Über Armenien, das vor 20 Jahren unabhängig wurde, scheint die Zeit hinweggegangen zu sein: Ein Land versunken im Dornröschenschlaf – und kein Prinz, der es wachküsst.
Autor: Alan Posener 21.09.2011 +++ welt.de/reise
Das Land verwirrt. Was ist das nun, Orient oder Okzident, noch Europa oder schon Asien? Der älteste christliche Staat der Erde liegt hinter der Türkei, wo die Völker seit Jahrtausenden aufeinanderschlagen: Griechen, Römer, Perser, Skythen, Mongolen, Türken, Russen. Die Imperien der Eroberer, von Alexander bis Stalin, sind untergegangen, Armenien ist geblieben.
Wie die Juden wurden die Armenier aber zu einem Diaspora-Volk, zusammengehalten durch eine besondere Religion, eine besondere Sprache, geschrieben in einer besonderen Schrift, durch die fast mythische Beziehung zu einer Urheimat – und im 20. Jahrhundert durch die Erinnerung an einen Völkermord, bei dem die Nachbarn von einst zu Verfolgern wurden und Gemeinden mit einer zweitausendjährigen Geschichte ausgelöscht wurden.
Man kommt, um sich verwirren zu lassen
Man besucht Armenien nicht, um Badeurlaub zu machen, denn das Land hat keine Küste. Man besucht Armenien nicht, um exotische Bräuche zu erleben oder atemberaubende Ruinen zu besichtigen, denn die Armenier sind ein bisschen wie wir und ein bisschen – was sie nicht gern hören – wie die Türken von nebenan, und ihr archäologischer Schatz besteht aus vielen Klosterkirchen, die oft in einem erbärmlichen Zustand sind.
Man kann zwar in den Bergen, Steppen und Wäldern Armeniens herrlich wandern, und wem nach Selbstmord zumute ist, der kann hier auch Fahrrad oder Motorrad fahren; aber all das lässt sich auch anderswo machen. Nach Armenien kommt man eben, um sich verwirren zu lassen.
Armenien war immer exzentrisch, befand sich immer an der Peripherie der großen Reiche, zuletzt der Sowjetunion, die ihre materiellen Spuren hinterlassen hat in Gestalt deprimierender Industriebrachen, der dampfenden Kühltürme des mitten in einem Erdbebengebiet erbauten Atomkraftwerks Metsamor, halb fertiger Plattenbausiedlungen, riesiger Verwaltungsgebäude im stalinistischen Stil und einer monströsen Statue der "Mutter Armenien“, die mit erhobenem Schwert auf die Hauptstadt Eriwan herabblickt.
Nicht zufällig entstanden in Armenien die Witze um Radio Eriwan, mit denen hinterlistig die imperiale Ordnung infrage gestellt wurde. "Frage an Radio Eriwan: Kann es in Kanada auch den Sozialismus geben? Antwort: Im Prinzip ja, aber wer liefert uns dann den Weizen?“
Am 21. September feiert die Republik den 20. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Das wird ein großes Fest. Aber trotzdem und bis heute steht Armenien im Abseits: ein Land, das – wie mir ein Diplomat versicherte – als christlicher Staat nach Westen blickt und langfristig in die Europäische Union strebt, dessen Nationalhelden der französisch-armenische Chansonnier Charles Aznavour und der amerikanisch-armenische Multimilliardär Kirk Kerkorian sind, dessen bester Freund in der Region aber der Iran ist.
Und das, obwohl Armenien mit seinem islamischen Nachbarn Aserbaidschan einen Krieg geführt hat und mit seinem islamischen Nachbarn Türkei in Dauerspannung lebt. Für den Iran ist aber Armenien als Stromlieferant wichtig, für Armenien wiederum ist der Iran das Tor zum Meer.
Iraner kommen wegen der schönen Mädchen
Geopolitik ist wichtiger als der "Kampf der Kulturen“. Zu hohen Festtagen der islamischen Republik kommen Hunderttausende Iraner nach Eriwan, und das ganz bestimmt nicht der schönen iranischen Moschee wegen, die an die Zeit erinnert, da Armenien von den Persern besetzt war, sondern wegen der schönen armenischen Mädchen, die abends beim Wasserballett auf dem Republikplatz flanieren und – wie ein deutscher Reiseführer missbilligend bemerkt – "durch besonders auffallende, moderne und aufreizende Kleidung und vorgetäuscht freizügiges Verhalten“ auffallen, wegen des hier frei erhältlichen Alkohols und vielleicht auch wegen "Las Vegas“, der Casino-Meile entlang der Straße zum Flughafen, die allerdings in erster Linie für russische Neureiche da ist.
Zunehmender Beliebtheit unter den Armeniern wiederum erfreuen sich die Badeorte der türkischen Riviera, obwohl der armenische Staat es nicht gern sieht, wenn seine Bürger Urlaub im Land des Erzfeinds machen, der bis heute seine Verantwortung für den Völkermord leugnet.
Wie ein Treppenwitz der Geschichte wirkt es, dass ausgerechnet der heilige Berg der Armenier, der Ararat, hinter der Grenze liegt, auf türkischem Territorium. Die Legende von Noah, der nach der Sintflut mit der Arche auf dem Ararat landete und von hier die Neubesiedlung der Erde unternahm, weist auf die Bedeutung der von Archäologen lange vernachlässigten Region rund um das Schwarze Meer für die Entwicklung der Kultur.
"Durchstreif die Welt – es gibt keinen weißen Gipfel dem des Ararat gleich. Den Gipfel meines Ararat liebe ich – wie den Weg zum unerreichbaren Ruhm.“ So heißt es bei Jeghische Tscharenz. Der Nationaldichter Armeniens starb 1937 in einem Gefängnis des stalinschen Geheimdienstes. Heute fahren Busladungen Touristen zum "Tscharenz-Bogen“ unweit der Hauptstadt, lauschen den vom Reiseführer vorgetragenen Zeilen aus "Mein Armenien“ und blicken über die weite, sonnige Ebene hinüber zum unerreichbaren, schneebedeckten Berg. Ein Bild, das einem nicht aus dem Kopf geht.
Von dort ist es nicht weit zum Sonnentempel von Garni auf der Hochebene oberhalb der Schlucht des Azat. Der Bau im hellenistischen Stil würde etwa an der türkischen Westküste vielleicht nicht weiter auffallen; anderthalbtausend Kilometer ostwärts jedoch berührt er als eines der wenigen übrig gebliebenen Zeugnisse des Vordringens heiterer, mediterraner Kultur bis an die Grenzen des Partherreichs. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert, als der Tempel gebaut wurde, waren die armenischen Könige Klienten Roms.
Trutzburgen gegen Araber, Perser und Osmanen
Im Jahre 301 bekehrte Grigor der Erleuchter König Trdat III. zum Christentum. Gründlich wurden die Spuren des früheren Glaubens getilgt. So entstand denn schon im vierten Jahrhundert auch am Talende der Azat-Schlucht, dort, wo früher Quellengottheiten verehrt wurden, das Felsenkloster Geghart. Der gegenwärtige Bau geht in Teilen auf das 12. und 13. Jahrhundert zurück.
Wie alle armenischen Kirchen und Klöster – von der nur sechs mal sieben Meter messenden Kirche Karmravor an den Hängen des Ararat-Schwesterbergs Aragat bis zur prunkvoll ausgestatteten Kathedrale von Etschmiadsin in der Ararat-Ebene – scheint sich Geghart von der Welt trutzig zurückzuziehen, nicht, wie der Sonnentempel von Garni, sich ihr zu öffnen.
Und tatsächlich sind diese Gebäude oft genug auch Trutzburgen gewesen gegen die Araber, Perser, Mongolen, Osmanen. Nicht im Sinne des bewaffneten Widerstands; hier aber wurden die kostbarsten Schätze des Landes verborgen: die in der armenischen Schrift geschriebenen heiligen Bücher.
Heute allerdings sucht man vergeblich in den oft feuchten, dem Himmel und den Schwalben offenen Gemäuern nach alten Handschriften. Sie sind im Matenadaran versammelt, der Handschriftensammlung der Hauptstadt. Bis heute hat sich das vom Mönch Mesrop Maschtots im fünften Jahrhundert entwickelte Alphabet nicht verändert, die Sprache allerdings schon. So sagt man, die Armenier können ihre alten Handschriften zwar lesen, aber nicht verstehen, während ausländische Forscher, die sie verstehen könnten, die Dokumente leider nicht lesen können.
Das Bonmot verrät einiges über eine Kultur, die einerseits in Eriwan rücksichtslos malerische alte Stadtviertel niederreißt, um protzige Büro- und Wohntürme für die Neureichen, Shopping- und Flaniermeilen für die Jeunesse dorée hochzuziehen, andererseits Traditionen konserviert, die älter sind als alles, was wir in Europa kennen. So beruht die Eigenständigkeit der armenischen Kirche auf ihrer Ablehnung der Ergebnisse des Konzils von Chalzedon (heute Kaldeköy in Istanbul), das im Jahre 451 die "Zweinaturenlehre“ Christi festlegte, an der Orthodoxe, Katholiken und Protestanten bis heute festhalten.
Eine Blaue Moschee sucht man vergebens
Auch architektonisch kennt Armenien nichts, was dem radikalen Epochenwechsel entspricht, den wir im europäischen Kirchenbau verfolgen können: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und so weiter. Die meisten armenischen Kirchen sind Variationen eines Grundtyps: kreuzförmiger Grundriss, darüber eine steinerne Kuppel, und in der Ostapsis die bühnenförmig erhobene "Bema“, wo die Priester den Gottesdienst zelebrieren.
Der Reichtum der armenischen Architektur besteht in der oft raffinierten Ausgestaltung und Ergänzung dieser Kreuzkuppelform, etwa in dem vom Baumeister Momik errichteten, bezaubernden Kloster Norawank an der Grenze zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan im Südwesten des Landes oder in den Klöstern Sanahin und Haghpat im Nordwesten an der Grenze zu Georgien. Wer große Effekte braucht, wird freilich enttäuscht: Ein Straßburger Münster, eine Blaue Moschee sucht man vergebens.
Hier stellt sich weder eine ecclesia triumphans noch ein selbstbewusstes städtisches Bürgertum zur Schau. Hier ist ein Land, in dem die Zeit stillzustehen scheint – oder über das die Zeiten hinweggegangen sind. Davon zeugen sowohl die alte Karawanserei am 2400 Meter hohen, kargen Selim-Pass im Süden, über den früher die Südroute der Seidenstraße führte, als auch das riesige, stillgelegte Kupferwerk von Alaverdi im Norden oder schließlich die heruntergekommene – im Jargon der Touristenbranche "romantische“ – Kurstadt Dilidschan in den tropfenden Wäldern der "armenischen Schweiz“.
Früher fuhren prominente sowjetische Künstler und Komponisten zur Sommerfrische hierher. Nun versinkt der Ort in einen Dornröschenschlaf, und da ist kein Prinz zum Wachküssen, nirgends. Auch der wunderbar blaue Sewansee scheint von besseren Tagen zu träumen; die Hotels am Ufer verströmen den diskreten, mottenkugelhaften Charme des Sozialismus.
Wer es laut und eindeutig mag, sollte Armenien meiden. Hier kann sich jederzeit, wenn der Touristenbus abgezogen ist, eine große Stille auf das Land senken, in der man mit seiner Verwirrung allein ist. Was aber ein großer Gewinn sein kann.
Die Reise wurde unterstützt von Studiosus.
Wednesday, September 28, 2011
Subscribe to:
Post Comments (Atom)
No comments:
Post a Comment