[nzz.ch] Neben Armenien ist Georgien das einzige christliche Land im Kaukasus und steht entsprechend isoliert da. Die Zeiten, da man sich Russland als Schutzmacht auserkor, sind vorbei. Doch was folgt danach?
Am 18. März 2014 hielt Präsident Putin im Georg-Saal des Kreml eine Rede an die russische Nation, in der er die Krim als «so heilig wie den Tempelberg» bezeichnete. Kurz darauf erklärte er, dass er in der Ukraine auch jenen Teil der Bevölkerung zu verteidigen gedenke, welcher sich der «weiten russischen Welt» zugehörig fühle. Unter dieser ist nicht allein die Landmasse der Russischen Föderation zu verstehen, sondern der gesamte Raum, den Russland je kulturell geprägt hat. Darin eingeschlossen sind auch jene Länder, in denen die UdSSR russische Minderheiten hinterlassen hat.
Während es in der Anglosphäre ein real existierendes Gefühl von Zusammengehörigkeit gibt, verleiht Putin mit der Idee der russischen Welt jenem imperialen Phantomschmerz Ausdruck, den er 2005 in die Worte fasste, der Zerfall der Sowjetunion stelle «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» dar. Seine Präsidentschaft ist der Versuch, die seit 1991 erlittenen Verluste zu revidieren bzw. den weiteren Zerfall der russischen Landmacht zu beenden. Von Anbeginn richtete er sein Augenmerk auf den Kaukasus, zunächst auf Tschetschenien, dann auf Georgien, welches ihm im August 2008 durch das kurzschlüssige Handeln seines Präsidenten Saakaschwili einen glücklichen Vorwand zum russischen Teileinmarsch lieferte.
Russland und der Kaukasus
Den russischen Anspruch auf den Kaukasus verdeutlicht eine Episode, die sich kurz nach dem Untergang der Sowjetunion in einer Dahlemer Villa zutrug. Der letzte Oberkommandierende der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte Matwei Burlakow und der letzte in Bonn residierende sowjetische Botschafter Juli Kwizinski beklagten gegenüber dem Verleger Wolf-Jobst Siedler den Verlust des Kaukasus, insbesondere Georgiens. Dagegen äusserten sie ihr gänzliches Unverständnis darüber, wie klaglos die Deutschen 1990 ihre Ostgebiete preisgegeben hätten. Die 2014 verstorbene Sowjetdissidentin Walerija Nowodworskaja bezeugte vor ihrem Ableben, dass die «überwältigende Mehrheit» der russischen Menschenrechtler in der Ära des Jelzinschen Liberalismus den Verlust des Kaukasus nicht hinzunehmen bereit war. Bereits der russische Literaturkritiker Wissarion Belinski (1811–1848) prägte das Bonmot: «Der russische Demokrat endet bei der Nationalitätenfrage.»
Der bis heute bestehende russisch-georgische Konflikt wurzelt in historischen Tiefenschichten. Georgische Einflüsse auf die Slawia lassen sich bereits am glagolitischen Alphabet der Slawenapostel Kyrill und Method aus dem 9. Jahrhundert ablesen. Bereits in der «Belehrung» des Kiewer Grossfürsten Wladimir Monomach (1053–1125) ist vom ersehnten Garten «wyrij sad» – eine Verballhornung des kirchlichen Namens Iberien für Georgien – die Rede, aus dem «die himmlischen Vögel kommen». Ein Widerhall dieser altrussischen Paradies-Sehnsucht findet sich in John Steinbecks «Russischem Tagebuch» von 1948, als dieser Stalins atheistische Sowjetunion bereiste: «Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hofften, wenn sie ein sehr redliches und tugendhaftes Leben führten, nicht in den Himmel, sondern nach Georgien zu gelangen, wenn sie sterben.»
Nach dem Fall Konstantinopels ersuchten georgische Könige erstmals 1483 das «weisse Russland des grossen Nordens» um Schutz, dem nach der geschichtstheologischen Überhöhung zum «Dritten Rom» die Rolle zufiel, das Böse der Welt in Schach zu halten und die Schutzherrschaft über die orthodoxe Christenheit wahrzunehmen. Seither beginnt für die Georgier «die Sonne im Norden aufzugehen», wie es der Dichter Mamuka Barataschwili im 18. Jahrhundert formulierte. Gänzlich entging den Georgiern die Säkularisierung Russlands seit Peter dem Grossen, als an die Stelle der Heiligen Rus die Grosse Rus trat, die sich nicht mehr von eschatologischem Sendungsbewusstsein und religiöser Affinität, sondern von der Staatsräson leiten liess. Dieses tragische Missverständnis liegt der bis heute währenden Entfremdung zugrunde.
Den Ausgangspunkt des Konflikts bildet der 1783 abgeschlossene Vertrag von Georgiewsk, in dem sich Ostgeorgien unter Erekle II. in der Hoffnung auf einen Schutzschirm gegen die muslimischen Anrainer dem russischen Protektorat unterstellte. In der Enttäuschung dieser Hoffnungen kam es zu einer bürokratischen Homogenisierung durch das russische Imperium. Die Beseitigung der kirchlichen Autokephalie Georgiens vollzog sich sodann im Rahmen der allgemeinen Aufhebung georgischer Selbständigkeit.
Von Beginn weg sahen sich die Georgier vom Verhalten Russlands überrascht. Wie im Mittelalter gegenüber Byzanz hatten sie eine Anlehnung oder eine elastische, «verstreute Herrschaft» wie unter den Persern erwartet. Ein erstes Trauma war für sie der «Verrat» von 1795, die ausbleibende russische militärische Hilfe gegen den Kadscharenkhan Agha Mohammed, der nach der Schlacht von Krzanissi Ostgeorgien völlig verwüstete.
Die Zurückhaltung der zugesicherten russischen Truppen wird in Georgien mit dem Warschauer Aufstand von 1944 parallelisiert. Dabei wird georgischerseits gern übersehen, dass die gescheiterte neuzeitliche Zusammenziehung der eigenen Kräfte das Land erst dem Wohlwollen auswärtiger Mächte auslieferte. Bis heute gelang es den Georgiern kaum je, Partikularinteressen dem nationalen Gesamtinteresse hintanzustellen. In der erwähnten Schlacht von Krzanissi leistete nur einer seiner zahlreichen Söhne König Erekle Heerfolge. Für diese georgische Attitüde prägte der englische Historiker W. E. D. Allen den Begriff der ästhetischen Verantwortungslosigkeit.
Das mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 sich öffnende Fenster der Möglichkeiten wurde in Georgien anders als im Baltikum nicht besonnen genutzt. Das Land stürzte in einen Bürgerkrieg. Der geringe nationale Zusammenhalt offenbarte sich auf bestürzende Weise, als 1993 Georgier ihre aus Abchasien flüchtenden eigenen Landsleute ausraubten. Den Mangel an inneren Bindungskräften suchten die Georgier durch äussere Bündnisse wettzumachen. Was in der feudal-mittelalterlichen Welt funktionierte, musste in der Epoche der Flächenherrschaftsstaaten scheitern.
Wende nach Westen
Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Institutionen im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und wegen der radikalen Privatisierungspolitik im Rahmen der Rosenrevolution von 2003 sahen sich viele Georgier gezwungen, ihr Heil im Ausland zu suchen. Wer zu Hause blieb, verdingte sich gern bei westlichen Firmen, NGO oder Think-Tanks. Der Stalin-Biograf Donald Rayfield wies darauf hin, dass die Georgier heute nicht nur in der Londoner Finanzwirtschaft aussergewöhnlich zahlreich vertreten seien, sondern dass sie auch in der Koalition der Willigen in Afghanistan das proportional grösste Kontingent stellten. Solches erinnert an den Status quo ante Georgiewsk, als georgische Truppen im 18. Jahrhundert das Gros der iranischen Garnisonen bis an den Hindukusch ausmachten.
In nüchterner Voraussicht warnte Rayfield ein Jahr vor dem russisch-georgischen Krieg die Georgier vor überspannten Hoffnungen auf auswärtige Schutzmächte. So wie sich einst das Vertrauen auf das grosse christliche Zarenreich als illusionär erwiesen habe, würde sich der Westen im Falle eines russischen Einfalls auf Uno-Resolutionen beschränken.
Im Versuch, das russische Publikum für eine georgische Wiedervereinigung mit dem abgespalteten Abchasien zu gewinnen, sprach der georgische Geschäftsmann Lewan Wasadse 2017 vor der Adelsversammlung in Moskau vom Warten als dem Nomos der Georgier: In gastlicher Erwartung eines göttlichen Gesandten lebten sie von Anbeginn geduldig auf dessen Empfang. Doch weder Russland noch der Westen erfüllten diesen georgischen Traum von der Wiederherstellung des goldenen Zeitalters. Und so gilt denn: Eine georgische Unabhängigkeit bedarf unabhängiger Georgier.
Der Historiker Philipp Ammon lebt in Berlin und Tbilissi. 2015 erschien im Kitab-Verlag «Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts vom 18. Jahrhundert bis zum Ende der ersten georgischen Republik».
Rezension von Christian Wipperfürth: Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation.
Mehr von Philipp Ammon: independent.academia.edu/PhilippAmmon
Thursday, March 05, 2020
GASTKOMMENTAR: Georgiens Sehnsucht nach dem mächtigen Freund. Von Philipp Ammon (2017) via @NZZ
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