Thursday, November 08, 2007

KOMMENTAR:

Anmerkungen zur aktuellen politischen Situation in Georgien
Von Patricia Scherer

Ehrlich gesagt, bin ich beeindruckt. Mir imponiert, dass die georgische Gesellschaft so viel Durchhaltevermögen an den Tag legt, wurde sie doch vor kurzem noch als passiv und resigniert beschrieben. Und mir imponiert, dass sie sich gegen Micheil Saakashvilis Autokratiebestrebungen stellt. Dass heißt noch lange nicht, dass sie für die Demokratie in ihrem hehren Sinne ist. Saakashvili hat Fehler gemacht: Er hat das Volk, das er regiert, unterschätzt. Als der ehemalige Verteidigungsminister Okruashvili nach seinen Anschuldigungen an den Präsidenten verhaftet wurde, ging es ums Prinzip. Um die Freiheit, und weniger um den nationalistisch, polemischen Okruashvili, der keineswegs von allen als Sympathieträger empfunden wird. Zur Freiheit gehört nun mal, dass man seine Meinung äussern darf. Ein Untersuchungsausschuss zu den Vorwürfen hätte die Gemüter vielleicht besänftigt. Stattdessen hat Saakashvili mit der Verhaftung von seinem ehemaligen Freund und Vertrauten das Feuer erst richtig angezündet.
Anstatt mit der Opposition zu verhandeln, zeigt sich Saakashvili weiterhin arrogant und großmännisch. Er geht gegen die Menschen in seinem Land mit Wasserwerfen und Tränengas vor. Er beschuldigt den Russen. Wie muss sich der kleine Mann auf der Straße vorkommen - der, der kürzlich seinen Stand auf dem Markt verloren hat und nun seine Familie kaum mehr ernähren kann, wenn er hört, er sei vom Russen manipuliert. Er fühlt im Herzen das Unrecht, dass ihm in seiner Heimat zu teil wird, und in diesem Moment ist der Russe weit weg. Abgesehen davon, dass der kleine Mann sich vielleicht mehr als gut an die Zeit der Sowjetherrschaft erinnern kann und diese ihm auch nicht gefallen hat. Unser Mischa ist mehr als anmassend, wenn er öffentlich verkündet sein Volk wäre infiziert durch den Feind im Norden. Die regierungsfernen Sender Imedi und Kavkasia TV zu schließen und den Ausnahmezustand auszurufen: auch das sind eher kontraporduktive Signale der Regierung.

"Wir sehen ausschließlich Männer auf der Straße"

Photo on November 7, 2007 by Alex Kedelashvili

Doch was ist das Ziel der Proteste und Demonstrationen: natürlich ein besseres Leben in Freiheit, und ohne Angst. Die zehn Oppositionsparteien fordern eine parlamentarische Republik, vorgezogene Wahlen und den sofortigen Rücktritt Saakashvilis. Doch ist das wirklich die Lösung? Es könnte wieder zu einem irregulären Machtwechsel kommen, wieder werden die Prozesse der Demokratie mit Füßen getreten, wieder wird das Wort "Demokratie" mißbraucht als Parole im Kampf gegen etwas. Gegen die Sowjetherrschaft, gegen Gamsachurdia, gegen Schewardnadse, gegen Saakashvili. Das für etwas sein, steht erneut im Hintergrund. Keine der oppositionellen Parteien hat bislang ein Programm veröffentlicht, das sich ernsthaft mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes auseinander setzt. Keine der Parteien bietet konstruktive Lösungen an. Was wird das Ende vom Lied sein: das vielleicht zehn und nicht nur ein profilneurotischer Kopf das Land regieren? Keine schönen Aussichten für die Georgier, die sicherlich verstanden haben, dass sie nicht unfrei seien möchten. Das Konzept pluralistischer Demokratie ist nicht eingeübt. Und bislang fehlt es an allen Ecken und Enden an politischer Bildung und Staatsbürgerkunde. Die internationalen Institutionen, wie die UN, die EU oder USAID hielten es nicht für nötig, diese Werte beim Volk zu fördern. Stattdessen haben sie sehenden Auges den Klientelismus und die Korruption in den Regierungseliten unterstützt - mit der Begründung, man müsse die Regierung stärken, die sich erfolgreich gegen Kriminalität und Korruption auf der Straße, bei der Polizei und in der Justiz bemühen würde. Ich bin nicht sicher, was schlimmer ist: dass man einem Polizisten zehn Lari in die Hand drücken muss, um weiterzufahren oder dass man regiert wird von einem selbstherrlichen und größenwahnsinnigen Beau, samt seiner opportunistischen Gefolgschaft. Hinter geschlossenen Türen hätte man dann in den letzten Monaten schon mal ein ernstes Wort mit der Regierung gesprochen, so wird mir aus internationalen Kreisen berichtet. Da stellt sich die Frage, ob die Internationalen nicht ganz gut im Sattel saßen in Georgien, dass in Relation zu anderen Transformationsstaaten Unmengen an Geldern aus dem Ausland erhält. Die Maden im Speck haben die Signale ignoriert, und sind einfach zur Tagesordnung ihrer Fünf-Jahres-Pläne übergegangen. Vielleicht rächt sich das jetzt.
Sicherlich, Saakashvili muss weg. Doch eine Änderung der Wahlgesetzgebung und eine gut vorbereitete Wahl im Herbst, die den Oppositionsparteien die Zeit gibt ernsthafte Programme zu entwickeln und nicht nur in Tbilisi, sondern auch auf dem Land kundzutun - das wäre besser für den kleinen Mann, der dann erstmals eine wohlüberlegte Entscheidung für etwas treffen könnte.


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Patricia Scherer
freie Journalistin
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