Schöner Bericht und Foto von Stephanie Geiger hier >>>
(nzz.ch) Der Grosse Kaukasus hat alles zu bieten, was sich Bergsteiger wünschen: einsame Täler, hohe Berge und Touren, die eine echte Herausforderung sind. Trotzdem ist die Gegend bis heute nicht über den Status «Geheimtipp» hinausgekommen.
«Auf einen Berg steigen, und noch dazu auf den Kasbek?» Luisa findet das so abwegig, dass sie unsere Frage noch einmal wiederholt. Luisa, 68 Jahre alt, eine kleine rundliche Frau, graue Haare, blaue Schürze, ist unsere Gastgeberin in Stepanzminda. Das golden schimmernde Kaffeeservice in der Vitrine, ein Teppich an der Wand, eine alte Speisezimmergarnitur, das alles trägt dazu bei, dass sich schnell zu Hause fühlt, wer hier übernachtet. Und wer aus dem Fenster schaut, hat einen phantastischen Blick auf den dritthöchsten Gipfel Georgiens. «Der Kasbek ist ein wunderschöner Berg», sagt Luisa. Doch ihr Herz und die Lunge würden eine Besteigung nicht mehr zulassen.
Viel unberührte Natur
Aber auch früher ist Luisa nie auf die Idee gekommen, auf den Kasbek oder einen anderen Berg zu steigen. Bergsteigen ist an den Südhängen des Grossen Kaukasus längst nicht so verbreitet wie in den Alpen. Dabei hat der Grosse Kaukasus alles zu bieten, was sich Bergsteiger von einem Gebirge wünschen: einsame Täler, hohe Berge und neben gemütlichen Wanderungen auch Touren, die eine echte Herausforderung sind. Schon früh war die Region deshalb auch Ziel von Bergsteigern aus dem Alpenraum. Der deutsche Geograf, Alpinist und Forschungsreisende Gottfried Merzbacher reiste 1891 in den Kaukasus, bestieg den Elbrus und kam auch am Kasbek vorbei. 1903 fuhr eine österreichische Expedition nach Georgien. Die Tiroler bestiegen dort einen 3860 Meter hohen namenlosen Berg, der heute noch als «Tsentsi Tau» im Register des Alpine Club of London zu finden ist, benannt nach Cenzi von Ficker, einer Teilnehmerin der Expedition. Doch nicht nur das: Für ihren Mut bei einer schwierigen Rettung bekam die Innsbruckerin vom Fürsten von Swanetien die Uschba (4737 Meter), einen formschönen Berg mit Doppelgipfel, formell geschenkt.
Über den Status «Geheimtipp» scheint der Grosse Kaukasus aber in Europa in den vergangenen hundert Jahren nicht hinausgekommen zu sein. Als einer der Seven Summits dominiert der Elbrus (5642 Meter) das Bergsteigen in der Region. Die anderen Berge werden meist nur von Bergsteigern aus dem ehemaligen Ostblock in Angriff genommen. Auch hat das georgische Tourismusministerium erst im vergangenen Jahr begonnen, bewusst den naturorientierten Tourismus im Südkaukasus zu vermarkten. Die landschaftliche Vielfalt, das milde Klima und die unberührte Natur sollen Bergsteiger und Wandergruppen locken.
Wir sind mit Otari Jafaridze unterwegs. Mit dem Bergsteigen begonnen hat der Dreissigjährige während des Studiums. Der Kaukasus ist seine Spielwiese. Einmal ist er auch darüber hinausgekommen, bestieg den Khan Tengri (7010 Meter) im Tien Shan in Turkestan. Jetzt ist Otari aber überwiegend mit Trekkinggruppen unterwegs, oder er führt Bergsteiger auf den Kasbek.
Uns bringt Otari zuerst an den Fuss des Tschauchi-Massivs. Die Wolken hängen tief an diesem Augusttag, an dem Otari mit uns von Tbilissi aus auf der Georgischen Heerstrasse vorbei am Heliskiing-Resort Gudauri und über den Kreuzpass Richtung Norden fährt. Kurz vor Stepanzminda verlassen wir die Hauptroute nach Osten. Auf den ersten Kilometern ist die Strasse noch geteert. Zu verdanken ist das dem georgischen Patriarchen. Er kommt aus dem kleinen Ort Sno. Doch hinter Sno verstehen wir, weshalb Otari ein Geländefahrzeug hat. Durch Schlaglöcher, einen reissenden Gebirgsbach und eine holprige, vom Regen ausgewaschene Bergstrasse fahren wir hinauf nach Djuta.
Djuta ist ein kleines Bergdorf. Es soll das am zweithöchsten gelegene Dorf Europas sein, wenn man den Südkaukasus noch zu Europa zählt. Wie so viele abgelegene Dörfer ist auch Djuta vom Aussterben bedroht. Die Jungen gehen weg, weil sie in der Einöde keine Arbeit finden. In seiner bescheidenen Ärmlichkeit ist Djuta aber eine zauberhafte Idylle: vom Regen aufgeweichte Wege; eine alte Frau, die vor ihrem einstöckigen Häuschen in der Sonne sitzt; ein Kaukasischer Hirtenhund, der mit seiner Grösse und dem lauten Gebell fast so furchteinflössend ist wie der Bär, vor dem er seine Herde schützen soll.
Und doch gibt es auch für Djuta ein Fünkchen Hoffnung. Anano, eine junge Frau Ende zwanzig, hat in dieser Einöde, eine Viertelstunde Fussweg oberhalb des Dorfes, eine Hütte gebaut, um Touristen und Einheimischen in der Einsamkeit des Kaukasus Übernachtungsmöglichkeiten zu bieten. Otari hat uns dorthin gebracht, damit wir uns an die Höhe des Kasbek gewöhnen.
Mehr als nur ein Berg
Als wir am nächsten Tag zum Muchadze (3240 Meter) aufbrechen, regnet es in Strömen. Der Weg führt uns durch ein breites Tal am Basislager der Tschauchi-Kletterer vorbei. Doch an diesem frühen Morgen ist das Zeltlager wie ausgestorben. Die einen seien in der Wand, vom Regen überrascht, die anderen noch tief in ihren Schlafsäcken verkrochen, erzählen uns zwei junge Frauen. Das Tschauchi-Massiv ist das berühmteste Klettergebiet im Ostkaukasus, eine Mischung aus Drei Zinnen und Tofana di Rozes, auch deshalb kaukasische Dolomiten genannt. Von den mächtigen Wänden des Tschauchi, die uns am Vortag noch in Staunen versetzt hatten, sehen wir nichts. Sie verstecken sich hinter dichten Regenwolken.
Wir setzen unseren Weg dennoch fort, hinauf zum Gipfel des Muchadze. Die Rhododendren sind schon verblüht. Nur einzelne farbige Blätter lassen erahnen, welches Blütenmeer wir vor wenigen Wochen hier hätten antreffen können. Mit der Höhe mischen sich immer mehr Schneeflocken unter den Regen. Ein eisiger Wind pfeift über den Grat. Wir sind froh, als wir auf dem höchsten Punkt stehen. Dass wir bei diesem fürchterlichen Wetter hinaufgewandert sind, lässt sich einzig mit der Höhenanpassung begründen. Keine Chance auf Wetterbesserung und wieder keine Chance, den Kasbek zu sehen.
Erst am übernächsten Morgen, bei Luisa, geben die Wolken den Blick frei auf unser eigentliches Ziel. Luisa hat uns ein Zimmer gegeben, in dem wir schon vom Bett aus den Kasbek sehen können: die sonnenbeschienenen, strahlend weissen Flanken, die Grashänge weiter unten und auf einer Anhöhe oberhalb von Stepanzminda das Kloster Gergeti. Jetzt verstehen wir, dass der Kasbek nicht einfach nur ein Berg, sondern eine Art Nationalheiligtum ist. Er ist von Mythen umrankt, die bis zu den alten Griechen zurückreichen: Prometheus soll zur Strafe dafür, dass er gegen den Willen des Zeus den Menschen das Feuer gebracht hatte, an den Kasbek gebracht und dort angekettet worden sein. Jeden Tag kam ein Adler, um von seiner Leber zu fressen. Erst Herakles sollte Prometheus viele Jahrhunderte später erlösen, indem er den Adler tötete.
Göttliche Mächte haben Prometheus an den Kasbek gebracht. Wir fahren die ersten Höhenmeter mit Otaris Geländewagen zum Kloster Gergeti hinauf. Von dort führt unser Weg über Moränen und dann einen der Kasbek-Gletscher. Unser erstes Ziel: die Bethlemi-Hütte (3653 Meter), einstmals eine meteorologische Station, benannt nach einem Kloster in der Nähe. Das massige Bauwerk, etwa fünfzig Meter lang, ragt auf der Moräne wie ein mächtiger Dampfer in das Wolkenmeer. Doch die Bethlemi-Hütte ist keine Hütte mit Alpenstandard. Sie ist eine windgeschützte Unterkunft, nicht mehr und nicht weniger. Schmelzwasser tropft uns in der Eingangshalle, einem dunklen schwarzen Loch, auf den Kopf. In den wenigen notdürftig hergerichteten Zimmern gibt es Pritschen, zweistöckig, mit einem abwaschbaren braunen Bezug und etwas Schaumstoff darunter. Nicht einladend, aber praktisch.
Die Politik bleibt im Tal
Weil die Hütte nur begrenzt Schlafplätze hat, campieren die meisten Bergsteiger in Zelten. Schwer beladen schleppen sie ihre Ausrüstung den Berg hinauf. Bequemer ist der Weg, wenn man das Gepäck auf den Rücken von Pferden lädt, die man unten in Stepanzminda mieten kann. Nur runter muss man den schweren Rucksack dann selbst tragen.
Ein buntes Völkchen findet auf der Bethlemi-Hütte zusammen. Die Georgier kennen sich meist. Viele von ihnen gehören zu den Stammgästen. Von den wenigen Georgiern, die auf Berge steigen, kommen alle immer wieder an den Kasbek. Politische Reibereien werden im Tal gelassen. Die Russen, gegen die Georgien vor wenigen Jahren Krieg geführt hat, werden geduldet. Genauso wie die Bergsteiger aus den ehemaligen sowjetischen Bruderländern. Westeuropäer sind hier Exoten und werden vielleicht deshalb auch besonders freundlich empfangen.
Am nächsten Morgen stehen wir früh auf. Otari hat schon eine halbe Stunde vorher begonnen, Wasser zu kochen. Noch in der Dunkelheit marschieren wir los, an steilen Hängen vorbei, von denen immer wieder unberechenbar Steine gross wie Medizinbälle donnern. Erst kurz vor dem Hochlager, wo einige ihre Zelte aufgeschlagen haben, stossen wir auf den Gletscher, auf dem wir dann über einen steilen Aufschwung zum Gipfel hinaufsteigen. Elbrus (5642 Meter), Dychtau (5204 Meter), Koschtantau (5152 Meter) Uschba (4737 Meter), rattert Otari die Namen der Berge herunter, die wir von dort oben sehen können. Und er zählt Gipfel auf, von denen wir noch nie gehört haben. Im Kaukasus gibt es ganz offensichtlich noch viel zu entdecken.
Gut zu wissen
Anbieter: Der Anbieter Top Mountain Tours (www.top-mountain-tours.de) hat in diesem Sommer zwei zehntägige Reisen mit Ziel Kasbek im Angebot. Eine achttägige Kasbek-Besteigung kann bei Diamir (www.diamir.de) gebucht werden. Vor Ort unterstützt die deutschsprachige Agentur Georgia-Insight Reisende bei der Planung einer Kasbek-Besteigung (www.georgia-insight.eu)
Literatur: Marlies Kriegenherd: Georgien. Erschienen in der Reihe Reise-Know-how, 3., neu bearbeitete und komplett aktualisierte Auflage für 2013/2014, 29.90 Franken.
Friday, June 13, 2014
REISE UND ABENTEUER: Geheimtipp in Georgien - Der Berg des Prometheus. Von Stephanie Geiger (nzz.ch)
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