Friday, September 10, 2010

FESTIVAL: SONDERPROGRAMM KAUKASISCHE LEKTIONEN - 53. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (dokfestival-leipzig.de)

52nd International Leipzig Festival for Documentary and Animated Film
18.10.- 24.10.2010

Homepage: dokfestival-leipzig.de

Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm pflegt seit Jahrzehnten die Tradition, Ländern oder geografischen Regionen Sonderprogramme und Retrospektiven zu widmen, deren Filmschaffen in Deutschland und oft auch international weitgehend unbekannt ist. Dadurch erhält das Publikum einen tiefen Einblick in die jeweiligen Kinematographien und kann Filme entdecken, die sonst weder im Fernsehen noch im Kino zu sehen sind. So können sich die Festivalbesucher durch die Augen der Filmemacher aus den jeweiligen Ländern einen eigenen emotionalen Eindruck vom Alltag und der Kultur der Länder jenseits von verkürzten Schlagzeilen, Nachrichtenbildern und Stereotypen verschaffen, Vorurteile über Bord werfen und sich ihr eigenes Urteil bilden. Das Leipziger Publikum und die Fachbesucher belohnen diese Bemühungen mit oft schon morgens ausverkauften Vorstellungen.

In der Tradition dieser Programmschwerpunkte, zu denen in den letzten Jahren die Sonderprogramme zum chinesischen, arabischen, afghanischen oder afrikanischen Dokumentar- und Animationsfilm zählten, steht das von Barbara Wurm kuratierte Sonderprogramm zum jüngeren Filmschaffen aus der Kaukasus-Region.

Ausgangspunkt für das schwierige Unterfangen, eine Reihe mit neueren Dokumentarfilmen aus der Kaukasus-Region zusammenzustellen, ist ein simpler Befund: Es gibt keinen Fleck auf der Landkarte der ehemaligen Sowjetunion, der nicht von den politischen Ereignissen rund um die Perestrojka erschüttert worden wäre; es gibt aber nur eine Region, in der aus Konfliktherden Kriegszonen wurden, die bis heute nicht zur Ruhe kommen. An der strategisch Jahrhunderte lang wichtigen Grenze zwischen Europa und Asien graben sich seit nunmehr zwanzig Jahren die Konturen des postkommunistischen Dilemmas ein und verweisen immer wieder zurück auf die historischen Ursprünge der zahlreichen, einzelnen Konfliktbereiche, die sich zu einem Komplex geopolitischer Antagonismen formieren. Ob nationale, territoriale, ethnische, religiöse oder soziale Streitfragen – auf dem Gebiet der drei kaukasischen Sowjetrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidschan sowie des südlichen Russlands sind davon alle Lebensbereiche betroffen.

Aber noch ein zweiter Befund motiviert diese Filmreihe: So sehr der Kaukasus, insbesondere in Bezug auf den Tschetschenienkrieg und den Russisch-Georgischen Konflikt Thema in den öffentlichen Medien ist, und so viele Fernseh-Reportagen es zu diesem Thema gibt, so wenig ist das Filmschaffen aus der Region selbst bekannt. Die geplante Filmreihe will daher die historischen und politischen Krisenzonen aus künstlerischer, nicht rein journalistischer Perspektive beleuchten und darüber hinaus auch den verschütteten und vergessene Filmkulturen – die gemeinsam mit dem Ende des Sowjetstaats unterzugehen drohten – zu einem ‚Revival’ verhelfen.

So unterschiedlich nämlich die politischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte in den betroffenen Staaten sind, so differenziert muss man sich auch dem Zustand der Filmproduktion in den einzelnen Ländern widmen. In Bezug auf Infrastruktur und Nachfrage litten die beiden großen ex-sowjetischen Filmkulturen Georgiens und Armeniens zunächst genauso stark wie die weniger bekannte Filmszene Aserbaidschans an den Folgen des Endes der Sowjetunion.



Autonomiebewegungen und Dezentralisierung leiteten jenen ökonomischen und kulturellen Prozess ein, der letztlich dazu führte, dass es seit drei Jahren nun kein (im ehemaligen Zentrum Moskau stattfindendes) föderatives "Forum der nationalen Kinematographien" mehr gibt. Wer Filme drehen wollte, emigrierte oder ließ sich auf langwierige internationale Koproduktionen ein. Der Zustand der Filmstudios war Anfang der Nullerjahre verheerend, so genannte "Filmschulen" waren mit nicht mehr Equipment als einem Fernsehgerät ausgestattet – keine Spur von Kamera oder Schnittplätzen –, während so manches aus dem Boden schießende neue "Filmstudio" von einer Handvoll Enthusiasten geführt wurde, das sich mit Mini-DV-Kamera und PCs über Wasser hielt.

Aber wie gesagt: Man muss sich dem Filmschaffen der Region, insbesondere dem dokumentarischen, differenziert nähern (kleinere Animationsarbeiten werden berücksichtigt, bilden aber keinen eigenen Schwerpunkt). Dies soll im Rahmen von fünf bzw. sechs Programmblöcken passieren, die der Kaukasus-Schwerpunkt von DOK Leipzig 2010 umfassen wird, aber auch im Rahmen eines Symposiums und von Werkstattgesprächen, zu denen FilmemacherInnen, ProduzentInnen und andere Fachleute aus der Kaukasus-Region eingeladen werden sollen. Die Filmauswahl konzentriert sich auf die letzen drei, vier Jahre (2006-2010), greift aber an einigen relevanten Punkten auf historisches Filmmaterial zurück. Filme, die in den letzten beiden Jahren im Rahmen des Festivals gezeigt wurden, können dabei nicht berücksichtigt werden (u.a. Nino Orjonikidzes und Vano Arsenishvilis "Altzaney", Georgien 2009; Marija Kravčenkos "Časti tela" (Body Parts), Russische Föderation 2009). Den Schwerpunkt bilden Arbeiten von Regisseurinnen und Regisseuren aus der Region selbst (also Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Russische Förderation), das gilt auch für jene, die mittlerweile im Ausland leben, aber vor Ort drehen.

Im Weiteren seien einige mögliche Programmblöcke bzw. Themenschwerpunkte skizziert:

Berg-Karabach (Nagornyj Karabach)
Drei Autorenfilme umrahmen diese heikle Konfliktzone zwischen Armenien und Aserbaidschan, die gleichsam den schrecklichen "Auftakt" für das permanente Kriegstreiben im Kaukasus markiert: Vardan Hovhannisyans "Mardkayin patmutyun paterazmi yev khaghaghutyan orerits" (A Story of People in War & Peace), 2007, und das neueste Oeuvre der poetischen Ausnahmefigur unter den zeitgenössischen armenischen Filmregisseuren, Arutjun Hachatryans "Sahman" (Grenze), 2009, stellen je auf ihre Weise ihren persönlichen Umgang mit den Erinnerungen an und den Folgen des Berg-Karabach-Kriegs in den Vordergrund. Während Hovhannisyan auf Archivmaterial zurückgreift, das er selbst während des Kriegs gedreht hat, und sich zwölf Jahre später auf die Suche nach seinen ehemaligen Soldatenkameraden begibt, mit denen er der Gewalt des Schlachtfelds in intimen Gesprächen begegnet, erzählt Hachatryan die Geschichte eines kleinen vom Konflikt betroffenen Dorfes aus der Perspektive eines geretteten Büffels. Eine postkommunistische Parabel von Vertrauen und Misstrauen, ein poetisches Doku-Drama, basierend auf realen Ereignissen. Umflankt werden diese beiden Filme von Vitalij Manskijs großartig lakonischem (und seinerzeit "im Westen" wenig gezeigten) Kurzfilm "Post" (Wache), 1990. Damals, als alles begonnen hat, war schon klar, dass der hier nah verfolgte Einmarsch russischer "Friedenstruppen" in eine armenisch-aserbaidschanische Siedlung alles andere als Frieden bringen würde.

Tschetschenien
Von einer tschetschenischen lokalen Filmproduktion kann leider nicht die Rede sein. Aufhänger dieses Programmblocks bildet die erste Regiearbeit der jungen in Groznyj geborenen Tschetschenin Marija Kravčenko, „Sobirateli tenej“ (Collecting Shadows), 2006, das bildgestalterisch wie erzählerisch sensible Privatdokument einer Zerstörung, das weit über die damals aktuelle Kriegsberichterstattung hinausgeht. Produziert wurde dieser Film der VGIK-Absolventin vom Nizhne-Volzhskaya Studio of Documentary Cinema Chronicles in Saratov. Die ‚heutige’ Bilderwelt der persönlichen Erinnerungen der Autorin sind hier mit völlig unbekannten Archivaufnahmen aus der gerade-nochsowjetischen Filmchronik, die nie das Licht der Öffentlichkeit erreicht haben, verwoben - mit Bildern von Clan-Demonstrationen, politischen Meetings, Protesten gegen die Regierung. Die Idee für diesen Programmpunkt ist, über dieses Studio sowie über das RGAKFD, das Russische Staatliche Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk, das Spektrum an Archivmaterial zum tschetschenischen Leben in der noch "funktionierenden" UdSSR zu erweitern und den Film Kravčenkos in diesen Kontext zu stellen.

Weitere Recherchen zu Arbeiten jüngerer tschetschenischer Regisseure, die teilweise auch in Georgien produziert werden, sind hier noch notwendig. Verzichtet wird hingegen voraussichtlich aus konzeptionellen Gründen auf russische Dokumentarfilme zum Tschetschenien-Konflikt.

Georgien
Der aktuellste und auch streitbarste Dokumentarfilm zum russisch-georgischen Konflikt stammt von einem der schärfsten Kritiker der russischen Politik: Andrej Nekrasov. Gemeinsam mit Olga Konskaja stellt er in der norwegisch-russisch-georgischen Koproduktion "Russian Lessons", 2009, der u.a. auf den Festivals in Sundance und Rotterdam gezeigt wurde, den Krieg aus der Perspektive dies- und jenseits der Fronten dar, also vom "europäischen" Süden und vom "russischen" Norden. Die Konfrontation wird jedoch zu einer investigativ einzigartigen Lektion in Sachen Politik und Macht entfaltet, die bis ins Jahr 1993 und den Abchasien-Konflikt zurückreicht. Auch das dokumentarische Schaffen von Nino Kirtadze steht im Zeichen der Offenheit für die politischen und historischen Quellen der Kaukasus-Region. Ob in ihren frühen Arbeiten wie "Chechen Lullaby" (Il était une fois la Tchétchénie), 2001, oder im aktuellen "Durakovo: Village of Fools", 2007, der vom Aufkeimen russischer rechtsnationalistischer Bewegungen berichtet, immer wieder geht es um den Alltag und die Rituale einer ideologisch überformten Gesellschaft.

Das vielfältige georgische Dokumentarfilmschaffen der letzten Jahre muss für die Programmierung noch weiter recherchiert werden. Kontakte zum Georgian National Film Center und zu einzelnen BeraterInnen (Stefan Tolz, Zaza Rusadze, Mariam Kandelaki sowie Anna Dziapshipa) bestehen bereits. Angedacht sind in erster Linie die durchaus herausragenden Arbeiten der jungen Salome Jashi, aber auch von Levan Koguashvili oder Merab Kokochashvili. Einen Einzelplatz soll der Altmeister des georgischen Filmschaffens, Aleksandr Rechviašvili, bekommen.

Armenien
Neben den bereits erwähnten Filmen ist im Bereich des armenischen Films geplant, das marginale dokumentarische und teilweise experimentelle, in den Kunstbereich reichende Schaffen junger NachwuchsregisseurInnen und kleinerer Filmschulen sowie ähnlicher Initiativen zu porträtieren (Simoyan Arusyok ("9:39"), Gor Baghdasaryan ("Dinner Time"), Produktionen des Studios von Ruben Gevorkjanc "Nayk", Arbeiten des Experimentellen Zentrums für Kunst in Jerewan, u.a.m.)

Auch die in Russland produzierte, in Armenien gedrehte Arbeit von Arman Yeritsyan, "Privet, Fellini!" kommt in Betracht. Fraglich ist hingegen, ob historisch-politische Anklagefilme, die von Exilarmeniern in den USA produziert wurden, wie beispielsweise "The River Ran Red" ins Programm aufgenommen werden sollten. Eine Recherchereise zum zentralen Festival in Jerewan ("Golden Apricot") wäre hier sowie im Bereich der Recherche zu den kleineren Strömungen und Aktivitäten sehr aufschlussreich.

Aserbaidschan
Der international renommierte Schauspieler Murad Ibragimbekov ist gleichzeitig die herausragende Figur des aus Aserbaidschan stammenden Dokumentarfilmschaffens. Sowohl in "Neft" (Erdöl), 2003, als auch in seinem neuesten Kurzfilm "Objekt No. 1" lässt sich erahnen, wie sehr die großen Montage-Traditionen des sowjetischen Kinos und die reiche Symbolkraft noch bis heute wirksam sind, während gleichzeitig aktuelle Themen wie die geopolitische Bedeutung der Rohölvorkommen thematisiert werden. Einen weiteren Schwerpunkt eines möglichen Kurzfilmprogramms bilden die Arbeiten "Il’gar Safats", der bereits vor einiger Zeit in Leipzig war, sowie andere Dokumentarfilme, die von der aserbaidschanischen Firma Narimanfilm produziert werden. Außerdem werden noch Recherchen zu den aktuellen Arbeiten des ebenfalls bereits in Leipzig gezeigten "Elchin Musaoglu" durchgeführt.


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