Saturday, January 08, 2011

ARTIKEL: Raues Leben in Georgiens Bergen. Von Silvia Stöber (nzz.ch)


Ein georgisches Dorf vor den Gipfeln des Kaukasus. (Bild: Imago)

Quelle: 8. Januar 2011, Neue Zürcher Zeitung

An der Heerstrasse hofft man auf die Segnungen des Tourismus und leidet unter den Nachwehen des Krieges mit Russland

Obwohl in Georgien erheblich in die Infrastruktur investiert worden ist, leben viele Bergbewohner im Hohen Kaukasus unter einfachsten Bedingungen. Dies liegt auch an traditionellen Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung.
Silvia Stöber

An Regentagen sind alle Touristenorte trist. Wenn in Kasbegi Nebelschwaden die Hochgebirgs-Kulisse des Kaukasus bedecken, die Besucher in ihren farbenfrohen Jacken ausbleiben und in den Holzbuden am zentralen Platz keine Zigaretten, Rauchwürste und Kekse feilgeboten werden, dann erhält man einen Eindruck vom rauen Alltag in dem 1800 Meter hoch gelegenen Ort. Eigentlich heisst er Stepantsminda. Er ist aber besser bekannt unter dem Namen des Schriftstellers aus dem 19. Jahrhundert, Alexander Kasbegi, der sich als Schäfer in seine Heimat zurückzog und gelegentlich westeuropäische Wanderer mit seinen Fremdsprachenkenntnissen überraschte.

Trutzige Wehrtürme
Begibt man sich in die Gassen hinter dem herrschaftlichen Museumsgebäude, das Kasbegi gewidmet ist, fällt der Blick auf schlichte, meist eingeschossige Wohnhäuser, viele sind verlassen und marode. Dazwischen stehen ein, zwei traditionelle Wohntürme, aus runden Feldsteinen aufgeschichtet, schmal, düster und wehrhaft. Ein Stück weiter ragt ein schmutzig graues Betonungetüm wie ein Sprungturm ohne Schwimmbecken auf, dessen einstige Funktion sich dem Betrachter nicht erschliesst.

Ein Mädchen in roter Jacke treibt drei braun-schwarz gefleckte Schweine durch die mit Pfützen übersäten Gassen, während es in sein Handy spricht. In einer windgeschützten Ecke lassen drei Männer eine Flasche mit Hochprozentigem kreisen. Schliesslich findet sich das mattrosa gestrichene Haus der Familie Kasalikaschwili. Die dunkelbraunen Fensterläden sind geschlossen. Das Ehepaar Jago und Chatuna, Ende 30, sowie Grossmutter Xenia sitzen im Untergeschoss beim Kaffee. In dem kleinen Raum ist es still und düster.

Die Kasalikaschwilis sind eine Bergsteiger-Familie. Sogar Grossmutter Xenia war auf dem 5033 Meter hohen Kasbeg, dem mit einer runden Schneekuppe gekrönten Hausberg, dessen Silhouette hinter den Nebelwolken nur zu erahnen ist. Blass, aber deutlicher zeichnet sich der Umriss der Zminda-Sameba-Kirche und des daneben stehenden Glockenturms auf fast 2200 Meter Höhe ab. Eine Foto der Dreifaltigkeitskirche ziert zahlreiche Reiseführer. Sie ist zum Sinnbild Georgiens geworden, so wie zu jeder klassischen Reise durch Georgien eine Fahrt auf der georgischen Heerstrasse hinauf nach Kasbegi gehört.

Der Weg über den 2370 Meter hohen Kreuz-Pass durch die Darial-Schlucht bis nach Wladikawkas auf der Nordseite des Kaukasus ist als beschwerliche Reiseroute zwischen dem Orient und dem Norden seit dem ersten Jahrhundert vor Christus bekannt. 1783 bauten russische Soldaten den Weg zu einer befahrbaren Strasse aus, und Schriftsteller wie Puschkin, Lermontow und Tolstoi bereisten sie. Alexandre Dumas scheiterte auf halber Strecke mit seinem halsbrecherischen Plan, im Dezember von Tbilissi nach Wladikawkas zu fahren, beschrieb Wetter und Landschaft dafür aber umso plastischer.

Abwanderung nach Tbilissi
Auch die Kasalikaschwilis schwärmen von den Tälern und den Wasserfällen, von seltenen Vogelarten und Schmetterlingen. Über ihren Alltag sprechen sie weit weniger enthusiastisch. Chatuna ist Ärztin und bringt mit ihrem Einkommen die Familie durch. Jago verdingt sich als Herbergsvater und Bergführer. Kasbegi profitiert wenig vom Tourismus. Es gibt ein Hotel mit komfortablen Zimmern und noch schmackhafter Küche. Einige Bewohner vermieten Zimmer an Bergsteiger, die mit wenig Komfort zufrieden sind. Das Gros der Besucher übernachtet jedoch im Skiort Gudauri auf der anderen Seite des Passes in Richtung Tbilissi, wo es dank österreichischen Investoren moderne Hotels und Skianlagen gibt.

Dabei fehlt es nicht an Versuchen, den Menschen in den Bergen um Kasbegi zu helfen. Die orthodoxe Kirche gibt Unterricht, um jene zu unterstützen, die mit traditionellem Handwerk Geld verdienen wollen. Die tschechische Organisation «People in Need» initiierte 2008 Sprach- und Computerkurse in Kasbegi, markierte mit den Einwohnern Wanderwege neu und richtete mit den Kasalikaschwilis das Alpin-Museum neu ein. Es füllt die Räume im Haus gegenüber, aus denen Jagos Geschwister ausgezogen sind, um wie viele junge Leute in der Hauptstadt Tbilissi ein Auskommen zu suchen. Selbst zu Sowjetzeiten gab es kaum Industrie in den Bergen. Zwischen den steilen Hängen eignen sich auch nur wenige Flächen für Ackerbau und Viehzucht. Es sei zu wenig, als dass viele Familien davon leben könnten, sagt Jago.

Traditionelle Justiz
Jago sieht eine Zukunft für Kasbegi im Ausbau des Tourismus. Auch eine Studie, die von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) finanziert wurde, hält dies für eine Chance der Bergregion. Die KfW ist bereit, Georgien vier Millionen Euro für den Aufbau und die Modernisierung von Naturschutzpärken zu geben. Auch das 1975 als Reservat deklarierte Gebiet um Kasbegi wurde hierfür auserkoren. Das Umweltministerium in Tbilissi ist verantwortlich für die Umsetzung. Doch zeigten sich die Einwohner von Kasbegi sehr reserviert gegenüber den Ministeriumsmitarbeitern. Gross war die Befürchtung, dass ihnen die Regierung in Tbilissi in ihr Leben hineinreden will und sie nicht selbst über ihr Land bestimmen können.

Je abgelegener die Bergregionen, desto grösser ist der Stolz ihrer Bewohner auf die über Jahrhunderte ertrotzte Freiheit und den Besitz oder zumindest die Verfügung über Land. Das gilt besonders für Swanetien, ein westlich von der Heerstrasse gelegenes Gebiet ebenfalls an der Grenze zu Russland. Seine Bewohner konnten sich sogar weitgehend der Sowjetmacht entziehen und Zwangsumsiedlungen entgehen. Streit um Land sei früher zumeist Ausgangspunkt für Blutfehden zwischen Familien gewesen, erzählt der Journalist Temo Bardsimaschwili. Geregelt worden seien diese Fälle von Familienältesten, die in einem Rat möglichst alle Zeugen anhörten, nach einem Ausgleich zwischen den Kontrahenten suchten und der Blutrache zwischen Familien spätestens nach drei Morden auf jeder Seite Einhalt geboten.

Dieses traditionelle System der Streitschlichtung verlor an Bedeutung, als sich die Bergbewohner an den Regeln der «Diebe im Gesetz» zu orientieren begannen. Diese Kriminellen genossen Achtung und wurden nicht selten als «edle Banditen» verklärt, weil sie ihre Regeln in den sowjetischen Straflagern entwickelt hatten und ausserhalb der staatlichen Ordnung agierten.

Doch Dorfälteste genössen heute noch Respekt, sagt Bardsimaschwili. Sie wüssten genau, welches Land welchen Familien in den vergangenen Jahrhunderten gehört habe. Viele Bergbewohner haben es bisher versäumt, das Land ihrer Familien offiziell zu deklarieren, weil sie nicht mit den gesetzlichen Regeln vertraut sind. Und die Dorfältesten würden weiterhin bei Streit zu Rate gezogen. Blutfehden gebe es fast nicht mehr, da die Truppen des Innenministers das ganze Land kontrollierten. Dies gelte besonders für Swanetien, das Präsident Michail Saakaschwili zusammen mit der Schwarzmeerküste zur besonderen Touristenattraktion erklärt hat: erst an subtropischen Stränden baden und zwei Stunden später im Hochgebirge Ski fahren. Dies könne in Europa nur Georgien bieten, erklärte Saakaschwili in gewohnter Übertreibung.

Verbindung nach Russland
In die einst schwer zugängliche swanetische Gebietshauptstadt Mestia wurde inzwischen eine Asphaltstrasse gebaut, wie überhaupt in den vergangenen beiden Jahren mit Hilfe internationaler Gelder wichtige Ost-West- und Nord-Süd-Verbindungen ausgebessert oder erst befahrbar gemacht wurden. Kasbegi hingegen profitiert noch nicht von einem besonderen Tourismus-Plan. Erst langsam macht sich bemerkbar, dass der einzige direkte Grenzübergang zwischen Russland und Georgien im März nach vier Jahren wieder geöffnet wurde und damit die georgische Heerstrasse von Tbilissi bis Wladikawkas zumindest befahrbar ist für jene, die sich vorher ein Visum besorgt haben oder wie die Armenier durch beide Länder visumsfrei reisen dürfen.

Die Strassenbedingungen in der Darial-Schlucht sind schwierig, die Tunnel eng, und vor allem während der Wintermonate drohen Lawinen. Doch über den Sommer nahm die Zahl der Grenzgänger beständig zu. Im Oktober waren es fast 15 000 Personen und mehr als 3000 Fahrzeuge, darunter viele Lastwagen mit Transporten in das weitgehend isolierte Armenien, auf dessen Betreiben die Grenze letztlich geöffnet worden war. Nach und nach öffneten denn auch den Sommer über kleine Hotels, Imbissstuben und Kioske für die Durchreisenden an der Heerstrasse, die nach 2006 wegen mangelnder Kundschaft geschlossen gewesen waren.

Gegenseitige Beschuldigungen
Im Oktober ging die georgische Regierung einen Schritt weiter und erlaubte den Bewohnern der russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus für 90 Tage die visumsfreie Einreise. Da die russische Regierung vorher nicht informiert worden war, fasste sie dies als Provokation auf. Zehn Jahre zuvor hatte Russland jedoch selbst einseitig die Visumspflicht für Georgier eingeführt und dabei unter Kritik nicht nur der Regierung in Tbilissi die Bewohner der beiden abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien ausgenommen.

Zu den Vorwürfen Russlands sagte der georgische Vizeaussenminister Giga Bokeria, da beide Länder keine diplomatischen Beziehungen unterhielten, gebe es keinen Partner, um über solche Themen zu diskutieren. Auf der anderen Seite habe Moskau die Lage im Nordkaukasus genutzt, um die Stimmung gegen Georgien anzuheizen. «Doch die Menschen im Nordkaukasus haben tiefe historische und kulturelle Verbindungen zu Georgien. Es ist in unserem Interesse, so offen wie möglich zu sein und zu zeigen, dass Georgien kein feindliches Land ist.» Auch sei es gut, wenn diese Menschen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung bekämen und über den Flughafen Tbilissi reisen könnten. Wie positiv dies von den Bewohnern im Nordkaukasus aufgenommen werde, sei am Grenzübergang zu beobachten. Tatsächlich waren im Oktober mehr als 2300 der Grenzgänger Personen aus den sieben russischen Kaukasusrepubliken.

Doch ist das Verhältnis der Menschen im Nordkaukasus zu Georgien nicht ungetrübt – auch abgesehen von russischer Propaganda. Begegnungen waren in den vergangenen Jahren nur über lange Umwege möglich. Zwar nahm Georgien während der Tschetschenienkriege grosszügig Flüchtlinge auf. Während der Kriege gegen die von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien aber eilten viele nordkaukasische Kämpfer den Abchasen und Südosseten zu Hilfe.

Hoffen auf Investoren
Irakli Alasania, der Ende 2008 von der georgischen Regierungsseite in die Opposition wechselte, glaubt denn auch nicht, dass die von Präsident Saakaschwili vorgeschlagene Annäherung zwischen Georgien und dem Nordkaukasus erfolgreich sein wird. «Der Präsident schürte durch seine verfehlte Politik gegenüber den Abchasen, den Südosseten und dem Nordkaukasus das Misstrauen gegenüber seiner Person.» Georgien brauche einen stabilen Nordkaukasus. Wann immer es dort Probleme gebe, sei in Georgien ein Nachhall zu spüren, und umgekehrt.

So behaupteten russische Regierungsvertreter und der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow wiederholt, Georgien unterstütze Extremisten aus dem Nordkaukasus. Solange die russische Seite aber keine Beweise für ihre Behauptungen vorlegt, sehen internationale Beobachter darin vor allem ein Ablenkungsmanöver, um von innerrussischen Problemen abzulenken. Doch viele Georgier hören die provokativen russischen Aussagen mit Sorge. Zu nah ist noch die Erinnerung an den russisch-georgischen Krieg um Südossetien im Jahr 2008. Über Kasbegi flogen damals russische Kampfflugzeuge hinweg. So ist die Furcht vor neuen Konflikten nicht gebannt. Der südossetische Führer Eduard Kokoiti erhob 2009 Ansprüche auf das zwischen Südossetien und der Kasbegi-Region liegende Truso-Tal. Dessen oberer Teil war früher von Osseten bewohnt.

Nach der Grenzöffnung gab es Befürchtungen, es könnten Osseten aus Russland einreisen und Anspruch auf Land erheben. Doch zumindest in diesem Sommer war davon nichts zu hören. An den Grenzlinien zu den beiden Konfliktgebieten Südossetien und Abchasien blieb es so ruhig wie seit langem nicht mehr. So könnten auch Investoren wieder Vertrauen in das Land gewinnen, nachdem 2010 bereits wieder fast so viele Touristen nach Georgien gekommen sind wie vor 2008. Womöglich findet sich auch ein Investor, der in Kasbegi ein Hotel errichtet, wie Jago Kasalikaschwili es sich erhofft.

Silvia Stöber ist freie Journalistin aus Hamburg. Sie ist spezialisiert auf Osteuropa und den Südkaukasus, den sie häufig bereist.

1 comment:

Anonymous said...

Liebe Frau Stöber, Sie sollten sich vor einer Georgienreise auch über die Geschichte und Geographie des Landes belesen.
Die Provinz heißt nicht Kasbeki sondern Chewi.
Der Berg heißt nicht Kasbek sondern Mqinwarzweri
( Eisgipfel ) !!