Friday, October 03, 2014
REZENSION: Nino Haratischwilis „Das achte Leben (Für Brilka)“ – Über die Unausweichlichkeit dieser beispielhaften Leben. Von Bernd Schneid (medienobservationen.lmu.de)
(medienobservationen.lmu.de) Diesen Herbst wird die deutsche Literaturlandschaft endlich um einen großen neuen Roman reicher. Reich nicht nur ob sein es Umfangs von fast 1300 Seiten, sondern reich auf Grund seiner 107 Jahre umfassenden erzählten Zeit, die einen anderen Blickwinkel auf da s vermeintlich bekannte 20. Jahrhundert liefert. Einen Blickwinkel auf das Jahrhundert der ehemaligen Sowjetunion und auf den Verfall der georgischen Familie Jaschi, auf ihre Schicksale, ihre Lieben, Geburten, Tode und ihre fluchbehafteten Schokoladengeheimnisse.
Ein achtes Leben? Keine einfache 8, auch nicht die 9 Leben einer Katze können diesen Roman zusammenfassen, sondern ∞ wie unendlich. So beginnt der Roman und so schließt sich auch der Kreis oder besser das Möbiusband, das diesen grandiosen Roman umfasst. Zentrum der Jahrhunderterzählung ist die georgische Familie Jaschi aus Tbilissi in der auch die Autorin Nino Haratischwili 1983 geboren wurde und die neben ihrer Arbeit als Theaterregisseurin und Dramatikerin bisher die beiden Romane "Juja" und "Mein sanfter Zwilling" veröffentlicht hat.
"Das achte Leben (Für Brilka)" ist zweifelsohne ein literarischer Durchbruch. Es sind die acht Leben der familiär sich forterzählenden ProtagonistInnen des Romans, die den Schrecklichkeiten des 20. Jahrhunderts im "sowjetischen" Umfeld zu trotzen versuchen: Stasia, Christine, Kostja, Kitty, Elene, Daria, Niza und zu guter Letzt Brilka (die auch eigentlich Anastasia heißt, den Bezug zur Urgroßmutter mit demselben Namen herstellt und so einen Bogen von 1900 bis über 2000 spannt).
Parallel wird von Niza (der Erzählerin, die Historikerin ist) dann auch noch die Geschichte des 20. Jahrhunderts sehr versiert zusammengefasst. Das ist sowohl die Geschichte der ehemaligen Sowjetunion, als auch letztlich die der europäischen und internationalen Geschichte, die unausweichlich miteinander verknüpft sind, mit ihren Weltkriegen, dem Kalten Krieg, über die Perestroika und so weiter.
Die komplex verwobenen Paargeschichten um Stasia und Simon, Christine und Rabas, Gula und Andro, Kostja und Kitty, Kitty und Fred, Kitty und Giorgi und all den folgenden sind beeindruckend angeordnet und spiegeln eine lange literarische Tradition. Nicht von ungefähr kann man ein paar bekannte Namen aus der Weltliteratur finden, wie die bereits erwähnte Anastasia oder Daria und Kitty, die man aus Tolstois "Anna Karenina" kennt oder in anderer Form und Tradition bei Flauberts Emma Bovary und Fontanes Effi Briest findet, deren ProtagonistInnen in „Das achte Leben (Für Brilka)“ mit einer aktualisierten Durchschlagkraft auferstehen.
Doch in Haratischwilis Romanepos geht es nicht allein um Gefühl und Verführung, um das Anna-Karenina-Prinzip der glücklichen oder unglücklichen Familien, das ja Nabokov in seinem Roman "Ada, oder Das Verlangen" schon kongenial anders interpretiert und übersetzt hat, um das Prinzip jener Familien, die sich gleichen oder unterscheiden; nein, es geht nicht nur um Ehen und Ehebrüche, um Züge, Kutschen und Duelle, Grafen und weite Felder, wie das in vielen Kolportagen serialisiert wurde. Im „achten Leben“ geht es um diese Metaphern und Motive als die existentiellen Themen eben dieser Weltliteratur, aktualisiert für das 20. Jahrhundert.
Es scheint fast so, als ob die Weltkriege nie geendet haben und sich stattdessen immer wieder fortpflanzten. All die in der Erzählung gewählten Orte wie Klassenzimmer oder Druckereien werden im Roman umfunktioniert zu schrecklichen Heterotopien mit Folter und Vergewaltigungen, einem totalitären Staat und nie zu tilgender Schuld. Die Orte verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung und werden zum Trauma der jeweiligen Verhältnisse. Edith Piafs "La Foule" liefert der Erzählerin Niza in einer ihrer schwersten Stunden einen besonders bitteren Soundtrack, der einem den Hals zuschnürt.
Doch eines zeigt Haratischwilis Romanepos neben all dem Grauen: dass die ProtagonistInnen immer Sinn und Hoffnung aufrechterhalten, auch wenn es manchmal kaum möglich ist, einen unbedingten Lebenswillen und eine Hingabe an das Leben. Das dicht konstruierte Handlungsgefüge verwendet hierfür ebenfalls eine aktualisierte Tradition des magischen Realismus, wie ihn z.B. schon Bulgakow in "Der Meister und Margarita" vertreten hat. Ob Schicksal, Faktum oder Magie, die individuell-kollektiven ProtagonistInnen sind in eine historische Differenz eingeschrieben, für die jegliche Deterritorialisierung unmöglich ist und für die es keine staatliche Sicherheit mehr geben kann.
„Das achte Leben (Für Brilka)“ verdient Raum, um all die Verwebungen zu analysieren, die Haratischwili herstellt. In Motiven und Symbolen wird die Geschichte der Sowjetunion, mit Georgien, Tbilissi und den Kleinen großen Männern oder Diktatoren, verknüpft. Das Rezept für eine besondere und „magische“ Schokolade stellt sich gegenüber die als Intertexte fungierenden Zitate von Anna Achmatowa bis David Bowie. Auch ein epischer Witz aus Dantes Inferno reflektiert mit dem Figurenpersonal aus all den Schwestern, Brüdern, Männern, Frauen, Kindern, Gespenstern und dem unendlichen Meer zwischen Himmel und Chaos, den ewigen Kreislauf zwischen Schöpfung und Zerstörung.
Wenn man also bemäkeln wollte, dass es unrealistisch sei, dass sich die Figuren immer wieder treffen, dass es artifiziell konstruiert erscheint, dass gerade die und der schließlich zueinander finden und der und die aneinander zerbrechen, ob hier, ob dort: es ist nicht zufällig. Nein, die spannende Struktur des Romans macht diesen familiären Stamm notwendig. Die Familie Jaschi ist das Gewebe dieses Teppichs. Ihre über fünf Generationen und acht Schicksale ausgebreitete Geschichte ist eben nicht wahllos, sondern ergibt am Ende eine spezielle und doch allgemeine Chronik des 20. Jahrhunderts. Ob in Tbilisi, Moskau, Berlin oder Paris, die Charaktere – allen voran die im Westen als Protests ängerin erfolgreiche Kitty – liefern einen individuell-kollektiven Spiegel der Geschichte.
In „Das achte Leben (Für Brilka)“ entfaltet sich kein purer sozialer Realismus, sondern eine magische Realismus-Möglichkeit, die unabdingbar mit der Erzählerin Niza verbunden ist, die bis hin zur Urgroßmutter Anastasia zurückblickt und die unbeugsame Realität der Zeit, der Gesellschaft und ihrer ProtagonistInn en zeigt. Das süße Zauberrezept des Schokoladenfabrikanten und Ururgroßvaters von Niza ist das magische Serum, das gar nicht anders kann, als ein letztes Geheimnis aufzubewahren. Was aber ist das Geheimnis dieses süßen Familienfluchs? Gibt es den überhaupt? Sollte er bewahrt werden? Darauf gibt die Erzählung letzten Endes die einzig mögliche Antwort. Denn Adressatin dieses Epos ist für Niza die 13-jährige Nichte Brilka, die als Endpunkt dieser besonderen und dennoch beispielhaften Figuren das gegenwärtigste Leben im Gefüge dieser fluchbeladenen Familie repräsentiert. Wenn Niza am Ende diesen roten Schokoladenfaden endlich kappt, schließt sich der Kreis erst wirklich.
Die Literatur steht hier am Umschlagpunkt zur Geschichte, die Literatur und der unendliche Wunsch zu erzählen, die Wahrhaftigkeit auszusprechen, das Schweigen zu durchbrechen und immer wieder die ursprüngliche Liebesbeziehung jede r Botschaft als transsubstantiellen Akt zu zeigen. Denn nicht immer – oder sogar nie – steckt tatsächlich ein Familienfluch hinter einer geheimen Schokoladenmischung, sondern es ist die Unausweichlichkeit von Hippolyte Taines Diktum temps, race, milieu, dem die ProtagonistInnen ausgesetzt sind. Dagegen hilft tat sächlich nur das unendliche Weitererzählen, ein bisschen Magie und die Sendung von Liebesbotschaften, die Kitty persönlich in ihren Liedern verpackt und um die ganze Welt schickt.
Die literarischste Metaphorik zeigt der Roman in diesem Sinne mit dem Teppich und seiner Herstellung. Man muss sich die ProtagonistInnen als Teppichwirkerinnen vorstellen, ständig am familiären Text webend, die das Geflecht, das diese beispielhaften Leben miteinander verknüpft, anordnen, in eine Ordnung bringen, die wahrhaftig ist, erotisch, grausam, rührselig, ohnmächtig, mächtig, aber auch komisch und zärtlich. Allezeit jedoch ist die Erzählung von einer tiefen Ehrlichkeit durchzogen, die gegen das Schweigen der Macht anschreibt und eine Notwendigkeit des immerwährenden Versuchs des Erzählens deutlich macht. Nicht allein für Niza wird das notwendig, die in ihrer Funktion als direkte Erzählerin des Romans fungiert, sondern auch im Hinblick auf die vielleicht zukünftige Erzählerin Brilka, für die Ni za die Familienchronik niederschreibt. Brilkas Roman jedoch bleibt ungeschrieben, muss noch geschrieben werden, wie de r Erzähler in Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasov" das schon mit Aljoscha angedeutet hat. Denn auch Niza kann die Unendlichkeit dieser Erzählungen nicht allein tragen. Aber sie kann Verantwortung übernehmen. Für ihre Nichte. Und das tut sie mit ihrer Erzählung. Sie durchbricht das Schweigen.
Leben ist im „achten Leben“ Erzählen, unendliches Erzählen, wie in Tausendundeiner Nacht, gegen den Tod, gegen die Gra uen des 20. Jahrhunderts, ob in der Gefangenschaft von Sultanen oder einem gewissen Generalissimus (wie Stalin hier nur genannt wird). Die Geschichten sind Teppiche und Schichten aus Geschichten, die Ebene um Ebene verwoben sind, Faden um Faden verknüpfen, abschneiden und wieder neu aufnehmen. Haratischwilis Romanepos zeigt die Unausweichlichkeit dieser beispielhaften Leben. Es liegt nicht alles in der Hand der Figuren. Schreckliche Dinge passieren.Die Zukunft bleibt in einem gewissen Nebel. Es kann jedenfalls kein einfaches Happy End geben. Das Erzählen muss weitergehen.
Kurzum, Nino Haratischwili hat mit „Das achte Leben (FürBrilka)“ einen existentiellen und historisch bedeutsamen Gesellschafts- und Familienroman der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben, der noch lange nachhallen wird. Die deutsche Literatur wird mit diesem Roman durch eine unerwartete deutsch-georgische Verbindung und Freundschaft bereichert. Und letzten Endes geht es in diesem Gefüge um nichts anderes als um eine Leerstelle, das titelgebende ac hte Buch als achtes Leben von Brilka, das noch nicht geschrieben ist. Es bleibt der Wunsch nach einem Zustand der Geschichte im Werden.
Und letzten Endes geht es in diesem Gefüge um nichts anderes als um den Wunsch nach dem, was Don DeLillo ans Ende seines großen Romanepos Unterwelt als letztes Wort stellt: ...
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Blog von Bernd Schneid: ecrinautik.blog.de
phil. Bernd Schneid, born in 1978. 1995 Education as an machining mechanic. 2004 Study in German Literature, Theatre Studies and American Literature in Munich. 2009 completion as Master of Arts. Then doctorate to spring 2012 in Literature and Media Studies. Since 2013 Assistant to the Board for an Association for Psychotherapists and freelance Author.
Focus: phenomenology, psychoanalysis, poststrukturalism, deconstruction, media theories, theatre, film, television and epicity.
Books about Shakespeare and the return of the epic in Quality-TV exemplified on The Sopranos and Lost.
PDF: medienobservationen.lmu.de/pdf
twitter: twitter.com/Ecrinautik
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