Sunday, July 15, 2018

INTERVIEW: Die deutsch-georgische Autorin und Theaterfrau Nino Haratischwili über die "Sowjetmentalität" in Georgien. Mit Nino Haratischwili mailte Alexandra Kedves via @tagesanzeiger

Das ganze Interview: tagesanzeiger.ch


«Das Scheitern in der Fremde interessiert mich»

Die deutsch-georgische Autorin und Theaterfrau Nino Haratischwili erzählt, wie in Georgien die russischen Touristen geschätzt und gehasst werden und die Sowjetmentalität das Volk spaltet.

Mit ihrer Tochter spricht sie Georgisch wie mit ihrer Mutter. Aber ihre Werke schreibt die Wahl-Hamburgerin Nino Haratischwili auf Deutsch. Und das schon, seit sie an der deutschen Schule in Tiflis das Theater entdeckte und Stücke fürs Schulensemble verfasste. Davor hatte sie von 1995 bis 1997 mit der Mutter in Deutschland gelebt – damals, als in ihrer Heimat alles drunter und drüber ging. Mit 14 Jahren kehrte Nino Haratischwili zurück. In Tiflis studierte sie Filmregie und wechselte 2003, im Jahr der georgischen Rosenrevolution, an die Theaterakademie in Hamburg, wo sie heute lebt. Heimat und Fremde, Emanzipationsschritte und Verzweiflungssprünge – diese Themen lassen die ­Regisseurin, Dramatikerin und Prosa­autorin nicht mehr los.

2018 erhielt Haratischwili für ihre Theaterstücke und den über 1000-seitigen Roman «Das achte Leben (Für Brilka)» den Bertolt-Brecht-Preis der Stadt Augsburg. Zu Saisonende war am Pfauen ihr wilder Putzfrauenmonolog «Die Barbaren» zu sehen, in dem eine aus dem slawischen Raum eingewanderte Reinigungskraft sich über die neuen Flüchtlinge aufregt. Für die nächste Spielzeit ist eine weitere schweizerische Erstaufführung geplant. Nino Haratischwilis vierter, 750-seitiger Roman «Die Katze und der General» über den Zerfall des Sowjetreichs, die Folgekriege und die Sehnsucht nach Erlösung wird Ende August erscheinen.

Sie sind zurzeit in Georgien: Wie reagiert man da auf die russische Charme-Offensive via WM?

Der Grossteil der Georgier reagiert auf das meiste, was in der russischen Politik geschieht, negativ bis ablehnend. Dazu gehört auch die WM. Das Verhältnis zu Russland ist und bleibt schwierig, ­obwohl Georgien von russischen Touristen überschwemmt wird. Anscheinend zieht bei ihnen der Spruch: «Micheil Saa­kaschwili, der Erzfeind, ist weg, wir können da wieder Urlaub machen.» Offenbar hat Georgien für Russland nie auf­gehört, das sonnige Sehnsuchtsland schlechthin zu sein.

Wie ist es als «Sehnsuchtsland»?
Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, da ist erst mal egal, woher die Touristen sind. Aber es müssen die richtigen Akzente gesetzt, eine Vision für Georgien als Reiseland entwickelt werden. Das fehlt noch, meiner Meinung nach. Ein Beispiel: Fährt ein niederländischer Reisebus durch die georgischen Berge und trifft auf einen Bauern, der seine Waren anbietet, kaufen sie 1 bis 2 Liter Tschatscha (Grappa) und ein wenig von den Süsswaren. Aber die Russen steigen aus, kaufen 100 Liter Tschatscha und alle Süsswaren. Das ist für den Bauern zwar lukrativer, aber ich wünschte mir, dass Georgien auch in der Tourismusbranche Strukturen schafft, die ebenso viele Menschen aus dem Westen anziehen wie aus Nord und Ost.


In den Nullerjahren herrschte grosse Armut in Georgien.
 Gerade wirtschaftlich ist für mich wenig Veränderung spürbar, trotz aller Versprechungen seit der Unabhängigkeit von 1991. Der Tourismus floriert, und vor allem kulturell wurden grosse Schritte gemacht. Die junge kreative Szene pulsiert, man spürt eine Aufbruchstimmung. Das macht mich sehr glücklich, denn meine Generation war überwiegend von Stagnation geprägt. Aber wirtschaftlich gehts dem Grossteil der Bevölkerung schlecht. Die Arbeits­losigkeit ist nach wie vor hoch, und auch wer arbeitet, kommt kaum über die Runden, weil die Löhne so miserabel sind – ein zentrales Problem. Und es gibt ­immer wieder Protestaktionen, auch wegen den zahlreichen, oft tödlichen Arbeitsunfällen auf Baustellen und in Bergwerken. Ich hoffe, dass der Druck wächst und die Verantwortlichen zwingt, Menschenleben und Arbeitskräfte besser wertzuschätzen.

Lang nahmen Sie dem Land übel, dass es die Augen verschloss gegenüber der Vergangenheit. Wie geht Georgien heute damit um?
Von einer gesellschaftlichen Aufarbeitung kann kaum die Rede sein. Es ist leider noch so, dass Georgien die jüngste Vergangenheit nicht wirklich analysiert hat. Auch in der Schule fehlts am Hinterfragen. Aber es gibt zaghafte Versuche von Einzelnen und Institutionen. Vor allem Künstler nehmen sich Themen aus der jüngsten Geschichte vor.


Sie erlebten in der Kindheit Mangel und Bürgerkrieg. Prägte Sie das?
Ja, wie alle, die damals hier lebten. Aber ich war ein Kind, durch meine Familie geschützt. Man nahm vieles hin, weil man es nicht anders kannte. Und natürlich hatte man genauso Freude und Abenteuer wie Kinder aus Wohlstandsgesellschaften. Uns schützte quasi das Kindsein vor Bürgerkrieg und Wirtschaftskollaps. Für unsere Eltern war es weitaus schlimmer. Die Vorstellung, in jener Zeit für ein Kind sorgen zu müssen, finde ich aus heutiger Sicht fürchterlich. Ich vermute, die Tatsache, dass die Georgier so sehr im Heute leben, hängt stark mit damals zusammen. Man hat nie die Sicherheit, dass morgen alles noch genauso ist wie heute, und geniesst den Augenblick viel intensiver als etwa in Deutschland.


Man zählt Georgien auch zu den «defekten Demokratien» – zu Recht?
Da müsste man erst Begriffe klären. Vereinfacht gesagt: Georgien ist von einer zentraleuropäischen Demokratie noch recht weit weg. Doch das Bewusstsein geht in Richtung Zivilgesellschaft, bei den Jüngeren ist der Wille da. Politisch ist viel zu tun, schwierig gestalten sich auch Veränderungen bei den Älte­ren. Deren Mentalität ist noch sehr sowjetisch geprägt. Die Gesellschaft ist extrem gespalten, das spürt man im Alltag.


Was ist für Sie selbst heute Heimat?
Je älter ich werde und je öfter ich das gefragt werde, desto weniger weiss ich es. Die Sprache ist auf jeden Fall ein wichtiger Teil davon, aber nicht alles. Ich fühle mich im Deutschen nicht minder heimisch als im Georgischen. Wovon ich aber überzeugt bin, ist, dass Heimat etwas mit Selbstverständlichkeit zu tun hat. Man bewegt sich frei.


Sie schreiben auf Deutsch.
Georgisch ist und bleibt meine Muttersprache, ich spreche sie auch mit meiner kleinen Tochter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sie nicht beherrscht. Diese Sprache soll auch ein Teil ihrer Identität werden.


Um Identität kreist auch Ihr Werk.
Ich bin selbst Migrantin und beschäftige mich mit Migration und Weggehen. Wobei mich beim Stück «Die zweite Frau», das bald in Zürich inszeniert wird, wie auch in «Die Barbaren» das Scheitern in der Fremde mindestens ebenso interessiert hat. Das Nie-wirklich-Ankommen. Die Träume, die am neuen Land zerschellen. Diese zerrissenen Lebensentwürfe sind unglaublich traurig. Ich finde es auch wichtig, dass Figuren zur Sprache kommen, die normalerweise in der Gesellschaft keine Stimme haben. Es ist ein wenig erschreckend, dass post­migrantisches Theater nicht automatisch als Teil der Theaterlandschaft verstanden wird.


Was kann und soll Theater heute im politischen Diskurs leisten?
Ich finde es eher störend, wenn das Theater der Aktualität hinterherrennt, die Nachrichten auf die Bühne holen will. Bestünde darin die Funktion des Theaters, gäbs keine Zuschauer für «Die Orestie» oder «Hamlet». Für mich funktioniert Theater in der Übersetzung – die mach ich, bitte schön, als Zuschauer selbst. Das Theater sollte sich für meinen Geschmack mehr auf die Menschen zurückbesinnen: die Figuren, die Zuschauer im Menschsein abholen und nicht nur einen intellektuellen Diskurs anstreben. Die Emotionalität geht im Gegenwartstheater oft flöten. Schade, dass man die Kraft der Emotionen auch im politischen Sinn unterschätzt.


Und die kommunistische Idee von Brüderlichkeit überzeugt Sie nicht?
Liest man marxistische Thesen, stimmt man oft zu. Aber für mich bleibt es eine grosse Utopie. Für einen Sozialismus im besten Sinne müsste der Mensch anders sein, als er ist. Er dürfte nicht nach Macht streben und die eigenen Interessen an erste Stelle setzen, nicht habgierig sein und nach eigenen Vorteilen suchen. So wurde die Idee des Sozialismus binnen weniger Tage nach der Machtübernahme der Bolschewiki verraten.


In «Die Barbaren» beschwert sich eine ehemalige Flüchtlingsfrau über die neuen Flüchtlinge.
Die Idee zu «Die Barbaren» bekam ich im Zug, wo vor mir eine Ausländerin sass und lautstark über Flüchtlinge schimpfte. Es war eine absurde, fast komische Situation, da die empörten Deutschen sich nicht trauten, etwas zu sagen, da sie selbst eine Ausländerin war. Sie wiederholte ständig, ihr sei nichts geschenkt worden. Irgendwie fand ich diesen Gedanken furchtbar und zugleich traurig. Als wäre sie eifersüchtig auf die Flüchtlinge, die von ihrer Wahlheimat aus ihrer Sicht besser behandelt wurden. Als hätte sie nie die ersehnte Anerkennung in Deutschland bekommen, obwohl sie glaubte, alles richtig gemacht zu haben. Später stellte ich zu meinem grossen ­Erstaunen fest, dass gerade Ausländer oft extrem viele Ressentiments gegen Flüchtlinge haben.


Sie schöpfen aus der Wirklichkeit; wieso trennen Sie beim Schreiben streng vom Privaten?
Persönlich sind alle meine Texte, sie ­gehen mich alle emotional etwas an. ­Privat – also eins zu eins aus eigenem ­Erleben – würde ich aber nie etwas aufschreiben, denn das hiesse, meine Fantasie der Realität unterordnen zu müssen. Das ist es nicht, was mich beim Schreiben interessiert. Ich möchte verschiedene Leben durchleben können, mir etwa vorstellen, wie es ist, ein 60-jähriger Mann zu sein, der an den Kommunismus glaubt.


Hat sich seit Ihrer Ankunft 2003 viel geändert in Deutschland?
Natürlich verändern sich die Dinge permanent, das ist auch gut so. Die Menschen glauben immer, in den «extremsten» Zeiten zu leben. Die Sehnsucht nach früher ist nichts anderes als die nach der eigenen Jugend, dem Punkt im Leben, wo noch alles offen schien. Aber welche Zeit war denn bitte schöner und friedlicher als heute? Ich halte nichts von der ewigen Fokussierung auf «wie schlimm alles geworden ist». Klar, die nationalistischen Tendenzen haben europaweit erschreckend zugenommen. Man muss damit umgehen, nach Dialog suchen, auch wenn man vor jemandem steht, mit dem man eigentlich niemals auch nur ein Wort wechseln will. Die Verhärtung der Fronten ist keine Lösung. Was für mich eindeutig anders ist als 2003, ist der Riss, der durch die Gesellschaft geht. Die Mitte geht verloren, die entgegengesetzten Seiten driften immer weiter auseinander.

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