Monday, December 17, 2012

LITERATUR UND KUNST: Mirza Fatali Achundov - Ein kaukasischer Aufklärer . Von Eva-Maria Brandstädter und Rasim Mirzayev (nzz.ch)

Eine steinerne Erinnerung an Mirza Fatali Achundov, aufgenommen 1961 in Baku.
Mirza Fatali Achundov, 1961 in Baku

(nzz.chDer aserbeidschanische Aufklärer, Islamkritiker, Alphabet-Reformer, Philosoph und Literat Mirza Fatali Achundov (1812–1878) ist beinahe in Vergessenheit geraten. Er hat eine bedeutende Rolle in der Reformdiskussion unter muslimischen Gelehrten im 19. Jahrhundert gespielt.

Der eine oder andere mag einmal auf die 1851 veröffentlichten «Lieder des Mirza-Schaffy» des Kaukasusreisenden Friedrich Bodenstedt gestossen sein, einen der grössten deutschsprachigen Bucherfolge (später als Pseudoübersetzung enttarnt). Doch nicht einmal Bodenstedt konnte wissen, dass sich hinter seinem Protagonisten der Lehrer eines bedeutenden aserbeidschanischen Schriftstellers und Aufklärers verbarg.

Dolmetscher im Dienst des Zaren

Es war eine rückständige Welt im muslimischen Teil Transkaukasiens, in die Mirza Fatali Achundov am 12. Juli 1812 geboren wurde. Seine Mutter war die Nichte eines Gelehrten aus Scheki, der alten Handelsstadt an der Seidenstrasse, sein Vater ein iranischer Beamter, der Persien hatte verlassen müssen und als Kaufmann sein Auskommen fand. Nach der religiösen Ausbildung sollte der Sohn ein schiitischer Geistlicher werden. Doch dann machte er die Bekanntschaft des Dichters Mirza Shafi Vazeh in Gandscha, der ihn in persischer Kalligrafie unterrichtete. «Mirza Fatali, was willst du werden?», wurde der junge Achundov von Vazeh gefragt, und er antwortete: «Mullah.» «Also ein Heuchler und Scharlatan», entgegnete Vazeh. «Verschwende dein Leben nicht unter diesen abscheulichen Menschen, such dir besser einen anderen Beruf.» Die darauf durch Vazeh gewährten Einblicke in die Welt der islamischen Kleriker bewirkten einen vollkommenen Richtungswechsel in Achundovs Berufsabsichten.

Achundov zog 1834 nach Tiflis, lernte Russisch und trat eine Stelle im Dienste des Zaren an – als Dolmetscher für orientalische Sprachen in der Kanzlei des Barons Rosen, des russischen Statthalters in Tiflis. Die Zeiten waren damals wie heute unruhig im Kaukasus, denn im Norden tobte immer noch der grosse kaukasische Krieg, in dessen Verlauf das Russische Reich die muslimischen Bergvölker zu unterwerfen suchte. Obwohl Achundov seinen Dienst äusserst gewissenhaft versah, wurde er dennoch von Zeit zu Zeit denunziert. Gegenüber «Orientalen», mochten sie noch so gut arbeiten und sich stets loyal verhalten, konnten die russischen Vorgesetzten ihr tiefes Misstrauen nie ganz überwinden. Doch behielt er die Anstellung über Jahrzehnte – wobei er sich unermüdlich weiterbildete, vor allem in der westeuropäischen Kultur, Literatur und Philosophie.

Nebenbei schrieb er und setzte Meilensteine: die ersten Theaterstücke des islamischen Orients und die erste Prosa nach europäischer Art. Tiflis, die aufblühende Hauptstadt des Gouvernements Georgien, bildete dazu mit Museen, Theater und Bibliotheken ein ideales Umfeld. In den Salons begegneten sich neben Russen und Armeniern, die den Hauptanteil der Bevölkerung ausmachten, Georgier, europäische Händler und Reisende, Christen, Juden und Muslime.

Der Dichter Yakov Polonski beschreibt Achundov als einen «sympathischen, gebildeten, unbestreitbar klugen und interessanten Gesprächspartner», der in der russischen Gesellschaft gern empfangen wurde. Achundov pflegte enge Kontakte zu den verbannten – weil die Zarenherrschaft ablehnenden – Dekabristen wie dem Schriftsteller Alexander Bestuschew-Marlinski und dem Dichter Alexander Odojewski, aber auch zu georgischen und armenischen Schriftstellern oder seinem Landsmann, dem fortschrittlichen Gelehrten Abbasgulu Bakichanov.

Ein «tatarischer Molière»

Achundov, dessen Ermahnungen und Reformvorschläge für alle Lebensbereiche bei seinen muslimischen Brüdern nur wenig Gehör fanden, gab das 1845 in Tiflis eröffnete Theater neuen Auftrieb. Möglichkeiten, ein kritisches Bewusstsein zu wecken, sieht er vor allem im Medium des Theaters und in demjenigen des Romans gegeben. Wenige Jahre später legt er die ersten seiner sechs Komödien vor, und das deutsche «Magazin für die Literatur des Auslandes» notiert 1852 in einer ausführlichen Rezension überrascht das Auftauchen eines «tatarischen Molière».

Achundov nimmt sich der alltäglichen Probleme seines Volkes an – in der Sprache dieses Volkes. Seine satirischen Spitzen richten sich gegen tyrannische Despoten, bigotte Mullahs, unbelehrbare Frauen, betrogene Einfaltspinsel, gegen Aberglauben und raffgierige Scharlatane – immer im Dienste des Fortschritts und der Befreiung des Einzelnen, nicht zuletzt der Frauen, aus ihrer rechtlosen Existenz. Nachdem seine Komödien auch in der Türkei und in Iran erschienen sind, wird Achundov in seiner Korrespondenz nicht müde, auf den Wert des Theaters für die «Aufdeckung der Laster einer Gesellschaft» hinzuweisen.

Ein Herzensanliegen ist ihm die Reformierung des arabischen Alphabets. Er will eine lateinische Schrift, die den sprachlichen Anforderungen der Turksprachen gerecht wird. Damit, so hofft er, werde die hohe Analphabetenrate vermindert und der Bevölkerung ein einfacherer Zugang zu europäischer Wissenschaft, Literatur und Philosophie eröffnet. Beinahe zwanzig Jahre kämpft er ebenso unverdrossen wie vergeblich darum; zuletzt muss er auf die Realisierung seiner Ideen durch künftige Generationen setzen: «Dann wäre mein Ziel erreicht, und ich kann ganz beruhigt sein, obwohl ich diese erfreuliche Zeit nicht mehr erleben werde.» Erst rund sechzig Jahre später wurde das lateinische Alphabet in Aserbeidschan eingeführt, aber noch bevor die Türkei dasselbe tat.

«Die Menschen befinden sich in einer Lage», schrieb er, «die nur beweint werden kann.» Antrieb für seinen beharrlichen Kampf gab ihm eine tiefe Liebe zu seinem Volk: «Wenn auch die ganze Welt gegen mich sein wird, werde ich keinesfalls meine Ideen aufgeben, sondern meine Arbeit verzehnfachen.»

Die Kritik des Aufklärers Achundov richtete sich gegen Rückständigkeit, grausame Willkürherrschaft, religiösen Fanatismus, «barbarische» Sitten und die Ahnungslosigkeit der Bevölkerung. Die Gedanken, die der englische Philosoph John Stuart Mill zur Freiheit entwickelt hatte, verwandelte Achundov sich an, um für die muslimische Gesellschaft persönliche Freiheitsrechte einschliesslich der freien Meinungsäusserung zu fordern, ohne die der Aufbau eines modernen Staatswesens und einer prosperierenden Wirtschaft unmöglich sei. Die Menschheit, sowohl in Asien als auch in Europa, müsse sich, so Achundov, völlig und für immer aus der religiösen Finsternis befreien und in allen Taten und Gedanken einzig von der Vernunft leiten lassen.

Den Hauptgrund dafür, dass die Europäer ihre Freiheitsrechte erlangen konnten, sah er in der Befreiung des Christentums von der Herrschaft der Kirche – und in der Aufklärung. Als überzeugter Atheist schrieb er wiederholt, dass Vernunft und Religion nicht vereinbar seien. Gleichwohl war er sich bewusst, dass es riskant und zwecklos gewesen wäre, den Atheismus zu propagieren, und setzte sich daher für eine Reformierung des Islams ein, die zugleich eine Europäisierung einschloss. Dass die westliche Zivilisation sein Ideal war, wurde ihm von seinen Kritikern vorgeworfen. Auch seine um Reformen bemühten Nachfolger unterschieden sich in diesem Punkt von Achundov und setzten die Akzente anders.

So befürwortete der Begründer des Pantürkismus und Hauptideologe der ersten aserbeidschanischen Republik (1918–1920), Ali Bey Hussein Zade, als Bewunderer Martin Luthers zwar einen reformierten Islam, betrachtete ihn jedoch gleichwohl als wichtigen Bestandteil einer nationalen Identität. Unter Europäisierung verstand er eher die Übernahme der Errungenschaften des technischen Fortschritts als die der geistig-moralischen Werte. «Wenn wir nicht rechtzeitig die modernen, zivilisatorischen Errungenschaften erlangen werden, die von europäischen Köpfen erfunden wurden, dann werden wir sicher alle bald in ihren Mägen landen» – so hellsichtig-kraftvoll formulierte er seine Warnungen.

Achundov dagegen, im persönlichen Umgang zwar niemals die religiösen Gefühle seines Gegenübers verletzend, kannte in seiner harschen Kritik des Islams kein Pardon und überforderte damit seine Zeitgenossen völlig. Etwa als er den Propheten mit Blick auf dessen Heirat Zainabs, die vordem die Frau seines Adoptivsohnes gewesen war, als Lüstling darstellte. Dass Mohammed dazu von Allah die Erlaubnis erhalten habe, gibt Achundov Anlass zu beissendem Spott: «. . . als habe Allah nichts Besseres zu tun, als sich ständig um die sexuellen Wünsche des Propheten zu kümmern!»

Wirkungsgeschichte

Viele seiner kritischen Schriften schrieb Achundov in der aserbeidschanischen Sprache Aseri und, um auch das iranische Publikum zu erreichen, in Persisch. Aserbeidschan betrachtete er als Teil des persisch-islamisch-türkischen Kulturraumes, in dem er auch seine eigene Identität verortete. Ein Beispiel sind die fiktiven «Briefe des indischen Prinzen Kemal al-Dowleh» aus dem Jahre 1865. Um sich nicht selbst zu gefährden, tritt Achundov nur als vorgeblicher Übersetzer auf. Die darin propagierte materialistische Weltsicht und geradezu feindselige Islamkritik scheinen ihm nach eigener Einschätzung effektiver als eine ganze Armee, um «die Fundamente des Islams zu erschüttern». Das Vorhaben, die Briefe mithilfe des fortschrittlichen persischen Botschafters Yusuf Khan Mostashar al-Dowleh in Paris drucken und dann verbreiten zu lassen, wurde nie in die Tat umgesetzt.

Kurz darauf zog mit Achundovs Schrift «Kritika» die moderne Literaturkritik in Iran ein. Seinen gleichfalls literaturkritischen «Brief» an den Herausgeber einer iranischen Zeitung begann er mit der Feststellung, dass das Bild einer Moschee als Symbol der iranischen Nation unpassend sei, da es Moscheen in allen islamischen Ländern gebe. Von dem Adressaten wenig begeistert aufgenommen, konnte der Text gleichwohl ein Eigenleben entwickeln und seine Anhänger unter fortschrittlichen iranischen Literaten finden. Heute sind Achundovs Schriften in Iran verboten.

Nach Achundovs Tod am 27. Februar 1878 konnte die Familie drei Tage lang keinen Geistlichen finden, der bereit war, ihn nach islamischem Ritus zu beerdigen. Der Reisende wird zumindest in Aserbeidschan indes immer wieder auf Mirza Fatali Achundov treffen. Strassen, Denkmäler, Parks und vor allem die nach ihm benannte Staatsbibliothek in Baku erinnern an den grossen Sohn des Landes und lassen ahnen, dass er – neben Ölboom und anderem – seinen Anteil daran hat, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung säkular und westlich orientiert ist.

Dr. Rasim Mirzayev, geboren in Zakatala (Aserbeidschan), ist Orientalist, Journalist und Buchautor. Seit 2000 lebt und arbeitet er in Deutschland. Er hat über die Aufklärung in Aserbeidschan doktoriert und lehrt unter anderem an der Humboldt-Universität zu Berlin. Eva-Maria Brandstädter ist Journalistin mit Schwerpunkt Kaukasus, den sie oft bereist.

1 comment:

dndinfotainment p said...

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