Lokalkolorit aus dem nördlichen Kaukasus, den die US-Botschaft in Moskau im August 2006 nach Washington berichtete
Von Rainer Sommer
Die US-Diplomaten waren zur Hochzeit des Sohnes von Gadzhi Makhachev geladen, einem Mitglied der Moskauer Duma und Chef der Ölgesellschaft von Dagestan. Die dreitägige Hochzeit in Machatschkala sei "ein Mikrokosmos der sozialen und politischen Beziehungen" im nördlichen Kaukasus. Makhachev hatte seine Karriere als Chef eines Awaren-Clans begonnen, nachdem die Dagestanische Gesellschaft Ende der 1980er Jahre zu den Strukturen zurückgekehrt war, die vor der Besetzung durch die Sowjetunion geherrscht hatten.
Die grundlegende strukturelle Einheit besteht nach den Erkenntnissen der US-Diplomaten seither aus hunderten monoethnischen "Jamaat", was als Kanton oder Kommune übersetzt werden könne. Nach ihrem Einmarsch im 19. Jahrhundert hatte die Russen diese nach der Ähnlichkeit ihrer Dialekte zu größeren Einheiten zusammengefasst, um die Zahl der Nationalitäten auf 38 zu reduzieren und nannte sie "Awar", "Dargin" usw.
Gadzhi Makhachev - pan-awarische Ambitionen und Rolls Royce Silver Phantom
Seither liegen die einzelnen Jamaat innerhalb ihrer ethnischen Gruppe im Wettstreit um die Vorherrschaft. Besonders ausgeprägt ist das bei den Awaren, der größten ethnischen Gruppe in Dagestan. Als die Sowjets abgezogen waren, bildete jeder Jamaat zudem eine Miliz, um ihre Leute sowohl in den Bergen als auch in der Hauptstadt Machatschkala zu verteidigen. Damals führte Gadzhi seine Heimatgemeinde Burtunay in der Region Kazbek, zeigte aber bald pan-awarische Ambitionen. Er spielte 1999 eine tragende Rolle bei der Verteidigung Dagestans gegen die Invasion aus Tschetschenien von Schamil Bassajew und verteidigte awarische Dörfer später "politisch", die in Tschetschenien, Georgien und Aserbaidschan unter Druck gekommen waren.
Seither habe Gadzhi dieses "Sozialkapital, das er durch Nationalismus angehäuft hatte, in finanzielles und politisches Kapital verwandelt" und ist heute Chef der staatlichen Ölfirma und Dagestans Repräsentant in der russischen Staatsduma. Seine Ölgeschäfte, bei denen er eng mit US-Unternehmen zusammenarbeitet, haben ihm unter anderem Luxusvillen in Machatschkala, Kaspiysk, Moskau, Paris und San Diego eingebracht, zudem auch einen Rolls Royce Silver Phantom, mit dem Sohn Dalgat nun seine Braut Aida abholte. Auch die US-Diplomaten hatten in Moskau schon einmal im Rolls mitfahren dürfen, die Fahrt verlief aber etwas weniger komfortabel als erwartet, da ihre Beinfreiheit durch die mitgeführten Kalaschnikows doch etwas eingeschränkt war.
Inter-ethnische Business Clans
So wie die meisten noch lebenden Dagestanischen Führer hat Gadzhi mehrere Attentatsversuche überlebt, fährt in Dagestan nur im gepanzerten BMW und ist stets von wenigstens einem Wagen voll mit uniformierten Wächtern begleitet. Er hat zudem ein über seine ethnische Gruppe hinausgehendes Netzwerk aufgebaut und etliche Dagestani samt seinem Sohn in ein Militär-College in San Diego geschickt. Wie die Diplomaten feststellen, wären in den letzten Jahren durch solche inter-ethnische Business Clans die traditionellen Jamaat-Loyalitäten generell erodiert - und dementsprechend bestand die fröhliche Hochzeitsgesellschaft nun praktisch aus fast der gesamten "Elite" des Kaukasus.
Gewaltiger Alkoholkonsum "vor, während und nach der islamische Hochzeit"
Gadzhis riesiges Sommerhaus am Kaspischen Meer, das einen 40 Meter hohen Airport-Tower sowie eine "Höhle" umfasst, deren Boden von einem gigantischen Aquarium gebildet wird und selbstverständlich schwer bewacht wird, füllte sich also mit illustren Gästen: Der Vorsitzende des Inguschetischen Parlaments war ebenso gekommen wie die Duma-Repräsentanten Tschetscheniens, die wichtigsten Geschäftsleute, Künstler, Sportler und ein Olympia-Ringer, der laut US-Diplomatie dadurch auffiel, dass er durchgehend betrunken war. Dazu kamen religiöse und politische Führer der Region, aber auch viele, die mit Gadzhi aufgewachsen waren.
Von Dagestans Präsidenten Mukhu Aliyev ging allerdings nur ein Gratulationsanruf ein, womit Gadzhis alleiniger Konkurrent um die Führung der Awaren als einziger Vertreter der politischen Elite der Hochzeit fernblieb.
Bei der mehrtägigen Festivität, die neben der Vermählungsfeier wechselseitige Empfänge der beiden Familien umfasste, wurden die Gäste permanent mit lokalen und exotischen Speisen sowie mit Alkohol versorgt, wobei die Diplomaten feststellten, dass der Alkoholkonsum "vor, während und nach der islamische Hochzeit" schlichtweg "gewaltig" war.
Ebenfalls rund um die Uhr hatte der Gastgeber für Entertainment gesorgt, wobei die großen Namen sowohl beim Empfang als auch bei der Hochzeit selbst auftraten. Allerdings konnte der angekündigte Top-Act, der syrische Sänger Avraam Russo, nicht erscheinen, da er wenige Tage zuvor erschossen worden war. Und so kamen eine Zigeuner-Band aus St.Petersburg, Benya der Akkordeon-König mit seiner Sängerfamilie, jede Menge an Azeri-Popstars sowie eine Reihe regionaler Gruppen, deren Darbietungen ununterbrochen stattfanden und sich laut US-Diplomaten allesamt durch extreme Lautstärke auszeichneten.
Dramatisch fette Tänzer und martialische Waffenträger
Die Hauptaktivität bestand aus ungezügeltem Essen und Trinken, unterbrochen nur von ein wenig Jet-Skiing an einer der beiden Molen des Anwesens. Nach dem Abendessen wurde dann die erste "Lezginka" gespielt. Für den westlichen Beobachter wirke der Nationaltanz wie eine "undifferenzierte Mauer aus Sound", was dort aber für die meistens "dramatisch fetten Männer" (Frauen waren nicht zugegen), das Startsignal gab, einer nach dem anderen für jeweils bis zu einer Minute die Arena zu betreten und zu tanzen. Dabei zeigten die einzelnen ethnischen Gruppe unterschiedliche Varianten, wobei die dagestanische am energetischsten, die tschetschenische am aggressivsten und jene aus Iguschetien laut US-Diplomatie am geschmeidigsten ausfiel.
Frauen waren erst beim eigentlichen Empfang zugelassen, was Teenagern und vor allem deren Eltern eine der wenigen Gelegenheiten bot, sich selbst nach Heiratskandidaten umzusehen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren nun noch massiver als zuvor, wobei etwa den US-Diplomaten persönliche Leibwächter zugeteilt wurden. Obwohl mehr als 1000 Sitzplätze zur Verfügung standen, waren für die Oligarchen aller Art, die Künstler, Militärs, Geschäftsleute und Wissenschafter bald nur noch Stehplätze verfügbar, wobei sich in diesem Milieu jene mit höchster Bildung (etwa ein dagestanisch-stämmiger Nanophysiker aus dem Silicon Valley) zwanglos mit martialischen Waffenträgern mischten - und das oft in einer Person.
Als der Konvoi des Bräutigams samt der Braut im Rolls eintraf und begleitet von einem Knabenchor in mittelalterlichen Kostümen und Bewaffnung den Roten Teppich entlang marschierte, begannen die heiratsfähigen Mädchen unter den wachsamen Augen der jungen Männer ihre Lezginka. Die Tänzerinnen wurden dabei mit Geldscheinen beworfen, wobei die US-Diplomaten auch ein Paar 1000-Rubel-Noten bemerkten. Zum Einsatz kamen aber vor allem 100-Dollar-Scheine, die bald den Boden bedeckten und von kleinen Kindern aufgesammelt und den Tänzerinnen übergeben wurden.
Gadzhi blieb dabei die ganze Zeit über in seiner Rolle als Gastgeber gefangen, der alle Gäste persönlich begrüßte. Alles andere wäre eine schwere Beleidigung gewesen, so dass er für die rund 120 Toasts einen eigenen Kellner bei sich hatte, der ihm seine Drinks aus einer speziellen Wodkaflasche einschenkte, die mit Wasser gefüllt war. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, später zu den am schwersten betrunkenen Partygästen zu zählen.
Kadyrov mit "schiefem Blick"
Am zweiten Tag wurde zuerst der Familie der Braut Respekt gezollt, dann verlagerten sich die Feierlichkeiten zurück in Gadzhis Anwesen wo nun auch Tschetscheniens Führer Ramzan Kadyrov eintraf. Begleitet von einem Dutzend schwerbewaffneter Mudschahedin erschien er in Jeans und T-Shirt, wobei er den Diplomaten aber kleiner und weniger muskulös erschien, als sie erwartet hatten. Zudem, so die Amerikaner, hätte er eine Art "schiefen Blick" aufgesetzt. Es folgte ein Feuerwerk, wobei aber die Gäste, die mehrheitlich bewaffnet erschienen waren, gebeten wurden, ihre Waffen nicht abzufeuern, was tatsächlich sogar von Kadyrov eingehalten wurde.
Nach dem Feuerwerk ging es weiter mit der Lezginka, diesmal von kleinen Kindern dargebracht, die bald von Gadzhi und dann auch von Ramzan unterstützt wurden, der dabei seine Gold-plattierte Automatik hinten in der Hose stecken hatte. Die beiden beteiligten sich auch an der Geldschein-Dusche, wobei die Tänzer mindestens 5000 Dollar aufsammeln konnten. Dem Brautpaar hatte Ramzan hingegen einen 5-Kilo Goldklumpen mitgebracht, wie Gadzhi den US-Diplomaten später zu berichten wusste.
Allerdings verabschiedete sich Ramzan wenig später wieder Richtung Tschetschenien, wobei die US-Diplomaten auf die Frage, warum er nicht bleibe, zu hören bekamen, Ramzan bleibe nirgendwo über Nacht.
Auf der Hochzeit wurde hingegen unverdrossen weiter gezecht, wobei sich die Stimmung zusehends deftiger wurde. So fühlte sich ein awarischer Oberst ein wenig beleidigt, weil die US-Diplomaten nicht zulassen wollten, dass er ihren Wein mit Cognac verfeinerte, obwohl das doch "praktisch dasselbe sei". Da der Oberst für die Terrorismusbekämpfung in Dagestan zuständig war, waren die Diplomaten jedoch geneigt, ihm das durchgehen zu lassen. Insbesondere, weil bislang jeder, der in Dagestan diese Aufgabe übernommen hatte, wenig später ermordet worden war.
Der Oberst ließ sich schließlich von einem russischen General beruhigen - nicht aber einer seiner alten Freunde aus afghanischen Kriegstagen, der zu diesem Zeitpunkt als Rektor der juristischen Fakultät der Dagestanischen Universität tätig und bereits zu betrunken war, um zu sitzen, geschweige denn aufrecht zu stehen. Er zog seine Waffe und bot seinen Schutz an, was für einige Besorgnis auf Seiten der US-Diplomatie sorgte. Als Gadzhi schließlich mit seinen Leuten erschien, konnten die Diplomaten endlich das Weite suchen.
Die Konzeption des Staates als Erweiterung der Familie
Neben vollen Hosen nahmen sie von der Hochzeit auch ein Paar geopolitische Einsichten mit - etwa das politische Probleme in der Region ausschließlich über persönliche Beziehungen zu lösen sind, die dann auf informelle Ad-Hoc-Vereinbarungen hinaus laufen.
Im Kaukasus, so die Cablegate-Dokumente, gehe es bei allen Streitereien um Land, wobei die "horizontale" Macht, die etwa von Gadzhis Beziehung mit Ramzan repräsentiert werde, die Antithese zur "vertikalen" Macht sei, die von Moskau komme, die lokalen Verhältnisse aber niemals verstanden habe. Demokratie, so hörten die Diplomaten, müsse aber ebenfalls scheitern. Denn die Konzeption des Staates sei eine Erweiterung der Familie, in der der Vater die unumschränkte Macht habe. Freundschaft und Verwandtschaft werde daher stets stärker sein als das Gesetz - und das noch für Generationen.
Quelle: Telepolis
Monday, December 06, 2010
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