Sunday, May 03, 2020

BUCHBESPRECHUNG: Über eine faszinierende Geschichte russisch-georgischer Beziehungen. Von Dieter Boden via @theeuropean

Buch: Philipp Ammon, Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924, Frankfurt/M 2020.


Früherer Deutscher Botschafter 

in Georgien, Dieter Boden
(theeuropean.deDies ist die faszinierende Geschichte russisch-georgischer Beziehungen zwischen 1801, dem Jahr der Annexion Georgiens durch das zaristische Rußland, bis nach dem ersten Weltkrieg. Es ist ein Thema, das bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion allenfalls für Fachleute der Geschichtswissenschaft von Interesse gewesen sein mag. Inzwischen hat der Kaukasus als ein regionaler Spannungsherd in unserer unmittelbaren Nachbarschaft neue Aktualität erhalten. Dieses Buch von Philipp Ammon ist insofern auch ein Beitrag zur politischen Zeitgeschichte.

Ammon behandelt einen entscheidenden Abschnitt in den Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Nachbarn, die sich in ihrer Kultur, ihrer Mentalität und ihren Lebensgewohnheiten grundlegend unterscheiden. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Gewalt, Verrat und Täuschungen, aber auch von friedlichem, oftmals sogar harmonischen Zusammenleben – mit einem Wort: ein Musterbeispiel aus dem Fach politischer Staatenbeziehungen, das uns auch heute noch manches lehren kann. Dies gilt sicherlich insbesondere hinsichtlich unseres heutigen Verhältnisses zu Rußland.

Mit viel Sachkunde schildert Ammon die Periode der bilateralen Beziehungen in dem sich insgesamt über 115 Jahre erstreckenden Zeitabschnitt, in dem Georgien Teil des Russischen Zarenreiches war. Der Band enthält eine Fülle an Anmerkungen sowie ausführliche Hinweise auf weiterführende Literatur zum Thema; ein wenig störend wirkt die umständliche Transskription der Personennamen ins Deutsche, die nicht selten das Lesen beeinträchtigt. Kurz behandelt Ammon auch die Periode von 1918 bis 1921, in der Georgien erstmals seine Unabhängigkeit errang, bevor diese im Februar 1921 durch den Einmarsch der Roten Armee wieder zunichte gemacht wurde – weitgehend unbemerkt durch das restliche Europa, das mit den Folgen des vorangegangenen Weltkrieges beschäftigt war. Die darauffolgende Periode, in der Georgien über 70 Jahre als Bundessstaat Teil der Sowjetunion war, wird von Ammon nur gestreift. Viel Aufmerksamkeit widmet er den Beziehungen zwischen den beiden orthodoxen Kirchen.

Die Annexiuon durch Rußland von 1801 brachte für Georgien zunächst das übliche Schicksal eines unterworfenen Landes: Ausplünderung, Zwangsassimilierung und Niederschlagung von immer wieder aufflammenden Aufständen. Als schlimmste Demütigung, so bemerkt Ammon zutreffenderweise, empfanden die Georgier die Unterstellung ihrer orthodoxen Kirche unter die des Moskauer Patriarchats im Jahre 1811. Jedoch setzt Ammon denjenigen, die die russische Herrschaft allein als eine Leidensgeschichte fortdauernder Unterdrückung sehen wollen, eine differenziernde Betrachtungsweise entgegen. Die Bilanz ist ambivalent: in der Zeit bis 1914 erlebte Georgien eine Friedenszeit ohne die Verwüstungen, die es in den Jahrhunderten vorher durch eine endlose Folge an Invasionen durch fremde Eroberer erlitten hatte. Unter „befreundeten Bajonetten“, wie der Dichter Lermontov dies bezeichnete, erholte sich das Land allmählich. Es fand Anschluß an die Moderne durch den Bau von Infrastrukturen, durch die beginnende Umstellung einer archaischen Agrarwirtschaft auf eine industrielle Erschließung seiner Ressourcen, durch den Aufbau von Telekommunikationen, bei der die deutsche Firma Siemens entscheidend mitwirkte.

Wiederbelebt wurden nun auch die zuvor jahrhundertelang unterbrochenen Verbindungen zu Europa, und Rußland spielte bei der Vermittlung eine entscheidende Rolle. Es waren russische Universitäten, die die neuen georgischen Eliten ausbildeten. Die georgischen Studenten kamen von dort als „Westler“ zurück, hatten Kant und Hegel gelesen und traten bald auch für nationale Selbstbestimmung ihres Landes ein.

Auch nach 115 Jahren gemeinsamer Staatlichkeit blieben jedoch die Unterschiede in Kultur, Lebensgefühl und Mentalität zwischen beiden Ländern bestehen. Daß die russische Epoche heute überwiegend als eine traumatische Erfahrung wahrgenommen wird, ist eine Folge der anschließenden 70 Jahre unter sowjetkommunistischer Herrschaft, die am 9.4.1989 mit einem besonders brutalen Akt abschloss: einem Massaker sowjetischer Truppen an der georgischen Zivilbevölkerung.

Es wäre wünschenswert, wenn diese vergangene Geschichte der russisch-georgischen Beziehungen durch ein Kapitel über die Sowjetzeit und die Gegenwart seit der neuen georgischen Unabhängigkeit von 1991 ergänzt würde. Das Buch von Ammon ist jedenfalls ein verdienstvoller Anstoß. Heute werden die russisch-georgischen Beziehungen durch die Auseinandersetzung um die von Georgien abgefallenen und von Rußland unterstützten Separatstaaten Abchasien und Südossetien bestimmt. Eine einvernehmliche Regelung dieses Konflikts ist nicht in Sicht. Seit 2008 sind die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern abgebrochen. Die Wirkungen dieses Konflikts strahlen vielfältig zu uns in den Westen Europas aus. Auch dies macht Ammons Buch deutlich: ohne eine Normalisierung der georgisch-russischen Beziehungen wird die Region des Südkaukasus nicht zur Stabilität finden.

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