Schriftsteller erlebte hautnah Unterschiede und Gemeinsamkeiten zweier Diktaturen
BERLIN - Wedding, Behmstraße. Der Betonklotz ist grau und schon recht betagt, die Wände im Flur sind kahl. Der Aufzug ist eng und altersschwach. Doch ohne zu mucken fährt er in den vierten Stock.
Dort öffnet ein zierlicher älterer Herr mit längeren weißen Haaren lächelnd die Tür. Die kleine Wohnung ist schlicht und zweckmäßig eingerichtet. Nur der alte Schrank mit den Glastüren fällt auf. Er steckt voller Fotos, voller Bücher, voller Erinnerungen.
Es sind Zeugnisse eines bewegten Lebens, auf das Giwi Margwelaschwili zurückblickt; ein Leben, das sich vorwiegend in Berlin und der georgischen Hauptstadt Tbilisi abspielte. Der Germanist und Schriftsteller erblickte 1927 an der Spree das Licht der Welt. Seine Eltern waren sechs Jahre zuvor aus Georgien nach Deutschland emigriert. Der Vater, ein Philosoph, war vor den Sowjets geflohen. „Die hatten 1921 das Land überrannt“, sagt er. Dabei hätten die Besatzer im Kaukasus nichts verloren: „Andere Menschen, andere Sitten, andere Kulturen.“
Im bürgerlichen Wilmersdorf im Westen Berlins wächst er auf, ausschließlich deutschsprachig. In der Güntzelstraße wohnt die Familie, am Hohenzollernplatz spielt er oft, zu manchen Schulfreunden hat er bis heute Kontakt. Sein Vater, der auf den römischen Namen Titus hörte, kümmert sich um die Belange georgischer Emigranten, er fungiert als kultureller Botschafter seines Landes.
Als die Nazis an die Macht kommen, ändert sich für Giwi wenig. Zum Glück wollen die Familien seiner Freunde von den braunen Machthabern herzlich wenig wissen. Die jungen Leute hören lieber Swing und Jazz statt Märsche oder blut- und bodentriefende Durchhalteparolen. „Das war uns alles viel zu ernst“, sagt er. Eine Einberufung als Kanonenfutter für einen längst verlorenen Krieg bleibt dem jungen Georgier erspart. Die Staatenlosigkeit schützt ihn davor.
Als die Rote Armee die Hauptstadt erobert, wird es ungemütlich. „Die machten regelrecht Jagd auf sowjetische Emigranten“, sagt er. So ist Giwi mehr als mulmig zumute, als die neuen Herren den Vater als Dolmetscher in ihr Hauptquartier holen. Zunächst pendelt Titus zwischen seiner Wohnung und seinem neuen Arbeitsplatz in Karlshorst hin und her. Als die Amerikaner im Herbst 1945 einrücken, bleibt er einfach im Westsektor.
Dann steht mit einem Mal ein alter Freund des Vaters vor der Tür. Der im Ostsektor lebende Georgier will Materialien für ein Buchprojekt sammeln, der Vater soll helfen. Ab und zu schickt Titus seinen Sohn mit Unterlagen zu ihm.
Eines Tages lädt besagter Freund den Vater per Telefon zu sich ein. Einen Wagen will er schicken, um den Vater abzuholen. Tatsächlich klingelt wenige Tage später ein Chauffeur an der Tür. Im Wagen sitzen weitere unscheinbare Männer, vermutlich Bekannte des Freundes.
Der Vater steigt ein und nimmt seinen Sohn mit. Kaum fährt das Auto los, merken die beiden, dass sie in der Falle sitzen. Möglicherweise arbeitete der Freund mit dem NKWD, wie der sowjetische Geheimdienst damals hieß, zusammen oder wurde von ihm benutzt. Man will den Vater in den Ostteil Berlins entführen. Die Männer im Auto sind Offiziere, die normale Mäntel über ihren Uniformen tragen. Die Fahrt geht durchs Brandenburger Tor ins sowjetische Hauptquartier.
Der Vater wird vom Stadtkommandanten verhört. Als er in die Zelle im Keller zurückkehrte, war er kreidebleich, erinnert sich der Sohn. „Kollaboration mit den Nazis“ lautet der Vorwurf. Am nächsten Morgen führen sie den Vater ab. Giwi wird ihn nie wieder sehen. Die Sowjets verschleppen Titus über Moskau nach Georgien, wo sie ihn erschießen.
Giwi bleibt noch einen Monat in Haft, dann kommt er ins sowjetische Speziallager des ehemaligen KZ Sachsenhausen. „Dort hingen wir rum und litten schrecklichen Hunger“, erinnert er sich. Gut, außer gelegentlichem Kohleschippen stehen keine schweren körperlichen Arbeiten an. Doch mit einem Teller Suppe am Tag kann man kaum überleben. Hinzu kommt die schreckliche Ungewissheit, ob und wann man jemals entlassen werden würde.
Im August 1947 holt ihn ein NKWD-Offizier ab und eskortiert ihn über Moskau nach Georgien. Der Offizier hatte kein Wort mit ihm gesprochen, doch Giwi ahnt, was ihm bevorsteht. Er soll repatriiert werden. Ab, zurück ins Land seiner Vorfahren. Zum Glück hat er Verwandte in Tbilisi, der Hauptstadt. Seine Tante nimmt ihn auf. „Die Familie war sehr nett“, sagt er. Er, der weder russisch noch georgisch konnte, lernt hier schnell beide Sprachen. Es geht ihm nicht schlecht. Er studiert Germanistik, arbeitet als Deutschlehrer und wird 1971 an das Philosophische Institut der Georgischen Akademie der Wissenschaften berufen.
Nach Stalins Tod kam das große Tauwetter, erinnert er sich. „Staatschef Nikita Chruschtschow war zwar dem Westen gegenüber borstig, aber Sowjetbürger fasste er mit Samthandschuhen an“, sagt Giwi. Plötzlich kamen Segnungen wie Kühlschränke, Fernseher oder Tonbandgeräte. Und eine gewisse Redefreiheit.
Giwi findet schnell Anschluss, es gibt viele Gleichgesinnte. „Die Menschen waren schon wegen der Verfolgungen unter Stalin gegen das Regime“, sagt er. Wie damals im dritten Reich hören die jungen Leute lieber Jazz statt Propaganda. Giwi: „Da stellte ich eine Parallele fest.“ Man feiert gerne, man genießt die georgische Küche, die vielen Weine und Salate, die leckere Putenkeule in Nusssauce. Giwi trifft die Schriftstellerin und Germanistin Naira Gelaschwili, mit der er von 1970 bis 1980 verheiratet ist.
Doch der Staat sitzt ihm auch hier im Nacken. Der Geheimdienst KGB will ihn bereits in den 1950er-Jahren anwerben. „Ich bin zu nervös, zu kränklich“, erwidert er den Schlapphüten. Kein Problem, es geht um den Innendienst, bescheiden ihm die Spione. Doch Giwi will kein Spitzel werden. Zur Strafe muss er das Studium zwei Jahre lang unterbrechen und im Büro arbeiten.
Später knüpfen Schriftsteller aus der DDR und der Bundesrepublik Kontakt zu ihm. Heinrich Böll besucht ihn 1967. Wenig später kommen Sarah Kirsch, Elke Erb und Adolf Endler. Als er als Dolmetscher das Georgische Staatstheater nach Ostberlin begleitet, schaut er, zum Missfallen der Stasi, bei Wolf Biermann vorbei und erhält für lange Zeit Reiseverbot. Mit dem Ostberliner Publizisten Ekkehard Maaß verbindet ihn seit 1983 eine enge Freundschaft, die bis heute hält. Er stand plötzlich vor der Tür, einfach so. Giwi, wegen seiner unerfreulichen Geheimdienst-Erfahrungen stets auf der Hut, vertraut ihm. „Der war in Ordnung, das sah ich sofort.“ Maaß hilft ihm bei der Rückkehr nach Berlin und der Herausgabe seiner literarischen Werke.
Seit 1993 wohnt Giwi wieder an der Spree. Am liebsten möchte er nach Wilmersdorf zurückkehren, dahin, wo er aufgewachsen ist: in die Güntzelstraße.
Von Fritz Hermann Köser)
Quelle: www.maerkischeallgemeine.de
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