Berittenes Bergvolk. Über die Geschichte der Tscherkessen ist mangels Literatur wenig bekannt. Der Schlachtenmaler Franz Roubaud hat immerhin visuelle Eindrücke auf seinen Gemälden... |
Krasnaja Poljana braucht Vergleiche mit Kitzbühel oder Courchevel in den französischen Alpen, wo russische Oligarchen gern Koma-Saufen mit Champagner veranstalten, nicht zu scheuen. Harmonisch fügen sich Nobelherbergen in die grandiose Berglandschaft des Nordwestkaukasus, der Anblick der Pisten und Loipen verzückt sogar ehemalige Skiweltmeister. „Magnifique“, sagte im September bei der Abnahme Jean-Claude Killy: Der Franzose sackte in den Siebzigern im Fließbandtakt olympisches Gold ein und koordiniert jetzt im Auftrag des Internationalen Olympischen Komitees IOC die Vorbereitungen für die Spiele in Sotschi.
„Magnifique“ – wundervoll –, sagt auch Fatimat Schemuchowa. Sie haucht das Wort nicht in den Hörer, sie brüllt es. Und das liegt nicht nur daran, dass die Telefonverbindung von Moskau in die Olympiastadt noch immer lausig ist. Schemuchowa, 23, gehört zu den Aktivisten von „No Sotchi“, einer Organisation, die den Widerstand gegen die Spiele organisiert. Weil sie auf den Leichen eines ganzen Volks ausgetragen werden. Im Wortsinn. Dort, wo im Februar die Wettkämpfe in den alpinen Disziplinen stattfinden, watete vor genau 150 Jahren die Zarenarmee im Blut von Fatimats Volk: den Tscherkessen. Damit und nicht mit der Vorliebe kommunistischer Machthaber für die Farbe Rot erklärt sie auch den Ortsnamen. Krasnaja Poljana bedeutet: Rote Lichtung.
Zur Tragödie der Tscherkessen, sagt Fatimat, habe die Ski-Legende Killy keine Silbe verloren. Verhindern, glaubt sie, könnten die Spiele nicht einmal die Boykottaufrufe von Schwulen und Lesben, die international besser vernetzt sind als die Tscherkessen und eine bessere Lobbyarbeit betreiben. Aber wenigsten aufklären wollen Fatimat und ihre Mitstreiter die Welt. Über Völkermord, Landraub und Diskriminierung der Tscherkessen, die in Russland bis heute andauert.
Die Tscherkessen sind die Ureinwohner des nordwestlichen Kaukasus und der kaukasischen Schwarzmeerküste. Sie selbst nennen sich Adyg, was Krieger bedeutet. Vom benachbarten Georgien im frühen Mittelalter zum Christentum bekehrt, riefen sie im 16. Jahrhundert die Glaubensbrüder in Russland als Schutzmacht gegen das Osmanische Reich, das den Kaukasus damals kontrollierte.
Es hätte eine Sicherheitspartnerschaft werden können, die das Großfürstentum Moskau an seiner damals weitgehend ungeschützten Südflanke entlastet hätte. Zar Iwan der Schreckliche war daher bereit, sie als Ebenbürtige anzuerkennen und ehelichte, um die Allianz zu besiegeln, sogar eine Tscherkessenprinzessin. Doch seine Nachfolger versuchten, den Bündnispartner zum Vasallen zu degradieren. Die Tscherkessen traten daraufhin zum Islam über und verbündeten sich mit dem einstigen Gegner: dem Osmanischen Reich, Moskaus Erzrivalen beim Kampf um Kontrolle von Kaukasus und Schwarzem Meer. Über hundert Jahre, von 1763 bis 1864, brauchte Russland, um den Aufruhr niederzuschlagen.
Die Führer der zwölf Tscherkessenstämme erklärten sich 1861 zwar bereit, die Oberhoheit des Zaren anzuerkennen. Gegen eine Umsiedlung aus den Bergen in die sumpfige, von Malariamücken verseuchte Küstenebene wehrten sie sich jedoch. Doch die war beschlossene Sache. In der Ebene – so das Kalkül der Generäle des Zaren – könne man neuen Aufruhr leichter niederschlagen. Ab Frühjahr 1862 setzte die russische Armee die Vertreibung daher mit Gewalt durch, brannte die Dörfer der Tscherkessen nieder und die Ernte auf dem Halm. Zehntausende starben dabei. Wer überlebte, wurde an die Schwarzmeerküste gebracht. Dort warteten schon Boote für die kollektive Deportation in die Türkei. Um ihr zu entgehen, stürzten sich bei Krasnaja Poljana hunderte Tscherkessen in die Schlucht. Darunter Frauen mit Babys im Arm.
„Sie waren gleich tot und haben daher weniger gelitten“, glaubt Fatimat von „No Sotchi“. Viele der Vertriebenen ertranken schon während der Überfahrt, als die hoffnungslos überfüllten Boote kenterten. Andere starben nach der Ankunft durch Hunger und Seuchen.
Die Masse der Überlebenden siedelte der Sultan an den Grenzen seines bröckelnden Reiches als Wehrbauern an. Vor allem im Nahen Osten. Allein in Syrien leben noch heute über 100 000 Tscherkessen. Mehrere Tausend verschlug es bis ins Kosovo. Während des Krieges 1999 flog Russland sie kollektiv in die historische Heimat zurück. In ein fremdes Land. Händeringend suchte man in Maikop, der Hauptstadt der nordkaukasischen Teilrepublik Adygeja, wo die Flüchtlinge vorübergehend in einem Ferienlager untergebracht waren, nach jemandem, der die Begrüßungsansprache vom Russischen ins Tscherkessische dolmetscht. Die Frau, die sich schließlich dazu überreden ließ, war 87 Jahre alt.
Denn die rund 700 000 Tscherkessen, die heute noch in Russland leben, sprechen im Alltag längst die Sprache der Eroberer. Ihre eigene gilt nach Erkenntnissen der Unesco als akut bedroht. Aus Furcht vor neuen Aufständen sperrte Stalin die Tscherkessen in den Zwanzigerjahren mit Turkvölkern und Russen in drei Teilrepubliken so zusammen, dass sie in keiner über die Bevölkerungsmehrheit verfügten. Um den letzten Widerstand der Kaukasusvölker zu brechen, setzte KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew ab 1970 auf eine aggressive Russifizierung aller ethnischen Minderheiten. Und selbst Michail Gorbatschow verhinderte noch 1989 – auf dem Höhepunkt der Perestroika – das Anbringen einer Gedenktafel zum 125. Jahrestag der Deportation. Obwohl Vertreter der Tscherkessen die Aktion mit der Administration der Stadt Sotschi abgestimmt hatten.
Zwar verabschiedete das postkommunistische Russland schon 1992 ein Gesetz zur Rehabilitierung verfolgter Völker. Auf eine offizielle Entschuldigung oder gar Entschädigungen warten die Tscherkessen bis heute vergeblich. Ebenso auf die Rücknahme der stalinschen Verwaltungsreform, die den Weg zu einer tscherkessischen Teilrepublik freimachen würde.
Die Kultur der Tscherkessen friste nach wie vor ein Schattendasein, es mangele sogar an Büchern, klagt Fatimat Schemuchowa, die selbst in Russisch schreibt und eigentlich anders heißt. Doch für kritische Journalisten ist der russische Nordkaukasus ein heißes Pflaster. Vor allem dann, wenn sie sich an staatstragenden Ideen wie den Spielen in Sotschi vergreifen. „Kräfte, die vorhaben, sich der Durchführung von Olympia 2014 entgegenzustellen, müssen von uns identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden, wenn es sich um Bürger unseres Landes handelt“, drohte ausgerechnet der als liberal geltende ehemalige Präsident und heutige Regierungschef Dmitri Medwedew.
Worten folgten bereits Taten: Mitte Dezember fanden Razzien bei „No Sotchi“ und anderen regimekritischen Tscherkessenorganisationen statt. Fahnder der Untersuchungsbehörde bei der Staatsanwaltschaft in Krasnodar, der Hauptstadt der Region, zu der Sotschi gehört, beschlagnahmten Dokumente, CDs, Notebooks und Smartphones, die den Besitzern bis heute nicht zurückgegeben wurden. Sie nahmen ein Dutzend Mitarbeiter vorübergehend fest und vernahmen sie mehrere Stunden lang. Offiziell ging es um die Aufklärung von Verbrechen mit terroristischem Hintergrund. Doch die Fahnder interessierten sich auch für die Einstellung der Aktivisten zu den Spielen in Sotschi und für deren Kontakte zu Tscherkessenorganisationen in Georgien. Zwar wurden sie bislang nur als Zeugen gehört. Doch aus Zeugen wurden in Russland bei politisch aufgeladenen Prozessen schon des Öfteren Angeklagte.
Eigentlicher Adressat von Medwedews Drohung waren indes nicht Regimekritiker wie „No Sotchi“, sondern die Verwaltungschefs der nordkaukasischen Teilrepubliken, wo die Tscherkessen kompakt siedeln. Bisher weitgehend loyal, haben sie Moskau nicht verziehen, dass sie bei den Winterspielen nicht mit der Symbolik der tscherkessischen Urbevölkerung werben dürfen.
Zurückgepfiffen wurde auch die Ethnologin Naima Nefljaschewa, eine Forscherin mit tscherkessischen Wurzeln an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Sie hatte auf die Eröffnungsfeier bei den Winterspielen 2010 in Vancouver verwiesen, wo vier indianische Stämme als „Gastgebernationen“ eine zentrale Rolle spielten. Damit nicht genug: Sportfunktionäre wie Vertreter von Tscherkessenorganisationen wurden Medien gegenüber zum Schweigen über den Streit verdonnert.
Doch nicht alle lassen sich den Mund verbieten. „Das Land, in dem die Olympischen Spiele 2014 stattfinden sollen, gehörte seit alters her den Tscherkessen. Wir möchten, dass diese Tatsache im Eröffnungsprogramm der Spiele nicht ausgelassen wird“, fordert Tschatib Chunagow – Mitglied des Vorstands der Organisation „Adyge Chasse“ in der Teilrepublik Adygeja. „Wir wollen“, so auch der Vizepräsident der Internationalen Assoziation der Tscherkessen, Muhammed Hafiz, „dass an allen Veranstaltungen mit Bezug zu Olympia 2014 die Vertreter aus tscherkessischen Republiken zusammen mit den tapferen Kosaken teilnehmen.“
Kosaken, das ist belegt, haben im Großen Kaukasuskrieg noch mehr geplündert und gemordet als die regulären Truppen. Dennoch weht ihr Banner heute auf dem Gebäude von Sotschis Stadtverwaltung. Es steht auf den Trümmern des Parlaments, wo Mitte des vorvorigen Jahrhunderts die tscherkessische Nationalversammlung tagte. Zar Alexander II, so heißt es, habe mit den Tscherkessenfürsten Frieden machen wollen, dann aber vor seinen kriegslüsternen Generälen und den Kosaken kapituliert.
Waren Wladimir Putin und Medwedew womöglich ähnlichen Zwängen ausgesetzt? Die Vermutung liegt nahe. Während der Spiele in Sotschi ist in Krasnaja Poljana eine Wiederholung der Siegesparade von 1864 geplant. Den Part der Guten sollen dabei russische Soldaten und die „tapferen Kosaken“ in historischen Uniformen und mit den Waffen der damaligen Zeit übernehmen.
Auch deshalb rief Georgien 2010 zum Boykott der Spiele auf und erkannte die Tragödie der Tscherkessen offiziell als Völkermord an. Als erster und bisher einziger Staat weltweit. Eine diesbezügliche Petition von Tscherkessenorganisationen liegt auch im Europaparlament. Unbeantwortet.
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