Wednesday, March 05, 2014

KRIM-KRISE: Georgischer Schriftsteller Lascha Bakradse im Interview mit Tatjana Montik: «Ein Imperialismus des 19. Jahrhunderts» (nzz.ch)

Georgien bekennt sich ohne Wenn und Aber zu den westlichen Werten der Aufklärung. Im Bild: Eine zerstörte Militarbasis in Gori (Aufnahme vom 16. September 2008). (Bild: Keystone / EPA / Zurab Kurtsikidze)

(nzz.ch) Für Georgier bietet die russische Usurpation der ukrainischen Krim in Bezug auf Machtanspruch und Vorgehen ein Déjà-vu. Tatjana Montik hat sich mit dem georgischen Schriftsteller Lascha Bakradse unterhalten.

Ihre Heimat Georgien möchte demnächst einen Assoziierungsvertrag mit der EU unterzeichnen. Was hat Georgien Europa zu bieten?

Wir könnten viele neue Farben nach Europa bringen, denn wir besitzen eine eigenständige alte Kultur, die am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien liegt. Unsere Tänze, unser polyfoner Gesang und unser Alphabet, um nur ein paar Dinge zu erwähnen, sind einzigartig. Und wir sind eine Landbrücke zwischen Europa und Asien. Wirtschaftlich könnte Georgien für eine europäische unabhängige Energiepolitik von Bedeutung werden, denn man sieht in Europa langsam ein, dass die Energieabhängigkeit von Russland gefährlich ist.

Welche europäischen Wurzeln besitzt Georgien?

Zur Zeit der Argonauten war Westgeorgien, Kolchis genannt, ein Teil der damals im Westen bekannten Welt. Dazumal gab es noch keine Grenze zwischen Europa und Asien. Neben der geografischen Lage ist es heute entscheidend, zu welchen Werten sich ein Land bekennt. Und Georgien bekennt sich ohne Wenn und Aber zu den westlichen Werten der Aufklärung. Hinzu kommt der christliche Glaube, der eine der wichtigsten Komponenten unserer Identität darstellt. Die Georgier haben sich immer als Teil der Christenheit verstanden.

Viele Europäer wissen gar nicht, wo Georgien liegt. Wann ist das Land Europa verloren gegangen?

Spätestens dann, als die Russen sich hier breitgemacht haben. Im 18. Jahrhundert wollte Georgien über Russland Europa näherkommen. Die georgischen Könige hatten Georgien während der Mongolenzeit jahrhundertelang gegenüber den muslimischen Nachbarn als christliches Land verteidigt und suchten schliesslich Hilfe bei Russland. Doch Russland hat in der Folge alle Verträge mit Georgien gebrochen – etwa den Vertrag von Georgijewsk von 1783, gemäss dem Georgien sich der Oberhoheit und dem Schutz Russlands unterstellte, seine Krone jedoch behalten durfte. Später hat Russland Georgien annektiert. Wir wurden zwar nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unabhängig, doch viele sehen uns noch immer als Teil Russlands. Man hat im Westen die Geschichte der russischen Grossmachtpolitik im Süden nicht ordentlich studiert. Und daher fällt es dem Durchschnittseuropäer schwer, zu verstehen, was derzeit in der Ukraine und auch in Georgen passiert.

Was unterscheidet Russland von Europa?

Russland hat die europäische Aufklärung und die europäischen demokratischen Revolutionen verpasst. Der Autoritarismus und der Klientelismus seiner Politik speisen sich nach wie vor aus asiatisch-mongolischer Tradition der Machtausübung. Gerade jetzt in der Ukraine sehen wir deutlich, wie es funktioniert: Wer nicht kuscht oder sich kaufen lässt, wird drakonisch bestraft. Das ist nicht die Politik des 21. Jahrhunderts, sondern des 19. Jahrhunderts – klassisches imperialistisches Denken.

Am Wochenende haben die Russen die Halbinsel Krim okkupiert nach einem Schema, das die Georgier von ihren Provinzen Abchasien und Südossetien kennen, die heute russische Protektorate sind. Zuerst stiftet man Unruhe und schürt «Gefahr» und lässt dann die russischstämmige Bevölkerung das Mutterland um Hilfe anrufen. Natürlich ist man dann schnell und gern da in der «Not».

Was über der Auseinandersetzung zwischen Ukrainer und Russen vergessen geht, ist, dass die Krimtataren die ursprüngliche Bevölkerung auf der Krim darstellen. Sie haben eine äusserst interessante Kultur und Geschichte, sind jedoch heute durch die russische Willkürherrschaft zu einer kleinen Minderheit geschrumpft. Die Krimtataren gehörten zu den Völkern, die Stalin während des Zweiten Weltkriegs wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen als Ganze nach Zentralasien umgesiedelt hat. Innerhalb weniger Tage wurden über 180 000 Menschen unter fürchterlichen Bedingungen per Zug verfrachtet, rund ein Drittel kam beim Transport ums Leben. Erst nach dem Zerfall der UdSSR durften sie zurückkehren.

Als Opfer russischer Gewaltgeschichte gelten die Krimtataren heute als proukrainisch.

Sie sind eine proukrainische, aber auch eine proeuropäische Kraft. Der Modernisierungswille der russischen Tataren (nicht zuletzt in Bezug auf den Islam) folgte europäischen Vorbildern, dasselbe war in Georgien der Fall. Ismail Gaspirali war für sie als Aufklärer eine ebenso wichtige Figur wie für uns Ilja Tschawtschawadse.

Wie sehen Sie die Perspektiven Georgiens?

Für uns geht es heute nicht mehr darum, ob wir nach Asien oder nach Europa gehören. Wir wollen nach Europa – alle Umfragen sprechen eine deutliche Sprache. Allerdings müssen wir erkennen, wie effizient die russische Propaganda in Georgien arbeitet: Europa und der Westen werden verteufelt, wo immer es nur geht, und es gibt bei uns Leute, die auf diese Desinformation tatsächlich hereinfallen. Nach dem russischen moralischen Desaster auf der Krim wird diese Form der Aggression noch zunehmen. Wichtig ist, dass sich unsere Bevölkerung dagegen resistent zeigt.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, den russischen Machtansprüchen wirksam entgegenzutreten?

Man sollte den Menschen die Wahrheit über Europa und den Westen noch eindringlicher und verständlicher erzählen. Europa unternimmt hier kaum etwas. Für viele Georgier ist es sehr schwer, ein Visum für europäische Länder zu bekommen. Wichtig ist auch Europas wirtschaftlicher Einfluss. Wir dürfen nicht das Gefühl bekommen, gegenüber Russland alleine gelassen werden.

Welche Rolle spielt denn die georgische orthodoxe Kirche?

Sie ist so etwas wie die fünfte Kolonne Russlands in Georgien. Der Idee der Einheit der orthodoxen Kirche verpflichtet, wirkt sie stark prorussisch, ob bewusst oder unbewusst.

Bald wird der russische Patriarch Kyrill nach Georgien reisen. Manche meinen, Georgien solle den Assoziierungsvertrag mit der EU unbedingt noch vor diesem Besuch unterzeichnen.

Ein Assoziierungsabkommen ist keine Garantie – man sollte davon nicht zu viel erwarten. Von europäischer Seite sollte noch deutlicher gesagt werden, dass uns dieser Vertrag die Türen öffnet. Es steht zu befürchten, dass die Russen auf uns einen ähnlichen Druck ausüben wie auf die Ukraine.

Nach dem Regierungswechsel im Herbst hat sich die neue georgische Führung wesentlich russlandfreundlicher gegeben. Hat das etwas genützt?

Ich glaube, unsere neue Regierung hat inzwischen eingesehen, dass die Politik der ausgestreckten Hand nicht viel Gutes bringt. Unser Premierminister Garibaschwili hat vor kurzem bei seiner Reise in die USA klare Worte gesprochen. Russland versteht die Politik der Sanftheit überhaupt nicht, weil es diese Sanftheit als Schwäche versteht. Zwanzig Prozent des georgischen Territoriums halten die Russen mittlerweile völkerrechtlich illegal besetzt. Jetzt ist die Krim an der Reihe. Wir selber haben im Georgien-Krieg geblutet, als wir versuchten, uns gegen diese Entwicklung zu stellen. Ich befürchte, dass es auch auf der Krim so weit kommen kann.

Interview: Tatjana Montik

Lascha Bakradse, geboren 1965 in Tiflis, ist Publizist, Historiker, Literaturwissenschafter, Journalist, Drehbuchautor und Schauspieler. Er studierte in Tiflis, Jena, Bern, Potsdam und Berlin. Derzeit unterrichtet Bakradse an den Universitäten von Tiflis und ist gleichzeitig Direktor des dortigen Giorgi-Leonidze-Literaturmuseums.

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