Während Island als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse im Mittelpunkt steht, bereitet sich ein mehr als die Hälfte kleineres Land am östlichen Rand Europas auf einen künftigen Auftritt in Leipzig und Frankfurt vor: Georgien. Auf der Frankfurter Buchmesse stellt es sich am 12. Oktober um 17 Uhr in Halle 5.0 dem Fachpublikum erstmals vor – unter dem Motto "Have a Look at Georgia".
Die Herausforderung ist groß, denn das "Land hinter neun Bergen und neun Meeren", wie es in seinen Märchen heißt, existiert im allgemeinen Bewusstsein als undefinierbarer, unsicherer Ort irgendwo im Osten. Einst das reichste Land der Sowjetunion, wurde Georgien in den 1990er Kriegsjahren zum ärmsten Mitglied der GUS. Buchhandel und Verlagswesen mussten bei Null beginnen. Die georgische Leserschaft fürchtete damals, dass das georgische Buch aussterben würde. Das hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Der georgische Buchmarkt hat sich, abgesehen vom empfindlichen Rückschlag nach dem Georgien-Russland-Konflikt 2008, kontinuierlich entwickelt. Heute gibt es an die 100 Verlage – außer einem alle in der Hauptstadt Tbilissi – , von denen ein Dutzend etwa 80 % des Buchmarkts abdecken. Der Gesamtumsatz hat sich innerhalb der vergangenen vier Jahre mehr als verdreifacht. 2800 Titel sind 2010 erschienen, ein Viertel davon Belletristik, davon wiederum 80 % georgische Originaltitel. Eine neue Generation von Autoren etabliert sich. Auch der Austausch mit dem westlichen Ausland soll in Gang kommen.
Schwieriger Weg in den Westen
Dabei gibt es eine hohe Hürde: die Sprache. Sie ist wie von einem anderen Stern, der mythischen Gegend im Kaukasus würdig, wo Prometheus angekettet sein soll und von wo Jason das Goldene Vlies und die Georgierin Medea nach Griechenland entführte. Nur etwa viereinhalb Millionen Menschen sprechen diese komplexe, expressive Sprache, die keine indogermanische ist und eine eigene, wunderschöne Schrift besitzt. Sie hat über die Jahrhunderte eine vielfältige Literatur hervorgebracht, die eine besondere Gedankenwelt und Lebenshaltung zum Ausdruck bringt. Boris Pasternak spricht in seinen „Briefen nach Georgien“ von „ ... jenem Erstaunlichen und Zauberischen, das mir auf all meinen georgischen Reisen begegnete und das nicht allein durch den Süden zu erklären ist, durch die Berge, den weiten georgischen Charakter, die Schönheit seiner Frauen, durch die Begeisterung und das Gefühl des Erhobenseins auf den geräuschvollen, menschenreichen Banketten; es ist noch etwas Geheimnisvolleres, Tieferes in allen diesen Bestandteilen.“
Als Pasternak sich für die georgische Dichtung begeisterte und einiges mit Hilfe von Interlinearübersetzungen ins Russische übertrug, war Tbilissis Zeit als lebendiges Zentrum moderner Kunst, das Schriftsteller und Intellektuelle aus Russland und Westeuropa anzog, vorbei: Die Einverleibung Georgiens in die Sowjetunion isolierte das Land während mehr als 70 Jahren und strangulierte Kunst und Literatur. Erst nach Stalins Tod erwachte die georgische Literatur wieder zum Leben, doch fand sie kaum den Weg in den Westen. Übersetzungen ins Deutsche erschienen fast nur in der DDR. Seit dem Fall der Mauer ist Georgien beinahe ganz von der Übersetzungslandkarte verschwunden.
Hierzulande bekannt sind georgischstämmige Autoren, die nicht mehr in der Muttersprache schreiben: der Krimiautor Boris Akunin, der auf Russisch schreibt, Giwi Margwelaschwili, Träger der Goethe-Medaille und des Bundesverdienstkreuzes, oder die junge Nino Haratischwili, deren Romanerstling „Juja“ 2010 für den Deutschen Buchpreis und den ZDF-Aspekte-Literaturpreis nominiert war; im September ist ihr zweiter Roman „Mein sanfter Zwilling“ erschienen (Frankfurter Verlagsanstalt).
Vielfältige Formen der Literatur
Der Blick auf Georgien öffnet dem Leser im Westen ein Universum: exotisch und vertraut zugleich. Genial widergespiegelt findet sich dies in Aka Mortschiladses Werken. Er ist Georgiens meistgelesener Gegenwartsautor, ein virtuoser Fabulierer und präziser Historiograph. In seinen mittlerweile 20 Romanen entfacht er literarische Feuerwerke, entführt in eine manchmal skurrile, manchmal leise melancholische, jedoch immer faszinierende Welt.
Die Seele des georgischen Volkes verkörpert „Data Tutaschchia“ von Tschabua Amiredschibi, literarische Legende und Gulag-Überlebender. Der immer wieder aufgelegte Klassiker kombiniert Thriller-Elemente und Dostojewskische Themen rund um persönliches Schicksal und nationale Identität; sein Held Data, eine Art georgischer Robin Hood der Zarenzeit, lebt bis heute als Volksheld im georgischen Bewusstsein.
Am anderen Ende des Spektrums findet sich der Provokateur Sasa Burtschuladse, der von den Intellektuellen geliebt und von den Reaktionären geschmäht wird. Burtschuladse ist im September am Literarischen Colloquium in Berlin zu Gast.
Surab Leschawas eigenwillige Geschichten strahlen wie die Gemälde des georgischen Malerautodidakten Pirosmani eine große Echtheit, Wahrheit und Großzügigkeit aus. Die Erzählung „Kühlschrank gegen Sex“ ist in englischer Übersetzung in „Best European Fiction 2011“ in den USA erschienen.
Als Hüterin der kaukasischen Kultur kann Naira Gelaschwili bezeichnet werden, die in ihrem „Kaukasischen Haus” Volksdichtung der verschiedenen Kaukasusvölker sammelt und herausgibt, selbst herausragende Übersetzerin aus dem Deutschen ist und Autorin zuletzt des autobiographischen 800-Seiten-Romans „Die beiden ersten Kreise”. Dieser beschreibt Blütezeit und Wirren des einzigartigen „Übersetzer- und Redaktionskollegiums” in Tbilissi, das in der UdSSR als Institution für Übersetzung und literarischen Austausch eine absolute Alleinstellung hatte.
Aufsehen erregte in Georgien dieses Jahr der außergewöhnlich kunstvoll konstruierte Kurzroman „Gatwla“ (Abzählen) der jungen Autorin Tamta Melaschwili. Er erzählt die Geschichte zweier junger Mädchen, Freundinnen, in einer weder zeitlich noch geografisch benannten „Konfliktzone“. Die Geschehnisse dreier Tage werden alternierend, mit sich steigernder Dringlichkeit erzählt, bar jeder Sentimentalität, aufwühlend und berührend.
Viele weitere Autoren sind zu nennen wie der Abchasien-Flüchtling Gela Tschkwanawa, der über ein verlorenes Land und eine verlorene Zeit schreibt, Lascha Bughadse, Meister der Ironie und des schwarzen Humors georgischer Prägung und ausgezeichnet bei der BBC International Radio Playwriting Competition, Dato Turaschwili, der Dokumentarisches literarisch verarbeitet und an der Spitze der georgischen Bestsellerliste 2011 steht.
Dialog zwischen den Ländern
Außer Aka Mortschiladse hat bisher keiner der zeitgenössischen Autoren den Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden. Das soll sich ändern:
Eine Initialzündung war 2010 die vom Goethe-Institut Georgien organisierte Veranstaltung LitTransfer, an der sich deutsche Verleger, Lektoren und Literaturvermittler mit georgischen Verlegern, Autoren, Übersetzern und Vertretern des georgischen Kulturministeriums austauschen und „Witterung“ aufnehmen konnten. Als Folge dieser Veranstaltung fand im Juli 2011 unter der Trägerschaft des Goethe-Instituts und mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung eine zweisprachige Übersetzerwerkstatt Georgisch-Deutsch/Deutsch-Georgisch statt, die von Rosemarie Tietze und Alexander Kartosia geleitet wurde. Im Mittelpunkt stand die Nachwuchsförderung für das Sprachenpaar.
Das georgische Ministerium für Kultur und Denkmalschutz seinerseits empfing im Mai 2011 an einem internationalen Literaturdialog-Forum Verlagsvertreter aus Deutschland, Schweiz, Großbritannien, USA, Schweden und Frankreich; das Forum wird im nächsten Jahr wieder stattfinden. Das Kulturministerium unterhält seit zwei Jahren auch ein Programm zur Übersetzungsförderung, das Übersetzungen aus dem Georgischen und umgekehrt unterstützt (http://book.gov.ge). All diese Initiativen, insbesondere die Übersetzer- und Übersetzungsförderung, müssen intensiviert werden, damit der literarische Transfer von Georgien in die übrige Welt gelingen kann.
Autorin des Beitrags:
Rachel Gratzfeld, Lektorin und Literaturvermittlerin in Zürich, engagiert sich seit Jahren für die georgische Sprache und Literatur. Sie vertritt als Literaturagentin die Verlage Bakur Sulakauri, Diogene und Siesta und ist beratend tätig für die georgisch-deutschen LitTransfer- und Übersetzerwerkstatt-Programme des Goethe-Instituts Georgien.
Quelle: www.boersenblatt.net
Thursday, September 29, 2011
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