Junge Historiker bemühen sich um eine Neubewertung des in seiner Heimat noch immer verehrten Diktators
In Georgien, der Heimat des sowjetischen Diktators Josef Stalin, ist dessen offene Verehrung nicht anrüchig. Junge Historiker wollen Stalins Wirken in der Region aufarbeiten und die verschiedenen vorherrschenden Geschichtsbilder zurechtrücken.
Markus Ackeret, Tbilissi
Am 9. März 1956 endete der Protest georgischer Jugendlicher gegen die Entstalinisierungspolitik in einem Blutbad. Eine Aufarbeitung des Ereignisses hat es bis heute nicht gegeben. Dies und das Ereignis selbst erscheinen symptomatisch für den Umgang mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und seiner Zeit. Georgien ist die Heimat Stalins. Vor kurzem erst wurde die grosse Statue auf dem Hauptplatz seiner Geburtsstadt Gori geschleift; sie soll in das verklärende Museum gleich nebenan gebracht werden. Nicht wenige Georgier – jüngere und ältere – bedauern das und wünschten sich einen Mann seines Kalibers an die Spitze des Landes.
Unterschiedliche Zugänge
Von Stalin-Nostalgie sind Giorgi Kldiaschwili und David Dschischkariani weit entfernt. Die beiden jungen Historiker haben mit Gleichgesinnten eine Nichtregierungsorganisation gegründet, die sich die historische Aufarbeitung der Sowjetzeit in Georgien zur Aufgabe macht. Gerade weil Stalins Bild in der Öffentlichkeit nach wie vor erstaunlich positiv ist und jahrzehntelang keine Forschung zum sowjetischen Georgien möglich und erwünscht war, wollen die Historiker in erster Linie Zeitzeugnisse veröffentlichen und in den Kontext stellen, ohne aber allzu viele Wertungen vorzunehmen. Die goldene Mitte gelte es anzustreben, sagen sie.
Sie stehen mit ihrem Ansinnen tatsächlich in der Mitte – zwischen der Verklärung der Vergangenheit, die die einen betreiben und für die das Stalin-Museum in Gori steht, und einem Geschichtsbild, das die Sowjetzeit in Bausch und Bogen verdammt, wie es die Regierung von Präsident Saakaschwili pflegt. «Nicht alles war schlecht in der Sowjetunion», meint Kldiaschwili und bedauert, dass die historische Aufarbeitung keine staatliche Priorität geniesse. Dabei ermögliche nicht nur eine klare wirtschaftliche und politische Perspektive den Weg nach Europa, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, so ist Kldiaschwilis Mitstreiter Lewan Awalischwili überzeugt. Die beiden leiten das Institute for Development of Freedom of Information in Tbilissi und arbeiten an geschichtswissenschaftlichen Dissertationen.
Georgiens Opfer und Täter
Wie sich die Regierung die Aufarbeitung der Sowjetzeit vorstellt, hat sie im Okkupationsmuseum in Tbilissi vorgemacht. Die modern gestaltete Ausstellung füllt einen grossen Saal mit Galerie im georgischen Nationalmuseum, das derzeit allerdings grundlegend renoviert wird und deshalb nur in Ausnahmefällen zugänglich ist. Schon im Treppenhaus grüsst eine riesige Foto, die Saakaschwili mit seinem früheren ukrainischen Amtskollegen Wiktor Juschtschenko und einer Schülerschar zeigt. Später wird eine Museumsführerin sagen, der Totalitarismus habe mit der Rosenrevolution 2003 geendet, die Saakaschwili an die Macht brachte. Georgiens Okkupationsmuseum ist der gleichnamigen Institution in der lettischen Hauptstadt Riga nachempfunden, kleiner allerdings und ohne selbst Forschung zu betreiben.
Es erzählt zunächst von der kurzen Blüte der georgischen Unabhängigkeitsbewegung 1918, nach der Oktoberrevolution im Russischen Imperium (zu dem Georgien seit Anfang des 19. Jahrhunderts gehört hatte), und der Eingliederung in die entstehende Sowjetunion bereits 1921 als Teil der kurzlebigen Südkaukasischen Föderation; danach vom Widerstand gegen die Sowjetherrschaft und den wellenartig über die Republik hereingebrochenen Phasen des Terrors – in den zwanziger Jahren, um die Gegenwehr zu brechen, in den dreissiger Jahren während des gesamtsowjetischen Grossen Terrors, in der Endphase der Herrschaft Stalins.
An den Fakten gibt es nicht viel zu rütteln. Fragwürdiger ist der Subtext, die Interpretation, die vorgibt, das sowjetische Übel sei vollkommen von aussen über Georgien hereingebrochen. Dass die Georgier nicht nur Opfer, sondern selbst auch Täter im Grossen Terror waren, wird unter den Tisch gewischt, ebenso fehlt etwa die angemessene Darstellung der gezielten Gewalt gegen Minderheiten. Darin spiegelt sich viel gegenwärtige Politik. Russland wird auch jetzt gerne für alles Übel verantwortlich gemacht, und mit Minderheitenfragen tut sich der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene georgische Nationalstaat, wie die Konflikte in Abchasien und Südossetien besonders drastisch zeigen, sehr schwer.
Das Konzept der Historiker ist ein anderes. Sie wollen die Dokumente und die Schauplätze der Geschichte selbst sprechen lassen. Ohne die Archivbestände, sagt David Dschischkariani, könne man die Geschichte des Stalinismus nicht erforschen. Fast wäre es nie so weit gekommen, weil grundlegende Archivmaterialien kurz vor der Vernichtung standen. Als das Gebäude im Zentrum Tbilissis, in dem unter anderem das Archiv des Zentralkomitees der georgischen Kommunistischen Partei untergebracht war, an Investoren verkauft wurde, gelang es nur durch Zufall, die Bestände zu retten. Sie befanden sich in schlechtem Zustand, und Räume für sie waren zunächst auch keine vorhanden. Giorgi Kldiaschwili, der damals für das staatliche Telegrafenamt arbeitete, konnte dieses dafür gewinnen, in einem Gebäude am Stadtrand ein Stockwerk abzutreten. Die Archivabteilung des Innenministeriums übernahm die Kosten für die Renovierung der Räumlichkeiten. Auch Omar Tuschuraschwili, dem Zuständigen im Innenministerium, ist der Stolz über das gerettete Archiv anzusehen.
Topografie des Terrors
In der Tat ist es eine wahre Fundgrube für Historiker des Stalinismus. Hier finden sich Originaldokumente über Stalins frühe Jahre – etwa seine schon leicht brüchige Polizeiakte aus seiner Zeit als Revolutionär in Baku oder die Memoiren seiner Mutter –, aber auch Deportationslisten für zahlreiche Völker auf dem Boden Georgiens (unter anderem auch für Deutsche) und Materialien über Massenerschiessungen. Im Unterschied zu vergleichbaren Beständen in Moskau sind hier alle Akten ohne Ausnahme frei zugänglich und ermöglichen so einen Blick in die Abläufe und auf die Ereignisse in der sowjetischen Peripherie. Gute Verzeichnisse fehlen aber, so dass es mitunter tage- oder wochenlang dauern kann, um ein bestimmtes Aktenstück aufzutreiben. Die angestrebte Digitalisierung würde nicht nur die Originaldokumente schonen, sondern auch diesbezüglich für Erleichterung sorgen.
Dschischkariani arbeitet derzeit zusammen mit dem deutschen Historiker Marc Junge von der Ruhr-Universität Bochum an einem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projekt über die Massenrepressionen in Georgien während des Grossen Terrors 1937/38. Ein weiteres, grösseres und für eine breitere Öffentlichkeit gedachtes Vorhaben beschäftigt sich mit der Konzipierung einer «Topografie des Terrors» in Tbilissi. Recherchen im Archiv des Zentralkomitees, jenem des sowjetischen Geheimdienstes und in weiteren Bibliotheken und Beständen werden ebenso die Grundlage dafür sein wie Gespräche mit Zeitzeugen. Die Historikergruppe um Kldiaschwili und Dschischkariani ist für die Umsetzung verantwortlich, das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und das Institut für internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes finanzieren sie. Auch die Schweizer Botschaft beteiligt sich an einem Teilprojekt – jenem über die Aufarbeitung der Jugendproteste gegen die Entstalinisierung im März 1956. Die Gesellschaft Memorial, die sich in Russland als erste und am umfassendsten mit der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit beschäftigt hat, ist Kooperationspartner.
Historischer Stadtspaziergang
Die Idee ist gut erprobt, und sie passt bestens in die gegenwärtigen Forschungstendenzen, die dem historischen Raum und Ort des Geschehens die lange vernachlässigte Bedeutung für die historische Erzählung geben. Zunächst für einen Bezirk Tbilissis, später für die ganze Stadt und weitere Orte des Landes soll ein historischer Stadtspaziergang entwickelt werden, der die Schauplätze des Stalinismus für Touristen und Einheimische erlebbar macht. Das Konzept wird das Bewusstsein für die brutale Herrschaft des Diktators auch in dessen Heimat zu schärfen verstehen. Mehr als eine patriotische Geschichtsdarstellung kann die Konfrontation mit einem Ort zum Nachdenken über Kontinuitäten und Brüche der Geschichte anregen. Das Haus von Stalins Schergen Lawrenti Berija zum Beispiel, dem Statthalter in Georgien und späteren sowjetischen Geheimdienstchef, dient heute dem Menschenrechtsbeauftragten der Regierung als Amtssitz.
Friday, July 02, 2010
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