonbons und versucht uns zum georgisch-orthodoxen Glauben zu bekehren. Das ist nicht minder skurril. Nein, den Stalin-Wahn ihres Vaters, den lehnt sie ab, auch wenn sie es schön findet, wenn hier und da ein paar neugierige Touristen aus dem Ausland vorbei kommen um sich das Werk ihres Vaters anzusehen, erklärt sie in fließendem Deutsch. Ein wenig unangenehm sei sie ihr schon, diese Verehrung für Stalin. Trotzdem ist sie merklich stolz auf den Garten. Und das Paradox setzt sich fort: Es ist Mariamoba, Maria-Himmelfahrt. Nino ist Chorsängerin und hat erst heute in Tbilisi während eines Gottesdienstes geträllert. Da ist die Frage der Fragen nicht fern: Welche Religion habt ihr, will sie wissen? Unsere Antworten sind für sie keineswegs befriedigend, denn wir sind ungläubige Protestanten, Katholiken oder sogar Heiden. Ich, zum Beispiel, wurde nicht getauft - und das im katholischen Bayern. Meine Mutter war schon in jüngeren Jahren eine mutige Frau. An was wir dann glauben würden? Ich versuche, Nino zu erklären, dass Glaube für mich nicht unbedingt etwas mit der Religion zu tun hat. Timo bläst ins gleiche Horn, und dann erfahren wir Dinge, die uns in den Ohren klingeln: Die georgisch-orthodoxe Religion sei die einzig Wahre. Die Katholiken wären über die Jahrhunderte immer wieder gewalttätig und aggressiv gewesen. (Gut, das lässt sich kaum bestreiten.) Und die Georgisch-Orthodoxen wären schon immer mehr als friedliebend. Nie hätten sie sich an Kreuzzügen, Hexenverbrennungen oder sonstigen Gräueltaten beteiligt. Wir sollten auch Kraft schöpfen aus dem georgisch-orthodoxen Glauben. Wir kommen uns vor, als wären wir versehentlich in einer georgisch-orhodoxen Missionsstation gelandet. Vielleicht ist Fanatismus irgendwie vererbbar? Und offensichtlich scheint zu Nino nicht durchgedrungen zu sein, dass noch vor ein paar Jahren Bücherverbrennung in Tbilisi stattgefunden haben. Angeführt von georgisch-orthodoxen Priestern - im 21. Jahrhundert. Zu bemerken wäre an dieser Stelle vielleicht noch, dass die georgisch-orthodoxe Kirche unter Stalin vehement um ihre Existenz gekämpft hat, und nicht zuletzt um die Unabhängigkeit Georgiens, und das keineswegs immer gewaltlos. Umso erstaunlicher erscheint uns dieses Gespräch in diesem Ambiente.
Wir lassen zum Abschied ein paar Lari da, um den Garten zu erhalten, denn er zerfällt langsam, so wie sein Idol. Natürlich kenne ich die Argumente gegen den Erhalt solcher Monumente. Viele Georgier distanzieren sich von Stalin; am Liebsten möchten sie so tun, als hätten sie nie etwas mit dem großen Diktator zu schaffen gehabt. Doch Stalin, die UdSSR und der Kommunismus sind Teil der georgischen Geschichte. Teil von etwas, was nicht sehr angenehm und schön ist. Teil von etwas, dass nicht in das Selbstbild des heroischen und unabhängigen Georgien passt. Und doch waren die Georgier da, als Stalin da war. Sie haben ihn ertragen, mitgemacht, vielleicht sogar verehrt. Bis auf ein paar Ausnahmen revolutionären Aufflackerns, war Georgien aktiver Bestandteil des Regimes. Manch einer wäre es gern immer noch. Ich glaube nicht, dass dies in Vergessenheit geraten sollte. Der Garten ist ein Mahnmal für unhinterfragte Verehrung, für blinde Liebe, für eine ausnahmslose Bewunderung, vor der keiner von uns wirklich und hundertprozentig gefeit scheint.
Wir steigen ins Taxi zurück in die Hauptstadt und sind fast benommen von den Bekehrungsversuchen unserer Gastgeberin. Ein bisschen scheint es, als hätten wir gemeinsam eine andere Realität, eine andere Zeitachse, betreten.
Ein paar Wochen später entdecke ich zufällig in der Altstadt Tbilisis eine verlassene, armenische Kirche. Ich stehe auf Büchern. Angebrannten Büchern. Tausenden. Ich weiß nicht, ob es damit zusammenhängt, dass ich Deutsche bin und die weitergereichte Kollektivschuld irgendwo in mir trage, oder daran, dass Bücher für mich einen besonderen Bedeutung haben - ich käme in meinen schwärzesten Träumen niemals darauf ein Buch wegzuschmeißen -, doch hier auf diesem angebrandeten Bücherberg zu stehen, trifft mich zutiefst. Meine Recherchen ergeben, dass die Kirche zur Sowjetzeit als Außenlager der staatlichen Bibliothek gedient hat. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wollte man die Bücher nicht mehr haben, sich nicht mehr darum kümmern. Schließlich war es sowjetische Literatur. Ich stöbere am Boden und entdecke Gedichtbände auf Deutsch von Schiller, Bücher mit mathematischen Formeln auf Kyrillisch, Reisezeitschriften in englischer Sprache. Dabei handelt es sich nun also um sowjetische Propaganda-Literatur. Wie groß müssen der Hass und die Ablehnung sein, um das Buch vor lauter Bibliothek nicht zu sehen. Meine Tränen tropfen auf die trockenen Blätter am Boden. So viel Ignoranz, geschürt durch Jahrzehnte andauernder Unterdrückung, ist mir unerträglich. Niemand wird dieses stille Monument des ungewollten Wissens beseitigen. Niemand wird die Bücher entfernen und die Kirche renovieren. Die Georgisch-Orthodoxen wollen sie nicht haben, die Armenier dürfen sie nicht haben. Die Staatskirche geht davon aus, dass ihr alle Staatsbürger angehören. Es gibt keine Katholiken, Lutheraner, Protestanten, Baptisten in Georgien. Und es gibt sie doch. Die anderen Kirchen werden als solche von der georgischen Gesetzgebung nicht anerkannt. Staat und Staatskirche haben sich zusammengetan, um den anderen keinen Platz einzuräumen. Doch sie sind da, die katholischen und armenischen Kirchen, die evangelischen und baptistischen Gemeinden. Die Probleme, die daraus erwachsen, dass sie gesetzlich nicht anerkannt sind, sind weit reichend. So kann die evangelisch-lutheranische Kirche noch nicht mal ein Auto für den Bischof kaufen, die Katholiken und die Armenier haben keine Möglichkeit ihre verlassenen Kirchengebäude und Friedhöfe zurückzufordern, geschweige denn Spenden aus dem Klingelbeutel ordnungsgemäß abzurechnen. Abgesehen davon, dass das Menschenrecht auf freie Religionsausübung mit Füßen getreten wird. So ist sie also, die georgisch-orthodoxe Kirche: menschenfreundlich, tolerant, friedliebend. Und das Geld, dass sie in rauen Mengen aus dunklen Quellen einnimmt, gibt sie aus für den Bau weiterer Kirchen, wie der Sameba - der Dreifaltigkeitskirche -, die nun zusammen mit dem neuen Regierungssitz hinunter blickt auf das andere Ufer des Mtkwari, auf das Parlament, auf das Volk. Christiane Hummel, die Witwe des ehemaligen, evangelischen Bischofs in Georgien, bemerkte dies in einem gemeinsamen Gespräch. Sie ist nicht nur eine aufmerksame Beobachterin; wie mir scheint, steckt in ihrer Betrachtung viel Wahres.
Photos by Patricia Scherer (Set)
Patricia Scherer in Georgia (Caucasus) (Set)
Teil (22): Mehr als good will?
Teil (20): Sag mir wo die Blumen sind?
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