Tuesday, August 07, 2007

REPORTAGE (6):

Schattenseiten und Lichtblicke
Text von Patricia Scherer
Fotos von Keti Iashvili und
Patricia Scherer

Ich habe heute einen Jungen getroffen der ein Haus hat, aber keine Eltern. Ich habe ein Mädchen kennen gelernt, dass mit zwölf Jahren zwangsverheiratet wurde und mit 14 einen Sohn bekommen hat, den es hasst. Ich habe einem kleinen Jungen in die Augen gesehen, dessen Blick zu ernst war für sein zartes Windelalter. Ich wurde lange betrachtet von einer 16-Jährigen, die zusehen musste, wie ihre Mutter umgebracht wurde. Und ich habe mit einem 6-jährigen gegessen, der aus dem Fenster fiel und nun im Rollstuhl sitzt. An dieser Stelle könnte ich weitere hunderte Geschichten erzählen - jede einzelne Schreckgespenst, jede einzelne Herzensbrecher, jede einzelne unbarmherzige Realität - die Geschichten der Straßenkinder in Tbilisi und die Geschichten der Waisen im Kinderheim von Gremi.

Eigentlich fing der Tag sonnig, aufgeregt und fröhlich an. Keti, die in einem hier einmaligen Projekt für Straßenkinder als Sozialarbeiterin arbeitet, und ich machen uns gemeinsam auf den Weg nach Gremi. Begleitet werden wir von zwei Jungen an der Schwelle des Erwachsenwerdens, die in Tbilissi als Straßenkinder aufwuchsen und nun schon eine Weile im Heim leben. Beide lieben Kacheti, die Weinregion Georgiens. Der eine, weil es seine Heimat ist und weil dort sein Elternhaus steht, wenn auch ohne Eltern. Der andere, weil er hier als Hirte bessere Zeiten erlebt hat. Von ihren Jahren auf der Straße zeugen die vielen Narben auf den Armen - Schnitte die sie sich selbst zugefügt haben und gelegentlich noch zufügen. Atschiko ist 20. Man sieht ihm an, dass er Schalk und Charme hat. Unter Alkoholeinfluss ist er kaum kontrollierbar: dann nimmt er eine Glasscherbe und schlitzt bis es blutet. Der Schorf auf manchen Wunden ist noch frisch. Zima ist fleißig und hilfsbereit, auch wenn sein Gesichtsausdruck verrät, dass er zu lange giftigen Kleber geschnüffelt hat. Er ist klein und schmächtig, sein Körper wirkt als hätte er nicht genug Kraft gehabt um groß und stark zu werden. Wir fahren mit der Marschrutka aufs Land. Der Fahrer, ein stämmiger Mann mit einem goldbezahnten Lächeln, fragt mich neugierig aus. Obwohl ich ihn kaum verstehen kann, weil er einen vernuschelten Dialekt spricht und Keti übersetzen muss, antworte ich ihm brav in kurzen Sätzen auf Georgisch. Die Passagiere des Minibusses lachen fröhlich über mein Kauderwelsch, es ist heiß und stickig, die hügelige Landschaft fliegt an uns vorbei, wir hören georgische Popmusik auf Kassette, während wir unserem Ziel immer näher kommen. Die Straße nach Kacheti ist seit meinem letzten Besuch hervorragend ausgebaut worden, Schlaglöcher gibt es kaum noch, die Fahrt ist trotz der stickigen Luft im Minibus fast angenehm.


In Telawi suchen wir uns ein Taxi nach Gremi. Ganz am Ende des Dorfes, bei den Ausläufern eines holprigen Weges befindet sich das so genannte Steinhaus, das Kinderheim von Gremi. Als wir aussteigen, macht der Taxifahrer Zima ein Angebot: er soll für ihn als Hirte arbeiten gegen Kost und Logie und ein paar Lari Gehalt. Zima handelt zurückhaltend. Erst einmal möchte er sich einen Eindruck von dem verschaffen, was ihn hier erwartet. Wir treten durch das weiße Gatter auf das weitläufige Gelände rund um das Steinhaus.

Unter einem Baum sitzen Kinder und Jugendliche im Schatten, träge, beinahe leblos. Einigen von ihnen sieht man an, dass sie nicht ganz gesund sind, denn im Kinderheim von Gremi leben viele behinderte Kinder und auch Erwachsene. Georgien hat woanders kaum einen Ort für sie. Wir platzen mitten in einen Streit. Die Schweizerin Susanna arbeitet seit über zehn Jahren jeden Sommer in Gremi. Sie kommt gerade mit einer Gruppe zurück vom schwarzen Meer und ist wütend und verletzt, weil eine Kollegin sich gegen Sie gestellt hat. Sie würde die Auseinandersetzung gerne bereinigen, doch die Kollegin ist nach Tbilissi gefahren ohne ein Wort zu sagen. Susanna ist müde von der Fahrt, die Diskussion kostet sie Kraft. Unser Besuch kommt in diesem Moment unerwartet. Ein behinderter junger Mann begrüßt uns mit einem breiten Grinsen. Vor dem Körper hält er verkrampft seine Arme und Hände, er singt eine Art Lied und wiegt sich dabei hin und her. Unsere Straßenkinder sind distanziert und ein bisschen ängstlich. Der Umgang mit Behinderten ist neu und ungewohnt für sie. Behinderte haben in Georgien keinen guten Stand, sie werden als Strafe Gottes betrachtet. Ihre Familien schämen sich häufig für sie, zur Schule dürfen sie nicht gehen, auf der Straße sieht man sie nicht. Sie werden gehalten, hinter verschlossen Türen.

Susanna rafft sie sich auf und zeigt uns und einer gerade angekommenen Volontärin aus Tschechien das Gelände. Obwohl das Kinderheim von Gremi ein konstantes Provisorium ist, gibt es eine Schreinerei und eine kleine Ziegelei. Hier arbeiten einige der Bewohner, die längst aus ihren Kinderschuhen gewachsen sind, und das Heim trotzdem nie verlassen werden. Sauri, zum Beispiel. Der etwa Dreißigjährige kann kaum bis Zehn zählen, doch mit seinen Händen ist er geschickt. Die bearbeiteten Hölzer und Ziegel werden für die kontinuierlichen Baumaßnahmen am Kinderheim verwendet oder verkauft. Wir sehen uns die Kühe an, die rund um das Haus grasen und den neu gebohrten Brunnen. Das Wasser dringt aus einem schwarzen Plastikschlauch an die Oberfläche. Es ist kühl und frisch. Auf der Rückseite des Hauses angekommen, ist Susanna froh, dass sie in ihrer Muttersprache erzählen kann, was ihr in Batumi widerfahren ist. Tränen der Wut und der Übermüdung stehen ihr in den Augen. Sie hat so viel Kraft hier in Gremi gelassen und doch hat sie nicht das Gefühl, das alle Mitarbeiter gemeinsam an einem Strang ziehen. Die Dinge verändern sich, eine neue Generation soll die Leitung des Heims übernehmen. Susanna füllt sich an den Rand gedrängt, über 30 Jahre Erfahrung als Heilpädagogin und zehn freiwillige Sommer in Gremi zählen nichts mehr. Die neue Generation hat noch nicht mal eine pädagogische Ausbildung. Worte wie humanistische Pädagogik, Didaktik, Anthroposophie oder interaktives Lernen sind hier fremd. Es geht darum, die Bewohner des Heims unter Kontrolle zu halten. So herrscht ein Gemisch aus kindlicher Anarchie und undurchschaubaren Spielen von Erwachsenen.

Die Schweizerin Susanna arbeitet seit über zehn Jahren jeden Sommer in Gremi.

Susanna hat die Strasse hinauf ein Feld mit Bohnen, Zucchini, Mais und anderem Gemüse bepflanzt. Die Trockenheit des Sommers hinterlässt während ihrer Abwesenheit Spuren. Die Beete lechzen nach Wasser. Trotzdem kann sie drei riesige Sommerkürbisse ernten, jeder wiegt mindestens zwei Kilo. Ein weiteres Feld wird von den Arbeitern bestellt. Hier wächst und gedeiht alles prächtig. Am Hang unterhalb des Areals gibt es noch sieben Hektar Wein. Wir werden zum Mittagessen gerufen. Gegessen wird in der geräumigen Küche, die allerdings viel zu klein ist für alle Bewohner des Kinderheims. Wir nehmen die freigewordenen Plätze ein und kosten Bohnensuppe, frischen Salat und Pflaumen. Ein weitere Volontär, ein Student aus Brighton in England, und die Pragerin lernen ihre ersten georgischen Worte während des Mittagessens. Kovzi - Löffel, Tepschi - Teller, Tschika - Glas, Dana - Messer. Drei Wochen wollen sie hier bleiben und mithelfen. Ich frage mich, was ihre Empfindungen vom Kinderheim in Gremi sind, doch beide sind noch überwältigt von der Reise und den vielen neuen Eindrücken. John - der Engländer - ist schon drei Tage hier. Er möchte lieber mich fragen, was ich über Georgien weiß. Sein Freund Chand, der ihn nach Gremi begleitet hat, wurde gleich nach seiner Ankunft in Tbilisi von einem streunenden Hund gebissen und muss nun mehrere Tollwut-Impfungen über sich ergehen lassen. Als auch er sich beim Kaffee zu uns gesellt, sitzen Keti und ich vor zwei großen Augenpaaren und sollen alle offenen Fragen über alles beantworten, wie uns scheint. Unsere Antworten scheinen die beiden Studenten zu überraschen. Gerade Keti ist für georgische Verhältnisse schonungslos, sie sagt offen was sie denkt über ihr Land. Für mich ist das eine wohltuende Offenbarung. Keti denkt, Keti spricht aus was in ihr vorgeht und sie ist aktiv. Sie klagt nicht nur, sie will verändern. In Deutschland studiert sie berufsbegleitend Sozialpädagogik, doch in Georgien übt sie im Strassenkinderheim ihren Beruf aus. Sie pendelt seit über einem Jahr jeden Monat hin und her. Damit ist sie für mich ein bisher einzigartiges georgisches Phänomen. Kein Schönreden, kein Schimpfen auf den Staat, keine Ausreden. Sie fängt ihre Sätze mit "wir" an. Wo Schatten ist, ist auch Licht.

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Teil II über das Kinderheim von Gremi - bald auf http://georgien.blogspot.com/

Teil 7: Wo Schatten ist, ist auch Licht?

Teil 5: Blicke über den Treppenabsatz,oder: Rückkehr von Vardzia

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Patricia Scherer
freie Journalistin
vom 15. Juli bis 30. September 2007
Barnovis Kutscha 39
0160 Tbilissi, Georgien
Tel. +995-32-982966
Mobil +995-95-764296
Mailto: patricia@patricia-scherer.de
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