Wednesday, September 28, 2011

LITERATUR: Adibas. Von Zaza Burchuladze - Auszug (euterpe.origross.net)

Minidreiecke

− Zwei Mojitos – sage ich zum Barkeeper.
Er heißt Paata, doch alle nennen ihn Bobby. Wegen Marley. Ich spreche ihn aber nie mit seinem Namen an. Sein Pseudo-Reggae-Stil geht mir auf die Nerven. Er fällt aus dem Rahmen, mit seinem marihuanablätterbestickten Hemd, den Dreadlocks, den Lederketten und den weiten Shorts. Bobby nickt, als würde er meine Entscheidung gutheißen. Dabei lächelt er mich an. Ich hasse es, wenn man sich so plump bei mir einschleimt. Während er die Limetten schneidet und das Eis crasht, setze ich
mich an der Bar auf den Plastikstuhl, der unter einem Sonnenschirm steht.
Im Freibad von Vake tummeln sich viele Leute: die Witwen von Kriminellen mit ihren
Silikonbrüsten, Frauen von Geschäftsleuten mit ihrer Cellulitis an den Hüften, spermaschluckende Barbies mit ihren überdimensionalen Sonnenbrillen, schwule Rave-Liebhaber mit ihren Bauchpiercings, Muttersöhnchen, denen jeder Traum erfüllt wird... junge knackige Körper, jederzeit bereit, sich vor der Eurovision zu präsentieren. Der Duft von Wasser, Make-up, Chlor, und der spezifische Geruch von Desinfektionsmitteln mischen sich ineinander. Die Wasseroberfläche reflektiert die Sonnenstrahlen und blendet das Auge. Aus den Boxen dröhnt monotoner House. Eine solche Musik kann dir nicht gefallen, sie kann dich nicht einmal reizen. Du bist für dich, sie ist für sich. Ich glaube, diese Musik wird extra für Flughäfen, McDonald‘s und Freibäder gemacht. Man weiß nie, wann sie anfängt oder aufhört. Es ist nicht mal 10 Uhr, aber es ist schon brütend heiß. Ins Wasser geht aber trotzdem niemand. Die ausgelaugten und käseweißen Tiflisser liegen um das Becken herum auf ihren Sonnenliegen, unter den Sonnendächern; sich bräunen und ins Wasser gehen gilt als prestigelos und albern.
Nur Tako hat eine schöne, schokoladenfarbige Bräune. Sie steht barfuß mit geschlossenen Augen am Beckenrand und kehrt mir den Rücken zu. Sie hat fast nichts an. Ihr Badeanzug ist schwer zu erkennen: das Y-förmige Höschen und die Miniaturdreiecke, die mit dünnen Fäden miteinander verbunden sind, können kaum etwas bedecken. Dieser kupferfarbene Bikini gleicht ihrer braunen Hautfarbe so sehr, dass man ihn auf dem Körper kaum erkennen kann. Wegen der Bräune kann man nicht mal mehr ihr Tattoo erkennen. Dabei hat sie es sich erst vor zwei Wochen mitten auf ihren Nacken tätowieren lassen: ein großer Kreis mit zwei Zentimeter Durchmesser und ein weiterer Kreis mit einem Kreuz innen drin.
An solch einer ungewöhnlichen Stelle hat sie es sich nur deswegen eintätowieren lassen, weil der Nacken, natürlich nach ihrer Klitoris, ihre erogenste Zone ist, sozusagen ihr äußerer G-Punkt. Ich glaube, damit hat sie sogar den pubertären Protest der Mädels überschritten, für die es normal ist, ihre Eltern zum Feind zu erklären, des öfteren zu masturbieren und voreilige Entscheidungen zu treffen. Doch das sag‘ ich ihr nicht.
Nebenbei bemerkt, vor zwei Wochen wäre sogar ich bereit gewesen, mich tätowieren zu lassen. Ich wollte mir auf meiner Glaze eh schon immer ein großen, blauen Pfeil machen lassen, so wie beim Avatar: von der Stirn bis zum Nasenbein. Wenn mich nicht alles Dauerhafte nerven würde, hätte ich mich schon längst wie ein Yakuza angemalt.
Solange der Tätowierer mit seinen Plastikhandschuhen an Takos Nacken herummachte, setzte ich mich auf den Ledersessel und ging den Tattookatalog durch. Von den Sonnensymbolen der Inkas und Azteken über Strichcodes bis hin zu SS-Emblemen und dem Portrait von Che war alles drin. Bunt wie eine Computertomographie oder einfarbig wie einfache Stancils. Auch lustige Motive waren dabei. Zum Beispiel eine taoistische Monade, zusammengesetzt aus industriellen Symbol-Logos: Yin und Yang und Grüner Punkt.
Mir hat auch der Kriegsgott gefallen - Huitzilopochtli. Der sich im Nachhinein als ein Kolibri herausstellte. Er war bis an die Zähne bewaffnet und trug eine Rüstung – er sah aus wie Bumblebee, dieser Chevrolet Camaro, der sich in einen Riesen verwandeln kann. Nachher schaute ich in Wikipedia rein. Zu Ehren dieses kleinen Vogels wurden seinerzeit sogar Menschen geopfert. Man würde mich falsch verstehen, ich würde aber mit Vergnügen halb Tiflis irgendeinem Vogel opfern, von mir aus auch einem Spatz.
Außer mir saß an der Bar noch ein Pärchen. Auf dem weißen Plastiktisch stehen halb volle Saftgläser. Gleich daneben liegt ein Vogue-Schachtel. Innen drin steckt ein Feuerzeug. Die Frau sitzt so, dass ich nur ihre dünnen Schultern, ihre auf den Tisch gestützten Unterarme und ihre Ferse unter dem Tisch sehen kann. Unter ihrer Ferse lässt sich eine gelb verfärbte, faltige und schuppige Sohle erahnen. Sie flüstert dem vorgebeugten Mann etwas ins Ohr. Dieser nickt von Zeit zu Zeit und tippt währenddessen eine SMS.
Ich weiß nicht warum, aber auf einmal fällt mir mein Traum von heute Morgen wieder ein. Ich träumte, ich wäre in der Residenz Schewardnadzes und würde ihn interviewen. Wie immer war er eher konservativ angezogen: ein blauer Anzug und ein hellblaues Hemd. Nur seine Füße steckten in rosa Plüschpantoffeln, die vorne Hasenörchen hatten. Wir saßen an einem Couchtisch, in breiten, lederüberzogenen Sesseln. Auf dem Tisch standen eine Flasche Mineralwasser sowie zwei Gläser. In meiner Hand hielt ich ein Diktaphon. Das Leder des Sessels und Schewardnadzes Haut hatten eine und dieselbe Farbe. Ich konnte kaum erkennen, wo er aufhörte beziehungsweise der Sessel
anfing. Irgendwie erinnerte er mich an Big Lebowski aus „The Big Lebowski“. Er bewegte seine Lippen nicht. Die Laute kamen aus seinem Mund wie bei einer Puppe. Monoton und phlegmatisch erinnerte er sich: „Einmal, ich war noch ZK-Sekretär, ging ich zu Paradschanow (Anmerkung). Er wohnte auf dem Mtazminda in einer kleinen hölzernen Hütte. Er freute sich, mich zu sehen. Aber er genierte sich: ‚Ich habe nichts da, warten Sie, ich geh zu den Nachbarn und frage, ob sie etwas haben,‘ sagte er. Ich sagte ihm, er müsse nicht gehen, falls ich etwas gewollt hätte, hätte ich es
selber mitbringen können. In seiner Hütte bewahrte er einige ungewöhnliche Dinge auf, fast wie in einem Museum. Dann wurde ich nach Moskau versetzt. Das Museum haben die Armenier dann heimlich nach Erivan gebracht. Sie schafften es wirklich, alles, was sich in Paradschanows Hütte befand, Stück für Stück nach Erivan zu bringen und dort ein wunderschönes Museum zu eröffnen. Irgendwann sagte ich zu denen:
− Wir konntet ihr so etwas machen? Schämt ihr euch denn nicht?
− Warum sollten wir uns schämen? Er war Armenier, so wie wir.“
Der Flashback ist vorbei. Tako hatte sich einen kleinen Kopfhörer ins Ohr gesteckt. In ihrer Hand hält sie einen i-Pod, dessen weißes Kabel vor ihrer braunen Haut weißer wirkt als es ist. Wie eine Milchspur auf Schokolade. Sie wirkt sorglos. Als wäre sie allein mit sich selbst, in sich selbst eingeschlossen. Im Rhythmus der Musik bewegt sie sich wie eine tanzende Kobra. Gleichzeitig ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie in die lustlose Realität des Schwimmbads eine geringfügige, aber korrekten Dissonanz hineinbringt und dass sie nun von allen beobachtet wird. Aber nur heimlich, mit gespielter Gelassenheit. Sich diese Show direkt anzuschauen, wäre unangebracht. In diesem heimlichen Voyeurismus steckt immer mehr Erotik als in irgendeinem Porno. Und das ist schon mehr als nur Show. Das ist Magie, wie der Zaubertrick mit der Säge. Sie will es selber, dass sie angegafft wird und dass man sich an ihr aufgeilt. So wie eine Frau, die sich im nächsten Moment in die Box legen wird, damit man sie vor dem Publikum in zwei Hälften sägt. Warum auch nicht? Ich mag alles, was Tako macht. Mir gefällt es selber, wenn ich sehe, wie sich die Leute an ihr aufgeilen. Es geilt mich selber auf, wenn ich ihre fest Brüste sehe, ihren Knackarsch, ihre jungenhaften, etwas zu breiten Schultern...
− Zwei Mojitos. - Bobby stellt zwei Gläser an die Bar.
Das Wasser im Becken strahlt so sehr, dass man glauben könnte, sie würden Spezialeffekte einsetzen. Dabei zittert es, als würde es regnen. Ein anschwellendes Brummen nähert sich, erreicht seinen Höhepunkt und verschwindet sogleich wieder. Das Jagdflugzeug fliegt so knapp über das Becken, dass sich auf der Oberfläche des Wassers sowohl sein Schatten wie auch die Druckwelle bemerkbar macht. Die Sonnenschirme an der Bar verbiegen sich gefährlich, im Becken schlägt das Wasser Wellen. Die lethargischen Tiflisser verharren auf ihren Liegen, keiner von ihnen lässt sich etwas anmerken. Nur eine dünne Frau beugt sich aus ihrem Stuhl und schaut in den Himmel. Sobald ich an dem Mojito nippe, bereue ich es. Warum habe ich nicht einfach Wasser bestellt? Statt Bacardi ist irgendein Schnaps in dem Gesöff.
Von der Hitze schon ein wenig desorientiert nähere ich mich Tako und küsse sie auf ihren heißen Nacken. Sofort bekommt sie eine Gänsehaut. Auf meinen Lippen schmecke ich den süßsäuerlichen Geschmack von Sonnencreme. Mein Gehirn schickt erste Signale an meinen Schwanz. Sofort schließt sich mein Sphinkter, an meinen Sack spüre ich einen leichten Stromschlag. In solchen Momenten schließt sich immer zuerst mein Sphinkter, und dann zieht es in meinen Hoden. Dennoch wird er nicht steif: Aus den Kopfhörern dringt ein bekannter Jazzsong. Irgendwie kriege ich das in meinem Kopf nicht zusammen, Tako und diese Musik. Ich küsse sie noch einmal auf den Nacken. Erfolglos warte ich darauf, dass sich das Jazzthema in ein elektrisches Remix verwandelt.
Tako dreht sich zu mir um. Lächelnd schaut sie mich mit halb geöffneten Augen an – das glänzende Wasser blendet ihre Augen. Ich gebe ihr meinen Mojito. Was hörst du, frage ich sie mimisch. Statt einer Antwort zeigt sie mir den Display ihres i-Pods. Ich sehe gar nichts. Das Display reflektiert das Sonnenlicht. Tako wippt wieder wie eine tanzende Kobra. Bevor sie ihre Hand wegzieht, sehe ich, das der Nagellack auf ihrem Zeigefinger schon abgeblättert ist.

Irgendwie eine dritte Variante

Ich sitze mit Tika schon seit zwanzig Minuten auf der Veranda des Hotels „Kopala“. Wir warten auf Kira und Karlos. Sie sind noch auf ihrem Zimmer. Ich bin gut gelaunt. Nicht weil Karlos ein toller Mensch ist, auch nicht, weil er mit Sicherheit dieses belebende bolivianische Pulver mitbringt. Ich bin einfach gut gelaunt, einfach so, ohne Grund. Ich will konkret an etwas Gutes denken, doch mir fällt nichts ein. Nur sinnlose Fetzen, ohne Anfang und Ende. Gleichzeitig überlege ich mechanisch, woher diese komischen und für das Georgische untypischen Dorfnamen in Georgien kommen, wie z.B. Buscheti in Kachetien, Gostibe in Kaspi, das besonders poetisch anmutende Schebota in Tianeti oder das japanisch klingende Akura bei Telavi. Ein Kellner stellt Gläser auf den Tisch.
− Darf‘s noch etwas sein?
Ich nippe an meinem Eistee.
− Noch nicht, – lächelt Tika den Kellner an. – Danke.
Auch der Kellner lächelt und geht fort.
Von hier aus könnte man fast ganz Alt-Tiflis mit der Hand einfangen. Metekhi, den Mtkvari, einen Teil der Lesselidzestraße und Narikala. Trockener Dunst steigt von den Straßen der Altstadt auf. Von irgendwoher kann man das Brummen von Hubschraubern hören. Es weht nur ein leichter Wind. Heiße und kalte Strömungen mischen sich ineinander. Hier im „Kopala“ ist es angenehm.
− Kira ist angekommen, – hatte mir Tika am Morgen gesagt.
− Kira? – wunderte ich mich. – Wann denn?
− Um sechs Uhr morgens.
− Allein?
− Zusammen mit Karlos.
Das ist schon eine andere Geschichte. Über niemand habe ich so viel gehört wie über Stas, alias Karlos, Kiras Ehemann und ein wahrhaft wundervoller Mensch. Jedenfalls, all das gute Koks, das wir diesen Frühling in Moskau geschnupft haben, hatten wir mehr oder minder ihm zu verdanken. Karlos ist wie ein somalischer Pirat – man hat ihn noch nie gesehen, aber schon viel von ihm gehört. „Karlos‘ Koks“, „Ist das Karlos‘ Koks?“, „Karlos‘ Koks – super!“, „Ruf Karlos an.“
Ihn selbst, den sagenumwobenen Karlos, habe ich bisher nur einmal zu Gesicht bekommen. Und dann auch von so nahe und in solch einem Zustand, dass ich ich mir sein Gesicht nicht einprägen konnte. In der Toilettenkabine des „Kveknis tscheri“ zog er mir auf dem Display seines „Vertus“ eine kurze, aber so dicke Line, dass ich dachte, er wolle mich umbringen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er einen Kopf kürzer ist als ich. Er hat eine goldbraune Gesichtshaut, große blaue Augen und vorne einen kleinen gesträhnten Iro. So wie der ehemalige Bandleader der „Boysband“. Irgendwie leuchtet und glänzt er. Nicht nur wegen den Saphir-Manschetten von „Bucheron“ und den Porzellanzähnen. Er leuchtet mit seinem ganzen Ego: „Ich bin Superman, und mir ist nichts supermännliches fremd.“ Er benutzt irgendein dezentes Parfüm. Ein ähnlicher Duft scheint dir bekannt zu sein, fast schon so, als würde es dich gleich an etwas Bestimmtes erinnern. Aber am Ende kannst du doch nicht sagen, welcher Duft es ist und woran er dich erinnert.
− Schnupf es, – sagte er und gab mir einen goldenen Strohhalm.
An den Strohhalm erinnere ich mich besser als an Karlos selbst. Darauf war mit unbekannten, luminiszierenden kleinen Buchstaben irgendein Text eingraviert, so wie in die Innenseite des Rings aus dem „Herrn der Ringe“. Sobald ich die Line geschnupft hatte, wurde mit klar, dass Karlos ein wunderbarer Mensch war. Er hat sogar Humor, was eine seltene Eigenschaft bei reichen Menschen ist. Ich weiß nicht, ob er es sich selber ausgedacht hatte oder ob er einfach irgendjemandem nachplapperte, jedenfalls sagte er mir an jenem Abend: „Den reichen Russen, so wie mir, muss man Schnaps mit einem solchen Emblem eingießen.“ (Dabei hauchte er auf den Toilettenspiegel und schrieb mit dem Finger drauf): Womöglich gibt es Menschen, die, obwohl sie massenweise teuren französischen Wein und Kognak trinken und zum Dessert kilometerlange bolivianische Lines ziehen, dennoch ihren Schnaps vorziehen.
Was Kira anbetrifft, so hat sie alle Voraussetzungen, um auch eine gute Frau zu sein. Wenn du deine Cocktailkleider exklusiv bei einem berühmten Designer schneidern lässt, zuhause aber einen privaten Masseur hast, musst du dich schon sehr anstrengen, um den Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Das besondere dabei ist, dass Kira und Tika Sandkastenfreundinnen sind. Seitdem Kira aber Karlos geheiratet hat und ihm nach London gefolgt ist, haben sich ihre Wege getrennt – so oft wie in den alten Zeiten haben sie jetzt nicht mehr miteinander zu tun. Dabei waren sie früher wie Thelma und Louise. Ich hatte den Eindruck, dass sich plötzlich nicht Kiras Vorstellung von der Welt, sondern ihre Welt selber von Grund auf geändert hatte. Anscheinend kann sie sich mit dieser Welt nicht anfreunden. Das eine Mal ruft sie aus Tokio an, das andere Mal aus Rio und dann auch von den Malediven: ohne Tika kann sie einfach nicht.
− Wo bleiben die bloß so lange? – Tika glotzt auf ihr Handydisplay.
− Ruf sie doch an, – sag ich ihr.
− Warum sollte ich?
− Darum. Damit du erfährst, wo sie jetzt sind.
− Ich ruf sie in fünf Minuten an.
Ich verstehe nicht, warum sie erst in fünf Minuten anrufen will. Tika hat so ihre eigene Einstellung von der Zeit. Erst in fünf Minuten anrufen, bei Verabredungen zehn Minuten zu spät kommen, vor Kinobeginn eine halbe Stunde zu früh da sein und so weiter. Die wahren Gründe werde ich wohl nie verstehen. Womöglich werde ich auch nicht verstehen, welcher Force Majeure sie dazu bewegt hat, gerade heute nach Georgien zu kommen, mitten im Krieg. Ich glaube nicht, dass ihr Tika so sehr gefehlt hat. Da muss schon mehr dran sein. Hinter Tika, zwei Tische weiter sitzt ein mickriger alter Mann mit einer markanten Hakennase, einer Glatze und einem kleinen faltigen Doppelkinn. Er hat eine blaue Hose, weiße Turnschuhe und kurze weiße Steps an. Von meinem Platz aus kann ich nicht sehen, welche Zeitung er liest. Ich kann nur einen fremdsprachigen Artikel erkennen. Irgendwie scheint er ein eleganter alter Mann zu sein, wie für seine eigene Beerdigung herausgeputzt. Zu seiner Rechten sitzen Holländer, irgendwas zwischen Journalisten und Touristen. Es sind fünf – drei Männer und zwei Frauen. Jeder bestückt mit einer Profi-Kamera. Irgendwie schaffen sie es, leise laut zu sein. Sie diskutieren darüber, ob sie zuerst ins Leichenhaus oder ins Krankenhaus gehen sollen. Wenn ich es richtig gehört habe, sind gestern Freunde von ihnen, die Reporter der „RTL-Nieuws“, ein Storiman und ein Ackerman oder so, in die Bombardierung Goris geraten. Ich kann aber nicht heraushören, welcher im Krankenhaus und welcher im Leichenhaus liegt... Mit einer der Frauen, die kurze lila Haare hat, habe ich mehrmals Blickkontakt. Sie wird zwanzig bis fünfundzwanzig sein. Vor ihr liegt eine Tasse Kaffee und ein kleiner Teller mit einem halben Stück Kuchen.
Auf dem Tisch vibriert Tikas Handy. Tika schaut auf das Display.
− Ist es Kira? – frage ich sie.
Zur Antwort schüttelt sie den Kopf:
− Nein, Bobo. – sagte sie
Noch bevor sie geantwortet hat, erinnere ich mich an Bobo. Besser gesagt, an ihren festen Brüste, ihre Wespentaille und ihr Bauchnabelpiercing – ein kleiner Embryo aus Platin. Bobo und ich hatten uns im Sommer vor genau fast einem Jahr getrennt. Nicht wegen Tika. Obwohl ich Tika durch Bobo kennen gelernt hatte. Irgendwie kamen wir beide doch nicht miteinander klar. Dabei muss ich gestehen, dass niemand so gut blasen kann wie sie, nicht mal Tika. Tika nimmt ab.
− Hi, Bobo.
Kira kann gar nicht blasen. Was Karlos an ihr gefallen hat, verstehe ich nicht. Es kam so, dass in der gleichen Kabine des „Dach der Welt“ mein Schwanz in Kiras Mund landete. Ich habe sie nicht angemacht, sie wollte es. So, dass niemand uns sehen konnte, folgte sie mir in die Kabine, stellte mich gegen die Wand, hockte sich hin und zog dabei auch gleich meine Hose runter. Es schien mir unangebracht, nein zu sagen. Ich war von Karlos Koks so erregt und gleichzeitig so höflich, dass ich in jenem Moment nicht mal zu meiner Mutter nein gesagt hätte. Diese ganzen manuellen-oralen Geschehnissen weckten in mir eine angenehme Vorfreude, jedoch völlig umsonst – Kiras Enthusiasmus verflog gleich wieder. Ich konnte nicht mal kommen, der Blowjob war mies und die mit Valium voll gestopfte Kira schlief fast mit meinem Schwanz im Mund ein.
Ich kenne Kiras Aschenputtelgeschichte fast auswendig. Ich weiß, dass diese zweitklassige Malerin, die täglich eine handvoll Valium in sich reinstopfte und panische Angst hatte, zu viel von ihren Ölfarben zu verbrauchen, lächerlich kleine Bilder malte, plötzlich anfing, Gefallen daran zu finden, für den Tierschutz zu arbeiten, in ihrem eigenen Ferrari Orgasmen zu haben und Slogans der Werbung zu zitieren. Ich nehme an, sie frisst immer noch ihr Valium, jedoch aus einem anderen Grund. Die Gründe sind meist das wichtigste. Darum ist es ja so interessant, was sie hierher zurückbrachte, mitten im Krieg. Kira gehört nicht zu dem Typ Frau, die so etwas einfach mal so macht. Vor allem weil sie seit fünf Jahren nicht mehr in Tiflis gewesen ist. Es sieht nicht danach aus, als würde Mohammed zum Berg gehen, oder umgekehrt der Berg zu Mohammed. Das ist irgendwie eine dritte Variante: Mohammed und der Berg treffen sich auf neutralem Boden. Genauso trafen sich Napoleon und Alexander I. auf neutralem Boden, auf dem Fluss Memel, auf einem extra dafür angefertigten Floß, am 25. Juni. 1807. Vielleicht ist heute, am 8. August 2008, die Veranda des „Kopala“ auch ein Art Floß – ein Portal für die Parallelwelten zwischen Tika und Kira.
Denn egal für wie viele Tiere sie sich einsetzt, wie sehr ihr chinesischer Masseur sie knetet, egal wie viele Orgasmen sie auf einmal mit Karlos hat, und nicht nur mir Karlos, und ob sie sich ihren Arsch mit Chanel-Klopapier abwischt, irgendwo auf molekularer Ebene ist sie immer noch die alte Kira – ein Mädchen aus dem Nuzubidze-Viertel mit lächerlich kleinen Bildern und flachen Brüsten. Vor allem wird sich dessen auch selbst bewusst sein, darum ruft sie ja auch öfters mal an, mal aus Paris, mal von den Malediven. Wahrscheinlich, um vor ihrer Vergangenheit zu fliehen. So weit ich weiß, ist es Tika scheißegal, ob Kira sie aus ihrem Ferrari oder aus dem Nutzubidze-Viertel anruft, ob sie einen Designerfummel anhat oder wieder ihr weißes Top trägt, durch den man immer ihre spitzen und W-förmigen Hängetitten sehen konnte. So wie ich es sehe, ist Tika die alte Freundschaft zu Kira wirklich wichtig. Manchmal kann Tika sehr süß und übermäßig sentimental sein. Im allgemeinen ist dieses Handygeplauder schon ein echt verfickter Zeitvertreib. Ich würde aber auch gern mal von den Malediven anrufen, am besten noch von meiner Privatjacht, auch wenn es nur meine alten Schulfreunde sind. Anscheinend ist es besonders schwierig, sich von den eigenen Gefühlen nicht übermannen zu lassen, wenn man zwischen Palmen in der Hängematte liegt, seine Piña Colada schlürft, dabei dem Sonnenuntergang zuschaut, eine Blumenkette um den Hals hängen hat, und vom Ozean her eine sanfte Brise weht...
Mich ruft eine mir unbekannte Nummer an.
− Schako, bist du‘s? – fragt eine bekannte Stimme.
− Ja, bin ich.
− Schako, ich bin’s, Nugo. – Pause. – Vom „Spiegel“.
Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Dafür erinnere ich mich aber, dass Pater Ilia auch so eine piepsige Stimme hat.
− Wie geht’s dir Nugo? – frag ich.
− Gut, gut. – Pause. – Bist du grade in Tiflis?
− Ja, und?
− Hör zu. Das georgische Pepsi will dich für seine Werbung.
Keine Ahnung, wie ich auf so was reagieren soll. Es ist absurd, jemanden hier in Georgien als „erfolgreich“ zu bezeichnen, aber es ist dennoch ein wenig schmeichelhaft, wenn dich Pepsi für seine Werbung will. Und naturgemäß entsprichst du dem Stereotyp, den sie in diesem Moment brauchen.
− Prima, – sagte ich. – Foto oder Video?
− Ich erklär‘ dir alles, wenn wir uns treffen. – Pause. – Hast du heute Zeit?
− Heute noch? – überlege ich laut. – Eigentlich schon.
− In der Chardin-Straße. Um 4. Geht das?
Ich würde ihm gerne sagen, dass das nicht geht, dass ich übermorgen nach Antalya fliege. Obwohl es keine schlechte Idee ist, sich in der Chardin-Straße zu treffen. Sie werden bestimmt gut zahlen. Klar, ist das ein ganz anderer Maßstab. Tiflis ist eine kleine Stadt, und ich bin nicht David Beckham. Der Auftraggeber ist aber Pepsi, auch wenn es nur die georgische Filiale ist, und dann soll es auch in der Chardin-Straße sein.
Hier ist eh alles teuer, so wie die Werbung in der Primetime. Und ansteckend. Wenn du am einen Ende dieser extrem kleinen Straße einen stinkenden Penner loslässt, kommt am anderen Ende ein piekfeiner Schnösel raus. Jemand, der sich in High-Fashion-Welt und exklusivem Zigarettengestank gleichermaßen auskennt. Oft ist es auch so. Besser gesagt, in der Chardin-Straße ist jeder zweite ein für das Pariser, Londoner oder Mailänder Defilee feingemachter ehemaliger Penner. Teure Anzüge, Botox-Lippen und Porzellanzähne mischen sich ineinander. Hier kann man jederzeit zugleich jeden beliebigen Parlamentarier, den Friseur Ali und einen sowjetischen Star wie Buba mit seinem bezaubernden Lächeln antreffen, von den multimedialen Artisten mit ihren Star-Allüren ganz zu schweigen. Es kommt sogar vor, dass der Präsident vorbeischaut. Warum auch nicht. Kann doch sein. In kleinen Ländern ist das ohne weiteres üblich. Und naja, wo Buba ist, ist auch der Präsident, und umgekehrt, wo der Präsident ist, ist auch Buba. Manchmal fällt es einem schwer, zu unterscheiden, wer jetzt der Präsident und wer Buba ist. Präsident-Buba. Hubba-Bubba.
− Dann sehen wir uns in der Chardinstraße, – sage ich zu Nugo. – Um vier.
Die Holländerin hinter Tika steht vom Tisch auf. Sie trägt ein weißes Top, eine knappe Jeansshorts im Used Look und weiße Mokassins. Iin ihrem Bauchnabel glitzert ein Diamant. Ich starre auf ihre langen Beine. Durch ihr Top sehe ich, dass sie keinen BH trägt. Ihre mäßig großen Titten wippen leicht beim Gehen. Ihre Haut ist kaum gebräunt und ihre kurzen lila Haare schimmern neonartig. Ihr Körper ist wohl geformt, so wie Violet aus dem Film „Ultraviolet“.
− Gilt der Deal? – vergewissert sich Nugo.
Ich weiß, ich bin notgeil, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Und sie wendet sich auch nicht ab, sondern schaut mir direkt in die Augen. Sie lächelt mich eigenartig an. Ich beobachte – und werde beobachtet. Würden Tinto Brass und Sergio Leone gemeinsam einen erotischen Western drehen, so würden sie diese Szene bestimmt einbauen: Totale / Großaufnahme / Totale / Großaufnahme / Italienische Einstellung / Italienische Einstellung...
Die Hintergrundmusik: eines von Morricones ersten Werken. Charles Bronson spielt auf der Mundharmonika. Hier würden auch eine Post-„Matrix“-Verlangsamung der Bewegung, eine rotierende Kamera und ein Bullet-Time-Effekt passen. Diese ganze Augenstory dauert nur ein paar Sekunden lang. Tika kriegt nichts davon mit. Die Holländerin verlässt die Veranda. Bis sie die Glastür schließt, beobachtet sie mich weiter. Und ich schaue sie weiter an. Wie ein Telepathiker. Ich weiß natürlich nicht, ob wir im telepathischen Konsens stehen oder nicht. Und überhaupt, ob sie von meiner offensiven Aufmerksamkeit genervt oder doch eher angetan ist.
− Der Deal gilt. – Ich lege mein Handy wieder auf den Tisch.
− Ich ruf dich heute Abend an, – sagt Tika zu Bobo. – Ok? – Pause. – Bye. – Sie legt auf.
− Wer war‘s? – fragt sie mich.
− Nugo, – sag ich ihr. – Vom „Spiegel“.
− Nugo? – Tika zuckt mit den Achseln. – Was wollte der?
− Sie wollen mich für die Pepsiwerbung.
Tikas Handy klingelt wieder. Sie schaut wieder auf das Display.
− Das ist Kira, – sagt sie.
Sie nimmt ab.
− Kira?
Nugo ruft mich wieder an.
− Ja, was gibt’s noch? – frag ich.
− Sie haben grade mitgeteilt, dass die Chardin-Straße blockiert ist.
Bei Nugos piepsige Stimme muss ich wieder an Pater Ilia denken. Ein guter Mann und eine vollkommen unerwartete Erscheinung im georgisch-christlichen Fundamentalismus. Ein echter Antikörper im Körper. Per Zufall landeten ich und ein paar Bekannte letztes Jahr in Gremi in seiner Zelle. Sofort wurde uns ein Tisch mit einem Imbiss gedeckt, dazu ein fabelhafter Honigschnaps und irgendwelche halbseidenen Fastengeschichten. Zum Schluss rief Pater Ilia irgendein Gemeindemitglied herbei. Er ließ ihn Karaoke in die Zelle bringen. Zum Dessert sang er Britneys „Toxic“ mit solch einer Inbrust und einem Drive, dass er mich fast bekehrt hätte. So besoffen war er dann aber doch nicht. Er war einfach nur ein groovy Typ, und das sagte er uns auch selbst: Wir sind auf dem gleichen Holz geschnitzt. So zollte er uns Respekt. Bis zuletzt war er gut gelaunt. Nur seine Augen schienen ein wenig traurig und sehr müde zu sein. Anscheinend hatte er einen weiten Weg hinter sich gebracht, vom Spermatozoon bis zum Beichtvater.
− Ich kann vor hier aus nichts erkennen, – sage ich zu Nugo, während ich von der Veranda Richtung Chardinstraße schaue. Ein Cyberpunk-Bild: Über die Brücke fährt eine Gruppe Radfahrer. Die über ihren Sattel gekrümmten Radfahrer treten keuchend in die Pedale. Mit ihre eng anliegenden aerodynamischen Anzügen, den eierförmigen Helmen und den Sportbrillen sehen sie aus wie Charaktere aus Sciencefiction-Filmen. Der Radfahrergruppe folgt ein grauer Ford Sierra. Gleichzeitig muss ich wieder an Pater Ilia denken. Mit seiner schwarzen Kutte, dem Kreuz am Hals, dem Mikro in der Hand und den müden Augen.
− Auf Imedi haben sie berichtet, dass das Militär in der Chardinstraße auffährt, – erzählt Nugo.
Von der Veranda aus hat man das Gefühl, man könnte die Stadt mit der Faust greifen. Ich sehe nichts, ich spüre es nur. Es ist irgendwie nicht mehr so, wie es vorher war. Irgendetwas hat sich geändert. Man muss Tiflis schon sehr gut kennen, um diese kleinen Veränderungen wahrnehmen zu können. Die Stadt ist sehr biegsam. So wie Knete, eine hyperrealistische Stadt. Jeder kann sie nach seinen eigenen Vorstellungen formen, färben, missbrauchen. Und vor allem fälschen. Fast bittet sie
dich darum, wendet sich an dich, befiehlt dir, sie zu formen, zu färben, zu missbrauchen. Wenn sie meine wäre, würde ich an den Stadttoren Banner aufhängen mit der Aufschrift „Fake Me.“ Nicht „Color Me“ oder „Fuck Me“, sondern eben „Fake Me“. Weil das am besten die Seele dieser Stadt widerspiegelt. Nicht nur die Seele, auch ihr Wesen und ihren Zustand. Gerade jetzt. Der Krieg hat ja auch sein Sprache: kurz, banal und leicht zu merken. So wie die Reportagen aus dem Russisch-Tschetschenischen Krieg zwei banale Slogans festgehalten und im Internet konserviert haben: „Welcome to Hell“ und wenig später „Welcome to Hell, Part II“. Das entspricht ungefähr den
Filmzitaten aus Kitanos „Dolls“, die sich einem so leicht einprägen, dass man auf die trivialen Sujets gar nicht mehr achtet.
Wenn wir uns aber die Tatsache in Erinnerung rufen, dass Tiflis auch die armenischste Stadt (eigentlich fast ein ganzes armenisches Imperium) ist, weil hier mehr Armenier wohnen als in Erivan, und dass fast jeder erfolgreicher Georgier mindestens ein armenische Großmutter hat, dann könnte man sich sogar überlegen, vor den Toren der Stadt noch ganz andere Banner aufzuhängen: ...

− Super, – sagt Tika zu Kira.
− Was sollen wir jetzt machen? – frag ich Nugo.
Hinter den Scheiben kann ich den an der Wand montierten Fernseher sehen. Ich erkenne, wie eine blutverschmierte Oma vor einem brennenden Gebäude sitzt und hilflos ihre Arme in die Kamera streckt. Gleich daneben ist ein umgekippter „Rotes Kreuz“-Wagen. Daneben raucht ein kleiner Minibus – die Reifen sind verbrannt. Mitten im Bild sieht man das kaum beschädigte Stalin-Denkmal. So wie es aussieht, wird grade aus Gori berichtet. Das Denkmal des Generalissimo findet man nur noch dort. Im Hintergrund läuft ein Soldat in gebückter Haltung feuernd durch die Gegend. Unten im Bild laufen Untertitel: „... Eröffnen Sie bis Dezember ihr Sparkonto bei der TBC-Bank und gewinnen Sie eine von zehn Mercedes-Benz-Limousinen oder den Hauptgewinn von einer Million Lari! Werden sie zum Millionär mit der TBC-Bank!...“
Wahrscheinlich ist es für den Piloten des Kampfflugzeugs egal, was er bombardiert, eine Stadt, einen Wald oder nur einen Hühnerstall. Aus seiner Perspektive sieht man alles bestimmt nur als Objekt, als Punkte oder Fadenkreuze. Nichts als eine Skizze. Was würde ich wohl fühlen, wenn ich da drin sitzen und auf den Abzug drücken müsste? Mehr noch, wenn ich wüsste, dass ich Schebota, Gostibe oder Buscheti bombardieren müsste?
− Ok, – sagt Tika zu Kira und legt auf.
− Lass mich das mal klären. Ich ruf dich dann wieder an, – sagt Nugo. – Ok?
− Ok, – antworte ich. – Ich warte solang.
Ich lege mein Handy wieder auf den Tisch.
− Was wollte Kira? – frag ich Tika.
− Sie wollte, dass wir für ‘ne Weile zu ihnen aufs Zimmer kommen. „Hattu Haschisch in den Taschen, hattu immer was zu Naschen.“
− Schön. – Ich schlürf meinen Tee aus.
Karlos hat also sein Pulver dabei.

Nichts besonderes

Ich bin fertig im Bad und binde mir ein Handtuch um die Hüfte. Aus dem Wohnzimmer höre ich Takos Stimme. Wahrscheinlich skypt sie. Ich stecke mir Ohrstäbchen ins Ohr. Durch das offene Fenster schaue ich auf den Hof hinunter: ein Moskwitsch ohne Reifen steht auf aufgetürmten Backsteinen, neben einem Kombi hocken zwei Jungen aus dem Viertel. Sie sind einfache Tiflisser Jungs, weder richtige Diebe noch richtige Junkies. Hauptsächlich tun diese Straßenjungs so, als ob sie sehr beschäftigt wären. Einer von ihnen tippt eine SMS. Der andere ritzt mit seinem Messer irgendetwas in die Tür des Moskwitsch rein. Von irgendwoher kommt schwarzer Rauch. Auf einem Balkon wird ein Teppich ausgeklopft. Auf dem Sportplatz spielen ein paar Kinder Fußball. Aus den offenen Fenstern kann man die verschiedenen TV-Sender hören: „... Die Hilfsorganisationen haben begonnen, die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen...“ Ich gehe ins Wohnzimmer. Tako liegt seitlich auf dem Sofa – die einzige Yoga-Stellung in Georgien. Neben ihr liegt der Laptop. Sie skypt mit Naniko. Sie sieht vollkommen unattraktiv aus, das Seitlichliegen steht ihr gar nicht. Sie liegt nicht nur so, sie sieht aus wie ein Stück Fleisch in der Metzgerei, sie strahlt vollkommene Antriebslosigkeit aus.
− Was sagen sie im Fernsehen? – fragt Naniko.
− Keine Ahnung, – gähnt Tako. – Ich hab‘s noch nicht eingeschaltet.
− Bei uns sagt man, dass auf Tiflis sogar chemische Bomben abgeworfen werden sollen, und dass die Botschaften die Stadt verlassen.
− Warte, ich schalt‘s ein. – Tako reckt ihren Hals und sucht nach der Fernbedienung.
− Suchst du die Fernbedienung? – frage ich.
− Ja, siehst du sie?
Auf dem Tisch liegen der Laptop, Takos Handy und die Juli-Ausgabe der „GQ“. Darauf eine leere Tüte von „Skrjabin‘s Donuts“ und ein „Actimel“-Fläschchen.
− Wie geht’s dir, Gio? – Naniko begrüßt mich auf dem Bildschirm.
− Bestens, – sag ich ihr. – Wie geht’s Zizou?
Ich schmeiß die Ohrstäbchen in das „Actimel“-Fläschchen.
− Verarschst du mich? – Sie verzieht ihre Botoxlippen zu einer Grimasse, als wäre sie
beleidigt.
Ihre talentlose Schauspielerei amüsiert mich.
− Stay fake. – sag ich ihr.
− Wie meinst du das? – fragt sie.
− Vergiss es, – antworte ich. – Ich kann die Fernbedienung nicht finden, – sage ich zu Tako.
Tako blickt sich im Wohnzimmer um und ähnelt dabei einer Gans. Sie schaut auch unter den Kissen nach.
Ich merke, wie ich langsam geil werde. So ist Tako: je entspannter sie ist, desto geiler macht sie einen. Ich weiß schon, wie ich sie wieder zum Schwitzen bringen kann. Ich knie mich vor dem Sofa hin und massiere ihren Rücken, ihre jungenhaften Schultern.
− Was machst du da? – fragt sie mich und räkelt sich dabei wie eine Katze.
− Entspann dich, – erwidere ich einfallslos.
Sie kann ja eh nicht noch entspannter werden. Ich spüre mit meinen Händen, dass sie wie eine Qualle ist. Sie ist nach jeder Form von Massage verrückt. Sie wird dabei formbar wie Knete und impulsiv wie ein Psychopath. Natürlich ist meine Massage längst nicht so gut wie Ayurveda oder Shiatsu, es ist eher die Imitation einer Massage. Um Tako willig zu machen, reicht es aber. Ich küsse ihren Nacken. Sie riecht, als wäre sie frisch aus dem Bett gekommen. Ich schiebe ihr Hemd hoch und streichle ihre Brüste. Vor Erregung richten sich die Härchen auf ihrem Rücken auf. Ihre Hand wandert unter meinen Handtuch, sie greift mir an den Schwanz.
Ich ziehe ihre Shorts aus. Sie hebt ihre Beine hoch und macht es mir so leichter, ihr den String auszuziehen. Ihre Nippel richten sich auf. Naniko sagt nichts mehr. Vom Bildschirm aus beobachtet sie uns. Sie schweigt taktvoll. Sie weiß, dass sie schweigen soll. Ich spreize Takos Beine. Ihre Vulva tritt in einem weißen Dreieck hervor, ihrem Bikiniabdruck. Naniko kann ihre Augen nicht von Takos Vagina abwenden. Als würde gleich ein Vogel rauskommen. Ich fange vorsichtig an und berühre ihre rosa Klitoris mit meiner Zungenspitze. Ich lecke ihre feuchten Schamlippen. Ihre Knie zittern ein wenig. Tako setzt sich plötzlich auf dem Sofa hin. Sie streift mir das Handtuch ab.
− Leg dich hin, – sagt sie zu mir.
Ich gehorche ihr wortlos. Sie setzt sich auf mein Gesicht. Sie leckt mir meinen Schwanz. Sie befeuchtet ihren Zeigefinger, sie kitzelt mich an meinem Sphinkter. Ich spüre, wie sie mit ihrem Finger eindringt. Mit meinen Zähnen beiße ich ihr in ihre angeschwollene Klitoris. Ich liebe alle Arten von Scheiden: buschig, gestutzt, glatt rasiert, gepierct, tätowiert...sogar an roten Tagen, vor allem gegen deren Ende. Also dann, wenn es nicht mehr bordeaux-, sondern schon ferrarifarbig ist – wenn es echt italienisch rot ist, rosso corsa. Meine Liebe zur Vagina steckt sehr tief in mir, auf molekularer Ebene. Hauptsache sie ist hübsch und gepflegt. Mein Hirn ist für immer auf dieses Organ fixiert, wie ein PC auf das World Wide Web. Vor allem Takos Vagina liebe ich. Sie ist mein Autopilot. Mein Shangri-La. Mein Weg, meine Wahrheit, mein Leben. Sobald sie mich sehen, öffnen und schließen sich ihre Schamlippen – als würden sie mich anlocken, so wie die neunte Pforte aus den „Neun Pforten“. Ein ewiger Ruf. Tako ist immer bereit, mich in sich aufzunehmen.
Mich macht das verrückt. In solchen Momenten bin ich selbst nur Fleisch, happy meat.
In einem Film von Almadovar gibt es eine ähnliche Szene: In einem Experiment wird ein Mann so verkleinert, dass er in die Vagina seiner geliebten Frau schlüpfen kann. Wenn ich könnte, würde ich ohne zu überlegen in Takos Vagina schlüpfen, wie ein Maulwurf. Ihre rasierte Vulva piekst mich an der Nase. Sie ist so feucht, dass ich kaum mit dem Schlucken nachkomme. Ich kaue sanft an ihrer Klitoris.
− Kannst du mal kurz auf die Knie gehen? – frage ich sie.
Ich spreize ihr Arschbacken. Ich fahre mit der Zunge an ihrem rosa-capuccinofarbenen
Sphinkter entlang. Ihr Sphinkter zuckt reflexartig. Er schließt und öffnet sich... wie eine Blume, nur im Schnelldurchlauf. Ich befeuchte ihn mit meinem Speichel. In ihren feuchten Falten glitzern farbige Funken, so wie das Sonnenlicht an den Kanten eines Diamants.
Dieser Vorgang gefällt ihr nicht so sehr, darum dringe ich nur sehr vorsichtig in ihren Anus. Ihr Sphinkter presst meinen Schwanz reflexartig zusammen. Mit meinen Fingern knete ich ihre Nippel. Ich schaue Naniko in die Augen, die uns vom Monitor aus beobachtet. Sie versucht, nichts zu verpassen. Ungewollt denke ich darüber nach, was diesen Tag so besonders machen könnte. Außer seiner historischen Bedeutung. Was könnte dieser Tag für eine Bedeutung haben – 08/08/08/? Steht die 8 hier für ∞, und bedeutet das ganze Unendlichkeit mal Null hoch 3? Oder steht die 8 für eine Sanduhr, also Zeit mal Null hoch 3? Wenn wir die Ziffern vertikal untereinander schreiben, so dass die 0 unter der ∞ liegt, könnten wir uns sogar einen Mann mit offenem Mund vorstellen: ∞ die Augen, 0 der Mund. Wenn man darüber nachdenkt, fällt einem auf, dass der Mann zahnlos ist, doch das ist nicht wichtig. Hauptsache, der Mann mit dem offenem Mund schreit. Es bleibt nur noch festzustellen, warum er schreit. Auch die 8 Planeten im Sonnensystem, die 8 Tore des Paradieses, die 8 × 8 Felder auf dem Schachbrett, der edle achtfache Pfad im Buddhismus – alles das könnte dahinter stecken, falls 0 hier ein neutrales Elemen wäre, aber nur bei Addition oder Subtraktion. Jede andere Rechenart hätte zur Folge, dass sie die Zahl nichtig machen würde. Also in irgendeiner Hinsicht vaginalisiert, die Vagina als ideale 0 und umgekehrt. Eigentlich hätte ich auch in Wikipedia die Antwort suchen können, anstatt mich hier damit rumzuplagen. Und schließlich, wenn wir annehmen, die ∞ wäre das Skrotum und 0 die Vagina, dann versteht sich alles von selbst, selbst warum der Penis nicht zu sehen ist. Der befindet sich ja schon in der Vagina. Heißt das also, dass 08 das Symbol für Sex ist? Mit dieser Logik könnte man sogar darauf kommen, dass dieses Datum irgendwie mit dem Krieg verbunden ist. Jedenfalls gerade so sehr, wie der Krieg selbst die Imitation von Sex ist, und umgekehrt, der Sex die Imitation des Krieges. Ich spüre, dass ich bald kommen werde.
− Ich komm gleich, – sag ich zu Tako.
− Hör nicht auf.
− Und du?
− Mach weiter!
Takos Handy klingelt. Bildschirm und die Tastatur leuchten auf. Vibrierend bewegt es sich auf dem Tisch: „Bzzzzzz“... Der Originalklingelton von Nokia klingt wie ein Choral. Während ich meinen Schwanz rausziehe, legt sich Tako auf den Bauch.
− Nimm du ab, – sagt Tako und legt ihren Kopf auf das Kissen.
Ich schaue auf das Display – es ist Sopo Rusadze. Bevor ich rangehe, erinnere ich mich daran, dass Sopo eine talentierte Journalistin ist. Jedenfalls ist ihre Sendung im Ersten die einzige, die man sich anschauen kann, ohne dabei einen Brechreiz zu kriegen. Ich mag alles an Sopo. Wie sie sich anzieht, wie sie denkt, wie sie redet... nur eins verstehe ich nicht: warum sie wie ein Tiflisser Snob einen Toyota Prado fährt. Dieses Auto ist meiner Meinung nach für eine Frau eher unpassend. Es ist
schwierig, über Sopo zu reden, ohne dabei an den „Drunken Master“ zu denken. Es gibt im Kung Fu eine Technik, bei der sich der Kämpfer besoffen stellt. Das beste an Sopo ist, dass sie nie schauspielert, im Gegenteil, sie versucht immer ganz beim Thema zu bleiben. Voll gestopft mit ihren Tranquillizern braucht sie immer ein wenig, bevor sie begreift, was man ihr gesagt hat.
Wenn es nach mir gehen würde, würde ich nur hübsche und charmante Frauen als Journalisten arbeiten lassen. So wie im italienischen Fernsehen, wo man kaum unterscheiden kann, ob die Ansagerin ein gesuchtes Fotomodell oder ein brasilianische Beachvolleyballerin ist. Als ob es angenehm wäre, sich von einer hässlichen Kröte interviewen zu lassen. Grüße aus der Unterwasserwelt! Bis jetzt hat mich noch keine Amphibie geil gemacht. Ausgenommen allenfalls Meerjungfrauen. Journalistinnen, die dich anziehen und die deine Sinne ansprechen, versuchst du
zu gefallen und bessere Antworten zu geben. Und nicht nur Antworten. Am Ende des Interviews hat man dann auch nicht das Gefühl, dass einen ein intellektueller Frosch, eine Qualle oder ein Lurch gefickt hat.
Ich komme nicht dazu, ihr „Hallo“ zu sagen. Sopo fragt mich gleich mit ihrer müden Stimme:
− Gio, bist du‘s?
− Jawohl, – antworte ich. – Wie geht’s dir, meine Liebste?
Sie übergeht meine Frage.
− Wo ist Tako?
− Im Bad, – sag ich ihr. – Ist es dringend?
− Sag‘s ihr nicht... – Pause. – Ich hatte grade einen Alptraum von ihr.
− Was hast du denn geträumt? – frage ich.
− Nichts Besonderes.
Wegen „nichts Besonderem“ hätte sie bestimmt nicht angerufen.
− Nun sag schon, – sage ich insistierend.
− Hautsache, sie lebt noch, – sagt sie und verstummt gleich wieder.
Ich glaube, sie gähnt. Stille macht sich breit.
− Sopo?
− …
Ich frage mich, ob sie eingeschlafen ist, oder ob die Leitung unterbrochen wurde. Oder warum sie überhaupt angerufen hat. Ich schaue auf das Handy. Gleichzeitig versuche ich, einzuschätzen, was sie Grauenvolles im Traum gesehen haben könnte – hat ein Irrer Tako die Nippel abgebissen, die Finger mit einer Geflügelzange abgeschnitten, ihre Knöchel durchbohrt, ihre Augen ausgelöffelt...? Interessant, was sie sich wohl vorm Schlafengehen angeschaut hat – die aktuellen Nachrichten oder eine mexikanische Seifenoper?
− War das Sopo? – fragt Tako, sie sucht wieder die Fernbedienung und kramt zwischen den Kissen.
− Ja. Sie hat was Schlechtes von dir geträumt.
− Hier ist sie. – Tako zieht zwischen den Kissen die Fernbedienung hervor.
Sie schaltet den Fernseher ein. Der Bildschirm piepst, langsam wird es heller. In einem Handyvideo kann man sehen, wie ein brennendes Kampfflugzeug abstürzt und dabei eine dunkle Spur am Himmel hinterlässt.
− Was hat sie denn geträumt? – fragt Naniko aus dem Laptop.
− Nichts Besonderes.


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Zaza Burchuladze
Zaza Burchuladze (geb. 1973) – Schriftsteller und Übersetzer, studierte an der Kunstakademie Georgiens in Tbilisi. Autor von 12 Prosabänden (8 Romane, 2 Kurzgeschichten, 1 Novelle, 1 Drehbuch). Übersetzte Dostojevski, Sorokin und Bytov aus dem Russischen ins Georgische. Spielte einer den Hauptrollen in dem Film
„Jako’s Lodgers“ von Dato Janelidze.

Veröffentlichte Literaturwerke:
2009 –
adibas (Roman) - Rezensionen
2008 – Phonogramm (Kurzerzählungen)
2007 – Der andere Schlüssel (Drehbuch)
2005 – Lösbarer Kafka (Novelle)
2004 – Das Eselsevangelium (Roman)
2003 – Mineraljazz (Roman)
2002 – Brief an die Mutter (Roman)
2001 – Die Simpsons (Roman)
2000 – Du (Roman)
1999 – Sultatana (Roman)
1998 – Drittes Bonbon (Kurzerzählungen)
1997 – Zwei Bonbons (Roman)

Internationale Publikationen/Auszeichnungen
„Mineraljazz“ (Roman) und „Lösbarer Kafka“ (Novelle) sind auf Russisch übersetzt und publiziert worden beim Verlag (
admarginem.ru

Rezensionen / zusätzliche Informationen:
Literary Agency
NIBBE&WIEDLING, Deutschland
Rezension bei Literary Agency NIBBE&WIEDLING
über „Lösbarer Kafka“ , Deutschland
Literaturabend
„Krieg und Sex“ in der Romanfabrik, Frankfurt a/M, Deutschland Verlag AdMarginem
Rezension von Anna Narinskaja über „Lösbarer Kafka“ in der Zeitschrift “Weekend” , Russland
Rezension von Vladimir Cybulskij über „Lösbarer Kafka“ in Gazeta.ru, Park Kultury, Russland
Rezension in
TimeOut, Ukraine
Rezension von Igor Bondar-Terestschenko über
„Lösbarer Kafka“ in Stolichnye Novosti , Ukraine.

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