Sunday, March 09, 2014

REZENSION: Als hätten wir Italien im Kaukasus vergessen - Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. Von Olga Grjasnowa (welt.de)

(welt.de) Sehnsuchtsländer: Stephan Wackwitz reist durch Georgien, Armenien, Aserbaidschan. Von Olga Grjasnowa 

Stephan Wackwitz Die vergessene Mitte der Welt" von Stephan Wackwitz ist eines der klügsten und schönsten Bücher, die ich im letzten Jahrzehnt über den Kaukasus gelesen habe. Für den Autor selbst "nicht mehr als ein zeithistorischer Zwischenbescheid" eines ausländischen und sprachunkundigen fellow travellers, ziehen sich lange Spaziergänge als Leitmotiv durch das Buch, die an den Flaneur im Sinne Walter Benjamins oder auch an den Amerikaner Teju Cole erinnern. Ausgehend von kaukasischen Landschaften, mäandert Wackwitz souverän durch die Kulturgeschichte und zeichnet auch aktuelle politische Ereignisse nach – wie etwa die gewaltsamen Übergriffe von Erzkonservativen und orthodoxen Priestern auf eine Demonstration gegen Homophobie im vergangenen Jahr. 

Die vergessene Mitte der Welt Behutsam erzählt Wackwitz auch die Geschichte des armenischen Völkermordes während des Ersten Weltkrieges, die er sehr richtig als "Holocaust" bezeichnet: "Dieser Holocaust wurde zum Ursprungsmythos moderner armenischer Staatlichkeit und zum universalen Bezugspunkt armenischer Identität überall auf der Welt." Heute kopiert Armenien in vielen Punkten den Staat Israel – das armenische Genozid Museum in Eriwan hat nicht nur architektonisch und didaktisch vieles mit der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gemeinsam, und unlängst wurde auch in Armenien das Programm "Birthright" eingeführt.

Allerdings wird der Genozid an den Armeniern von Israel offiziell nicht anerkannt – um die diplomatischen Beziehungen zur Türkei nicht noch weiter zu gefährden. Der in Baku geborene und 1990 nach Israel ausgewanderte Josef Shagal von der rechten Partei Israel Beiteinu erklärte gegenüber aserbaidschanischen Medien 1998: "Ich finde es zutiefst beleidigend, und sogar blasphemisch, den Holocaust an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges mit der Massenvernichtung der Armenier während des Ersten Weltkrieges zu vergleichen. Juden wurden getötet, weil sie Juden waren, doch die Armenier provozierten die Türkei und sind selbst schuld." Shagal saß von 2006 bis 2009 in der Knesset, dem israelischen Parlament. In Aserbaidschan wurden noch 1990 an den Armeniern Pogrome verübt.

"Die vergessene Mitte der Welt" ist ein atmosphärisch dichtes Buch, mit großen literarischen Passagen: "Der Blick über flache Sumpf- und Schilflandschaften auf die turmhohen Schornsteine des Stahlwerks in der Entfernung. Die diesige Luft des heißen Nachmittags. Der Geruch der Nadelgehölze am staubigen Straßenrand. Die Vergeblichkeit einer industriell-utopischen Zukunftsvision, die nie in der Wirklichkeit angekommen ist. Und nachdem ich diese zufällig am Wegesrand aufgeschnappten Atmosphären in den folgenden Wochen nicht hatte vergessen können, machte ich mich an einem Wochenende im späten August auf, einen Samstagnachmittag in Rustawi zu verbringen und mich davon überraschen zu lassen, welche Einsichten und Epiphanien dort auf mich warten würden."

Wenn nicht gerade in Baku wie 2012 ein Eurovision Song Contest stattfindet, taucht der Kaukasus in den internationalen Medien kaum auf, vor allem nicht mit Kulturnachrichten. Was Literatur und Essayistik angeht, gibt es zwar einige Bücher über den Tschetschenien-Krieg, und zwar ausgerechnet von Nichtrussen, etwa die "Dreihundert Brücken" von Bernardo Carvalho, "Die niedrigen Himmel" von Anthony Marra oder die wunderbaren Essays von Juan Goytisolo "Landschaften eines Krieges". Auch versucht die in Moskau lebende Alisa Ganieva, Dagestan auf die literarische Weltkarte zu bringen; doch bleibt der Kaukasus bis heute vor allem der Sehnsuchtsort der russischen Klassiker: Lermontow, Puschkin, Tolstoi, Gasdanow und viele andere reisten durch diese Region. Sie verarbeiteten ihre Erlebnisse mit einem romantisch-verklärten und eben noch nicht postkolonial-kritischen Blick, der auch noch heute in Russland in naiver Weise sehr lebendig ist.

Wackwitz vergleicht die Verklärung des Kaukasus mit der deutschen Italien-Sehnsucht: "Und dabei ist mir, seit ich hierhergekommen bin, als hätten wir mit Georgien ein nicht weniger mediterranes Land als Italien vergessen." Und an einer anderen Stelle heißt es: "Zur Entschuldigung meiner georgischen Aus- und Anfälle könnte ich außerdem eine lange Reihe von berühmten literarischen Entlastungszeugen benennen und literaturhistorische Präzedenzfälle ersten Ranges anführen. Denn ich bin hier, was seinerseits wiederum viel Peinliches hat, sozusagen nach einem literarischem Thema verzückt. Georgien ist seit Puschkin und Lermontow das russische und später sowjetische Italien. Eine Gegend, die man erobern muss und von der man träumen will."

Stalin sah das Ganze übrigens ein wenig anders, er hatte vor, aus Georgien ein sowjetisches Florida zu machen. Zwar wurde sein Plan niemals ganz in die Tat umgesetzt; ein begehrtes Urlaubsgebiet für die sowjetischen Bürger blieb das Gebiet allemal.

Stephan Wackwitz beschreibt eindringlich, wie rasant und grundlegend sich der Wandel in der georgischen Hauptstadt auch vollzieht: "Besucher, die ein Jahr lang nicht mehr in Tiflis waren, erkennen das Straßenbild nicht wieder. Georgische Politiker, die 2011 fast allmächtig schienen, sitzen 2013 in Untersuchungshaft." Das lässt sich auf fast alle Regionen im Kaukasus übertragen, mit unterschiedlichsten Auswirkungen: Auch das Straßenbild von Baku, der aserbaidschanischen Hauptstadt, verändert sich rasant – aber auch wie in Georgien nicht immer zum Besten.

Architektonisch passt sich Baku immer an Dubai und Riad an, sowjetische Hochhäuser werden mit glänzenden modernistischen Fassaden ummantelt, das marode Innere wird jedoch nicht restauriert, sondern verfällt. Aserbaidschanische Neubauten sind megaloman. Man kennt die drei 190 Meter hohen Hochhäuser, die über der Küste thronen und an Flammen erinnern sollen; die für den ESC erbaute Crystal Hall, die mehr als 23.000 Zuschauern Platz bieten könnte (wenn es nur einen Anlass gäbe), oder die angeblich weltgrößte Nationalflagge vor der Crystal Hall – 70 Meter breit, 35 Meter lang, angebracht an einen 162 Meter hohen Flaggenmast. Gefeiert wird nur bedingt die Glorie des Landes, es geht um die Ehre der Machthaber, die das Land als persönliches Eigentum betrachten.

Das Regime der Autokraten regiert sogar bis in die Kunstproduktion hinein. Auch zieht sie nur selten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich, und wenn, dann meist über einen Skandal, wie bei der 54. Kunstbiennale von Venedig, als die Skulpturen der Künstlerin Aidan Salachowa auf Anweisung des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew entfernt werden mussten. Schon Hejdar Alijew war zu Zeiten der UdSSR Erster Sekretär des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Aserbaidschan gewesen und später Vollmitglied der KPdSU in Moskau, 1993 wurde er Präsident des unabhängigen Aserbaidschans; nach seinem Tod übernahm sein Sohn Ilham den Posten. 

Das Alijew-Regime hat sich auch in das Stadtbild eingeschrieben. Der Unterschied zur sowjetischen Polit-Ikonografie ist nicht sonderlich groß, die Gesichter der Alijew-Männer sind überall, ganz und gar im orwellschen Sinn. Ihre überdimensionalen Porträts – Vater und Sohn in verschiedensten Versionen – gehören zum Stadtbild dazu, genau wie die nach ihnen benannten Straßen und Gebäude: Da gibt es den Hejdar-Alijew International Airport, das von der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid entworfene schneeweiße Hejdar-Alijew-Kulturzentrum, den Hejdar-Alijew-Park und nicht zuletzt das riesige Grab am Ehrenfriedhof. Jede aserbaidschanische Stadt hat mindestens eine Statue von Hejdar Alijew, auch im Ausland sind sie keine Seltenheit – etwas in Kiew, Bukarest, Belgrad und zwischenzeitlich sogar Mexiko City.

Alles in allem zeichnet Wackwitz' Kaukasus-Buch vor allem von Georgien ein hoffnungsvolles Porträt. Für die anderen Staaten der Region scheint der Weg noch etwas weiter.

Olga Grjasnowa wurde 1984 in einer jüdischen Familie in Baku geboren. Seit 1996 lebt sie in Deutschland. 2012 erschien ihr Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" (Hanser).

Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. S. Fischer, Frankfurt. 256 S., 19,99 €.

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