Wednesday, February 26, 2014

ARTIKEL: Mein Instrument ist die Metapher - Über den Filmregisseur Oktay Mir-Qasim. Von Thomas Melzer

Ein Gespräch mit dem aserbaidschanischen Filmregisseur Oktay Mir-Qasim über seinen germanophilen Vater, das Paradox der Rache und den (Un)glücksfall, der ihm den Schauspieler Dieter Hallervorden bescherte


Tee oder Kaffee? „Tee natürlich“, sagt Oktay Mir-Qasim. Die Straßenschuhe abzustreifen lässt er sich nicht ausreden, als er an diesem Morgen unsere Wohnung betritt. Damit handelt er sich gleich die Frage nach dem Selbstverständnis ein: Asien oder Europa?

„Genetisch steckt in mir natürlich sehr viel Asien. Aber ob sie mich nun als Europäer oder Asiaten bezeichnen, ob wir hier nun in Europa oder Asien leben – wo ist das Problem? Der berühmte Universalgelehrte Avicenna war Asiat. Warum sollte ich ihm den Rücken kehren und nur William Shakespeare anlächeln? Ich bin Internationalist.“ Anna, meine Frau, kennt Mir-Qasim seit drei Jahren. Als wir in Baku ankamen und sie sich auf die Suche nach Filmkollegen begab, lud er sie ein, in seine gutbürgerliche Wohnung nahe der Metrostation Sahil. Das Haus ist ein Künstlerhaus, auch der berühmte Sänger Muslim Magomayev lebte einst hier. Damals begann Mir-Qasim mit den Dreharbeiten für einen Film, der in diesem Februar im Bakuer Nizami-Kino Premiere haben wird: „Quisas almadan ölme“, sinngemäß: Sterben in Versöhnung. Der Titel trügt nicht: Es ist ein Alterswerk. Wir wollen uns mit dem 70-jährigen Regisseur darüber unterhalten.

Gleich das erste Bild im Film zeigt Mir-Qasim selbst, in der Rolle eines deutschen Pastors, auf einem Pferdefuhrwerk sitzend, das im Jahr 1941 die deutsche Siedlung Helenendorf im Südkaukasus verlässt, angetrieben von sowjetischen Rotarmisten.
Warum?

Die ausgebreiteten Hände schweben auf Augenhöhe: „Mein Instrument ist die Metapher!“ Während der aserbaidschanische Drehbuchautor in lutheranischer Kutte, als Hirte einer deutschen Gemeinde, von den Russen nach Sibirien deportiert wird, lässt er eine Schrift einblenden: All denen gewidmet, die die Tragödie des Exils überlebt haben. Auf der nächsten Tafel dankt er seinem Vater: Seine Erzählungen machten es mir möglich, in den deutschen Kapiteln der aserbaidschanischen Geschichte zu blättern.

So kommen wir auf die Väter und Vorväter zu sprechen. Großvater Mir-Qasim war ein hoher Geistlicher und bestimmte diesen Weg auch für seinen 1883 geborenen Sohn Assadullah. Doch als jener 13 wurde und die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen der Jahrhundertwende wahrnahm, wollte er die Madrasa, seine Koran-Schule, verlassen und fortan in Baku ein kaiserliches Gymnasium besuchen. Der Vater war strikt dagegen und das Gymnasium zögerte, weil der Aspirant kaum Russisch sprach. Ausgerechnet ein deutscher Pastor, der an jener Schule Geschichte, Literatur und Christentum lehrte, nahm sich des Jungen an und vermittelte. „Mein Vater wurde auf Probe immatrikuliert und war bald einer der besten Schüler. Später wurde er ein berühmter Arzt und immer verteidigte er die Freiheit. Und er vergaß nie, dass es ein Deutscher war, der ihm dies ermöglicht hatte. Mein Vater liebte die Deutschen. Auf seinem Schreibtisch lagen Bücher in alter deutscher Schrift, Chirurgie-Fachbücher neben Goethes Faust. Er war geradezu germanophil. Und natürlich wurde diese Liebe an uns fünf Söhne weitergegeben. Unsere Gouvernanten waren deutsche Frauen, sie wurden ‚Bonne‘ genannt. Wir sprachen mit ihnen deutsch. Das wurde dann manchmal selbst meinem Vater zu viel und er beklagte sich, dass wir die Sprache unserer Bonne besser verstanden als das Aserisch unserer Großmutter.“ Oktay Mir-Qasim singt jetzt: „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie schön...“ Er bricht ab, als seine Stimme versagt.

Man sollte an dieser Stelle erwähnen, dass Oktay Mir-Qasim mitten im Großen Vaterländi-schen Krieg geboren wurde, im Jahr 1943. „Oh Tannenbaum“ in Baku, in einer sowjetischen Familie, kurz nach einem Krieg, der 20 Millionen Sowjetbürgern das Leben gekostet hat? Woran liegt es, Oktay muellim, dass die Aserbaidschaner die Deutschen so verehren, ja sie geradezu kritiklos idealisieren? Liegt es auch daran, dass dieser Krieg nicht bis ans Kaspische Meer gekommen ist?


„Der Krieg ist ja doch bis Baku gedrungen, wenn auch in anderem Format. Wir hatten Hun-ger, die Heizung hat nicht funktioniert, viele Aserbaidschaner sind an der Front gestorben. Und letztlich ist der Krieg wohl sogar auf Abscheron entschieden worden. Das Bakuer Erdöl hat 70 Prozent der sowjetischen Panzer, Autos und Flugzeuge angetrieben. Natürlich wollte Hitler Baku erobern. Es gibt Filmaufnahmen, in denen man sieht, wie Hitler eine große Torte in Form der Halbinsel Abscheron präsentiert wird. Die Schokolade darauf symbolisierte unser Öl.“

Doch das erklärt nicht, warum uns einfache Leute hier mit „Heil Hitler!“ grüßen und es freundlich meinen. Und warum wir studierte Aserbaidschaner kennen, die Mein Kampf für ein großartiges Buch halten? „Ich kann das auch nicht verstehen. Deren Kopf tickt anders als meiner. Ich habe nie eine positive Einstellung zu Hitler gehabt und trotzdem meinen Bruder bewundert, der verwundet aus dem Krieg zurückkam, aus Berlin sogar, und dann hier eine Deutsche geheiratet hat, eine von unseren Deutschen, eine geborene Reich. Diese Geschichte gefällt mir sehr. Die erzähle ich gern.“

Eine von unseren Deutschen, damit meint Mir-Qasim eine der 23.000 im Jahr 1941 in Aser-baidschan lebenden Kaukasiendeutschen. Sie waren Nachfahren der Schwaben, die sich ab 1817 mit Genehmigung von Zar Alexander I. im Südkaukasus ansiedelten. Helenendorf – heute Göygöl – war die größte deutsche Ansiedlung in Aserbaidschan. In ihr spielt auch der Film. Wir sehen Oktay als deutschen Pastor und drei halbwüchsige Männer; Markus, Günther und Salman. Die Wehrmacht hat soeben die Sowjetunion überfallen, nun erscheinen Rotarmisten in diesem Winkel, von dem die Front noch weit ist. Auf Geheiß Stalins vertreiben sie alle Deutschen, die nicht mit Einheimischen verheiratet sind, nach Kasachstan und Sibirien. Zu ihrer Erfassung suchen die Russen einen Dorfbewohner als Assistenten. Markus meldet sich und wird zum Kollaborateur. Er entblößt einen Aserbaidschaner, der das deutsche Waisenmädchen Maria als seine Schwiegertochter ausgibt, um sie vor der Deportation zu retten. Maria muss auf den Treck, Markus bleibt er zur Belohnung erspart. 

Als Anna 2011 Oktay Mir-Qasim erstmals traf, gab er ihr eine ernüchternde Beschreibung der heutigen aserbaidschanischen Filmzunft. „1968 kehrte ich vom Regie-Studium am Moskauer Institut für Kinematographie zurück. Die Menschen grüßten mich damals in der Stadt. Künstler waren bekannt und angesehen. Heute rempeln die jungen Leute uns Alte auf der Straße an, wenn wir ihnen nicht rechtzeitig aus dem Weg gehen. Sie wollen nicht mehr Künstler werden, sondern Businessmen oder Rechtsanwälte.“

Im Film findet sich dieser Befund bald wieder. Die Jungen heutzutage seien „Buchhalter und kalte Fische“ sagt der inzwischen gut 80-jährige Günther, längst in Deutschland lebend, über seinen Enkelsohn Richard. Dessen geplante Hochzeit hält er für ein „genial durchdachtes Geschäft“, bei dem es nur darum ginge, das vom Großvater versprochene Geld für den Kauf einer Tankstelle zu kassieren. Daraus macht Günter nun seinerseits einen teuflischen Ablasshandel. Um nicht bald „in der Hölle braten zu müssen, weil ich meine letzten Pflichten vor der Vergangenheit und der Zukunft nicht erfüllt habe“, schickt er Richard nach Aserbaidschan. Er solle seinem alten Freund Salman eine letzte Botschaft überbringen. Und er soll Markus finden, lebendig oder tot, und ihm wahlweise in das Gesicht oder auf das Grab spucken, um Günters letzte Schulden zu begleichen, „jene große Bürde, die auf meinen Schultern lastet“. Um Vergeltung geht es jetzt also, um Rache, diesen klassisch-globalen Tragödienstoff von Homer über Hamlet bis zu Dürrenmatts Besuch der alten Dame.
Warum, Oktay muellim, nun auch in ihrem Alterswerk?

„Wie jeder typische Aserbaidschaner vertrage ich Verrat sehr schlecht. Und ich habe in meinem Leben viel davon über mich ergehen lassen. Jedesmal habe ich dann mit diesem Rachegefühl gelebt. Aber immer, wenn das Objekt meiner latenten Rache erkrankte, starb oder anderes Unglück erlitt, schämte ich mich für dieses Gefühl. Ist das paradox?“ Wir fragen uns vor allem: Ist es wirklich nur eine kleine private Geschichte von Markus‘ Verrat und Günthers Rachedurst, die der Meister der Metaphern uns hier zeigt in einer der seltenen – mehr als 5 bis 6 pro Jahr sind es nicht - und deshalb mit Staatsräson oft aufgeladenen aserbaidschanischen Filmproduktionen? Seine Landsleute, ein vor 20 Jahren durch Verlust und Vertreibung aus Nagorni Karabach kollektiv gedemütigtes Volk, werden nach ihren Deutungen suchen. Mir-Qasim indes lässt sich nicht vereinnahmen. „Ich habe noch nie einen Film auf Bestellung gemacht. Und ich mache nie so etwas wie Propaganda. Jedenfalls nicht nach herkömmlichem Verständnis. Meine persönliche Propaganda, ja die betreibe ich natürlich. Ich propagiere die Idee der großen gesellschaftlichen Familie, die möglich ist auch unter Menschen verschiedener Nationalität.“ Er sagt es auf Deutsch: „Die Welt ist meine Heimat.“ 

Wir müssen natürlich auf Dieter Hallervorden zu sprechen kommen, der im Film den alten Günther spielt. Wie kam es dazu? „Die Filmvorbereitungen zogen sich hin, es gab finanzielle und organisatorische Probleme. Den Günther sollte eigentlich der Schauspieler Heinz Krückeberg spielen, wir hatten schon Probeaufnahmen mit ihm gemacht. Doch dann fiel er tragischerweise ins Koma und wir konnten nicht abwarten. Gott – nein, es war keine Agentur, es war Gott! – schickte mir dann Dieter Hallervorden.“

Die Dreharbeiten fanden in Aserbaidschan, Georgien und Deutschland statt, im kleinen Ört-chen Buckow in der Märkischen Schweiz. 220.000 Euro hatte der Produzent nur für die in Deutschland spielende Handlung veranschlagt, viel zu viel für Mir-Qasimos Budget. Um zu sparen, drehte er die Szenen in Günthers Wohnung bei sich zu Hause. So sieht man also Dieter Hallervorden alterskauzig im Rollstuhl durch Mir-Qasims Bakuer Schlafzimmer kreiseln. An der Filmpremiere wird Dieter Hallervorden nicht teilnehmen können, auch für ein Gespräch ist er nicht erreichbar. Auf einem Schiff zeigt er gerade an zehn Tagen sein Solo-Programm. Per e-mail lässt er liebe Grüße an Oktay Mir-Qasim ausrichten. Er denke sehr gern an die schöne Zeit in Baku zurück; Dreharbeiten und Regisseur seien ihm in angenehmer Erinnerung.

1943 war Asadullah Mir-Qasim zum letzten Mal Vater geworden, mit 60 übrigens. Zwei Jahre später wird er Präsident der Akademie der Wissenschaften Aserbaidschans. Zwei weitere Jahre später fällt Parteichef Baghirov auf, dass dieser Kader nicht Mitglied der Kommunistischen Partei ist. In öffentlicher Versammlung legt er Oktays Vater den Aufnahmeantrag vor. Dieser unterschreibt nicht. 50 Jahre, nachdem er die Koranschule verlassen und dafür den Bruch mit seinem Vater in Kauf genommen hatte, gibt er zur Erklärung an: Ich glaube an Gott. Keine 15 Minuten später ist Asadullah Mir-Qasim, der einst die Madrasa verließ, um sich den empirischen Gesetzen zu widmen, nicht mehr Präsident der Akademie der Wissenschaften. Auch sein Sohn ist ein gläubiger Mensch geworden, fest davon überzeugt, dass es nur einen Gott gibt. „Als der polnische Papst Johannes Paul II. krank war, bin ich mit meiner Frau in die Kirche gegangen und habe gebetet, dass er nicht stirbt. Ich habe ihn sehr geliebt, vor allem für seine Internationalität.“

Auch die Aufsässigkeit des Vaters hat sich vererbt. Zu Sowjetzeiten habe er gelegentlich eine Staatsflagge abgerissen, einmal sogar in Budapest, erzählt Oktay. „Ich war Dissident. Jetzt… – würde ich mich eher als Sozialist bezeichnen. Ich mache mir Sorgen um die gesellschaftliche Balance.“ Da ist er in Lenins einstigen Ländereien nicht der einzige. Wir kennen einige Vertreter der alten Intelligenzia, die die flotte deutsche Pragmatiker-Formel Jünger als 30 ist und nicht links? Kein Herz! Älter als 30 und noch immer links? Kein Verstand! heute nur noch in ihrer Umkehrung für sich gelten lassen würden.

Dass das Gespräch dann viel zu schnell vorbei ist, müssen wir uns selbst zuschreiben. Wir haben Oktay auf einen Fehler im Filmplakat hingewiesen – ‚von‘ ist mit ‚f‘ geschrieben. Das ist dem Sohn eines Germanophilen peinlich. Er muss jetzt los, die Sache klären. Aber dann kann er doch nicht gehen, ohne nicht noch einmal eine Liebeserklärung abgegeben zu haben: „Ich liebe Deutschland wirklich sehr! Unter uns, ein Geheimnis: London ist für mich die Hauptstadt der Welt. Das kann ich nicht erklären, ich bin ein Poet. Ich liebe London aber nicht annähernd so wie die kleine Stadt Buckow in Deutschland. Mir gefällt Berlin sehr. Ich schätze Paris, aber ich habe es nicht so lieben können, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich liebe Los Angeles nicht. Aber ich liebe sehr Mexiko. Und ich liebe gar nicht: Dubai. Dahin muss man nicht reisen.“

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