Thursday, August 12, 2010

RADIO: Georgien 2010 - Das Post-sowjetische Land im Umbruch. Elisabeth Nehring (wdr5.de)

Scala – Aktuelles aus der Kultur, 09. August 2010

Die Fahrt hinein ins nächtliche Tbilisi führt über hell erleuchtet Prachtstrassen. Repräsentative Gebäude, Museen und Theater sind bunt angestrahlt, ein künstliches Paradies, das die harten Zeiten der Stromausfälle und bitteren Not in Georgien vergessen machen will. Die Hauptstadt des kleinen Kaukasus-Landes schmückt ihr Zentrum mit Licht, aber nur einige Straßenzüge weiter wartet die Realität mit verfallenen Häusern und kaputten Wegen. Solche Kontraste finden sich auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Landes: traditionelle Geschlechterrollen neben berufstätigen Frauen in hohen Positionen, gut angezogene Menschen, die kein Geld haben, im Winter zu heizen, staatliche Museen, in denen es fast nichts zu besichtigen gibt, dafür aktive junge Kulturschaffende, die mit viel Eigeninitiative ein neues Kunstzentrum gründen.

Scala hat Tbilisi besucht und berichtet über die Licht- und Schattenseite des Lebens im Kaukasusland Georgien.

Autor/in: Elisabeth Nehring

Redaktion: Walburga Manemann

Das Manuskript zum Beitrag im pdf-Format

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Elisabeth Nehring:
Auf Tbilisis berühmtester Prachtstrasse, dem Rustaweli Prospekt, flanieren die Menschen zu jeder Jahreszeit, in milder Wintersonne ebenso wie im heißen Sommer, wenn die hohen, ausladenden Bäume Schatten spenden. Rechts und links ist die breite Straße gesäumt von Prachtbauten des 19. Jahrhunderts - Museen, Theatern, dem Opernhaus und Regierungsgebäuden. Teuer gekleidete Frauen steigen neben Straßenhändlern aus schweren Wagen. Die Menschen schauen einander direkt an, es herrscht eine offene Atmosphäre. Hier erinnert nichts mehr an die Schrecken der 90er Jahre, in denen es in Georgien weder Strom noch Sicherheit gab.
Der Rustaweli-Prospekt mündet auf einer Seite in den Freiheitsplatz, hinter dem die Altstadt beginnt. Nur ein kleiner Teil davon ist restauriert, mit Cafés und Bars herausgeputzt für die spärlichen Touristen und auch nur von ihnen zu bezahlen. Im Kern der historischen Altstadt dominieren enge Straßen mit tiefen Schlaglöchern und verfallene Villen, die sich verschachtelt den Berghang hochziehen. An einigen Stellen, vor allem im so genannten Betlehmi-Quartier erkennt man behutsame Maßnahmen zum Erhalt historischer Gebäude. Unter der Leitung von Nato Tsintsabadze vom Internationalen Rat für Denkmalpflege, ICOMOS, kümmern sich die Bewohner des Viertels selbst um den Schutz der alten Bausubstanz.

Nato Tsinsabatze
Die Leute aus der Nachbarschaft partizipieren nicht nur dadurch, dass sie an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, welche Sanierungen z.B. in diesem oder nächsten Jahr zu tun sind, sondern sie bekommen hier während der Bauphase auch Arbeit als Handwerker oder Bauarbeiter. Für sie bedeutet jedes Projekt eine Möglichkeit, Jobs zu finden. Und langsam beginnen wir auch mit der Sanierung des öffentlichen Raums. Sehen Sie dort drüben diese Terrasse? Die ist entstanden aus der Idee eines Gartens; die Nachbarschaft wollte auf dieser wunderbaren Aussichtsterrasse mit Blick auf Tbilisi einen kleinen Garten angelegen. Und das haben sie getan und den erhalten sie jetzt auch.


Im Betlehmi-Quartier wird die charakteristische, traditionelle Bauweise Georgiens sichtbar: Terrassen, Treppen und Kirchen sind mit länglichen, braunen Backsteinen Schicht um Schicht aufgemauert, vor den abgeblätterten Fassaden der Häuser schweben geschlossene Holzveranden oder filigrane Balkone. Hier fällt es leicht, sich in die Vergangenheit der Stadt zurückzuversetzen.
Ein paar Straßen weiter befindet sich in einer alten Karawanserei das Stadtmuseum; es ist zwar offen, aber leer, gerade gibt es nichts zu besichtigen. Nicht viel anders geht dem Besucher im Staatlichen Georgischen Kunstmuseum am Freiheitsplatz: die berühmte Pirosmani-Sammlung ist geschlossen, überhaupt kann man nur zweieinhalb Räume mit wenigen Ausstellungsstücken betreten.
Ganz anders als in diesen vernachlässigten Staatlichen Institutionen geht es auf der anderen Seite des Matkvari-Flusses zu. Dort gründet der Künstler und Kulturmanager Wato Tsereteli gerade sein eigenes Kunstzentrum. Mit viel Eigeninitiative renoviert er dafür das Nebengebäude eines alten Heizkraftwerks, das ausreichend Platz bietet für mittelgroße Ausstellungen, Workshops und Seminare. Genau die richtige Größe für das erste unabhängige Kunstzentrum in Tbilisi, wo es zwar viele bildende Künstler, aber wenig Ausstellungsorte und Galerien für zeitgenössische Kunst gibt. Eigeninitiative und Selbstorganisation unter Künstlern sind noch immer nicht die Regel.

Wato Tsereteli
Es ist leichter, wenn man international Ausstellungen macht und als Künstler eine eigene Entwicklung durch macht, als wenn man jetzt hier etwas aufbaut. Ich bin mir sicher, dass wenn man eine kleine eigene Galerie macht, mit eigenen und anderen Arbeiten und einem klaren Profil, dass man hier auch Erfolg hat. Ich meine, wer sagt, dass Leute das nicht kaufen? Hier sagt man immer: ‚Hier gibt es keinen Markt, wir können hier nichts verkaufen und können nichts ausstellen’, usw. Macht das selbst! Es passiert nicht, weil es leichter ist mit den ganzen Stipendien, aber das ist eben nicht ‚Contribution’, nicht Teilnahme an einem Prozess, der das Land betrifft.

Wato Tsereteli, der seine georgischen Künstlerkollegen zu mehr Mitwirkung an lokalen Gestaltungsprozessen auffordert, hat viel Erfahrung in der westeuropäischen Kunstszene gesammelt; sein Engagement als Kulturmanager und Veranstalter gilt jedoch vor allem dem Aufbau von Strukturen im eigenen Land. Eine der wichtigsten Aufgaben der jungen Generation von Künstlern und Intellektuellen bezeichnet Wato Tsereteli als ‚Kontextualisierung’, die Einbettung der eigenen kulturellen Identität in Vergangenheit und Gegenwart sowie das Anknüpfen an verloren gegangene georgische Traditionen.

Wato Tsereteli
Ich glaube, was in den letzten 200 Jahren, seit wir mit Russland verbunden sind, sehr wichtig für uns war, ist die Fixierung auf den Westen. Russland hat uns auch gedient als Fenster nach Europa, zum Westen. Auch hier war Französisch sprechen und Salon usw., unter Schriftstellern und in der Kunst auch. Und was ich denke, ist, dass wir viel Connection mit dem Osten verloren haben und ich glaube, wir müssen diese Connection zurückfinden. Und dann wird von dieser Realität eine adäquatere Sprache von georgischer Kunst, Kultur, Politik, usw. geboren werden.

Das Verhältnis zu den Nachbarn, das Wato Tsereteli hier anspricht, ist ein wichtiges Thema in Georgien - zu großen Kulturen wie Iran, das als einstigstes Persien immer Einfluss auf das kleine Kaukasus-Land suchte, genauso wie zu den kaukasischen Völkern und Volksgruppen ringsum und natürlich zu Russland, dem riesigen Nachbarn, mit dem Georgien in einer Art Haß-Liebe verbunden scheint. Auf politischer Ebene wird Russland als Bedrohung empfunden, doch herrscht in Georgien keine tief gründende, traditionelle Russland-Feindschaft. Naira Gelashwili, die Leiterin des Kaukasischen Hauses, Zentrum für Literatur, Übersetzung und Friedenstätigkeit, betont im Gegenteil die gewachsenen kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Naira Gelashwili
Russland hat Georgien okkupiert, so feindlich. Aber wer versteht den georgischen Film und das georgische Theater am besten? Die Russen! Sie haben es immer hochgeschätzt und auch jetzt! Wenn kommt ein georgischer Künstler, der findet immer Beifall in Moskau! Das ist so, das ist unerklärlich. Ich will damit sagen, das ist ein riesiger Fehler, wenn man die ganze Erfahrung in Null-Erfahrung verwandelt, absurdnegative Erfahrung und die Politiker haben das gemacht mit Georgien und Russland, sie haben große gemeinsame kulturelle Tradition gehabt und dann ist es plötzlich verschwunden und das ist ein großes Problem.

Die politischen Spannungen zwischen Georgien und Russland würden, so beschreibt es Naira Gelashwili, von der Regierung instrumentalisiert. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, die kulturellen Verbindungen zwischen beiden Ländern auch unter erschwerten Bedingungen aufrecht zu erhalten. Zusammenarbeiten russischer und georgischer Künstler oder gegenseitige Einladungen sind beeinträchtigt, aber nicht vollkommen ausgeschlossen. Das bestätigt auch Ekatarina Maschmischwili, Theaterdirektorin in Tbilisi und selbst eine scharfe Kritikerin der russischen Politik.

Ekatarina Maschmischwili
Wir haben im Theaterbereich sehr gute Freunde in Russland, die auch gegen den Krieg waren und ihren Vorstellung Ausdruck verliehen haben, d.h. gegen ihre Regierung opponierten. Das russische Theater ist ja sehr politisch! Dass diese russischen Theaterleute nach Tbilisi kommen können, daran würden wir gerne arbeiten, aber auch da gibt es Beschränkungen. Wir können zb keine Leute einladen, die Angst haben müssten, nach Georgien zu kommen, weil nach ihrer Rückkehr nach Russland u.U. dort große Probleme auf sie warten. Und natürlich können wir derzeit auch nicht mit russischen Theatermachern zusammenarbeiten, die ihre Regierung unterstützen. Dabei geht es nicht um eine bestimmte politische Haltung, sondern weil das aus unserer Sicht bedeutet, dass sie damit die Ermordung von Menschen unterstützen.

Ekatarina Maschmischwili leitet mit noch nicht einmal vierzig Jahren das zweitgrößte Theater Tbilisis, das Mardshanischwili. Sie ist Vertreterin einer jungen, gutausgebildeten Generation, die im kulturellen Leben inzwischen z.T. hohe Positionen erreicht hat. Darunter sind auch auffallend viele Frauen - angesichts des Rufes Georgiens als sehr traditionellem Land, scheint das überraschend, doch laut Ekatarina Maschmischwili waren Frauen stets in führenden Rollen vertreten - sowohl zu sowjetischer Zeit als auch in den schwierigen post-sowjetischen Jahren. In Sachen Emanzipation könne sich ihrer Meinung nach der Westen sogar noch etwas abschauen. Überhaupt sieht sie die gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung ihres Landes auf einem guten Weg. Damit ist sie nicht alleine, aber es gehört zu den Auffälligkeiten einer Reise nach Georgien im Jahr 2010, dass man zu den meisten Themen sehr unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen hört. Im Gegensatz zu der jungen Theaterdirektorin bemerkt die Menschenrechtlerin Naira Gelashwili eine gewisse gesellschaftliche Müdigkeit und Stagnation.

Naira Gelashwili
Wir können eigentlich nur das Bewusstsein beeinflussen, damit überhaupt die Ausbildung hier nicht verschwindet jetzt ist das sehr gesunken, das Niveau! So ungebildet war Georgien nie! Sowjetisches Georgien war noch etwas, da haben wir große Wissenschaftler gehabt. Also, die Wissenschaften verschwunden, die Alten sind gestorben, die neue Generation ist nicht entstanden. Alle sind arm, wer wird jetzt Wissenschaft lernen, wenn sie sehen, dass diese Wissenschaftler von Hunger gestorben sind? Oder gereist sind. Also Wissenschaft verschwunden, Kultur sehr schwach. Armut ist keine gute Bedingung für die Entwicklung der Kultur.

Es ist keine auf den ersten Blick sichtbare Armut, die Naira Gelashwili meint. In der Hauptstadt gehen die Menschen gut angezogen, es gibt nur wenig Bettler und - wie fast überall in den postsowjetischen Ländern - sieht man mehr teure Geländewagen als zuhause. Nachts sind die Straßen des Zentrums hell erleuchtet, wichtige Gebäude im Geschmack des Präsidenten Michael Saakaschwili rot, blau, gelb, orange und grün angestrahlt. Der Mangel an Elektrizität, der noch vor einigen Jahren das Leben bestimmte, ist überwunden. Aber gibt es doch noch einmal einen Stromausfall, erweisen sich diese Repräsentationslichter als Potemkinsche Dörfer, die weiterleuchten, während der Rest der Stadt im Dunkeln liegt. Doch die größten Probleme liegen ganz woanders. Naira Gelashwili.

Naira Gelashwili
Jetzt ist riesige Angst vor Armut, riesige Arbeitslosigkeit. Offiziell sagt man das nicht, aber über siebzig Prozent Arbeitslosigkeit. Die Familien werden gerettet, weil über Millionen Georgier im Ausland sind, hauptsächlich in Russland. Von dort wird das Geld geschickt und sie ernähren eigene Angehörigen und Familien.
Es ist so, dass der Westen geholfen hat, damit Saakaschwili hier populär wird, da hat er Geld dafür bekommen, Licht und Wasser und Heizung gegeben, aber die Menschen haben kein Geld das zu bezahlen. Sogar für mich ist das ein Problem das zu bezahlen, so teuer ist das alles. Ich weiß, dass sehr viele Vertreter der Intelligenzia, diese Kulturtragenden, gebildete Menschen, meine Freunde, sie können jahrelang die Wohnungen nicht heizen. Und stellen Sie sich vor, sie wohnen so kalt wie in einem Sarg, in den kalten Wohnungen.

Bei allen gravierenden sozialen Problemen sowie den innen- und außenpolitischen Spannungen und Defiziten, ist es immer wieder die Kultur, die Anlass zu Hoffnungen auf eine positive Entwicklung gibt. Für ein kleines, kulturell reiches Land wie Georgien ist es besonders wichtig, sich nicht zu isolieren, sondern immer wieder gute Kontakte zu den Nachbarvölkern zu suchen. Dass es dafür zahlreiche Beispiele in der Vergangenheit gibt, zeigt die reiche georgische Volksdichtung, die vom Kaukasischen Haus in viele andere Sprachen übersetzt wird.

Naira Gelashwili
Es gab so viele Freundschaften, es ist erstaunlich, wenn man diese Geschichte liest und immer wieder sieht man in der Volksdichtung, wie hoch diese Völker einander schätzten. Sehr viele Ressourcen gibt’s in der Kultur, in dem gemeinsamen Leben, usw., worauf man wunderbare Friedenspolitik aufbauen könnte, eigentlich.

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