REPORTAGE:
Georgische Herbststürme
Zu den Hintergründen der politischen Zuspitzung in Georgien
von Walter Kaufmann
Heute, am 2. November, finden in der georgischen Hauptstadt Tbilisi zeitgleich zwei Großereignisse statt, die sehr deutlich die gegensätzlichen Entwicklungen Georgiens nach der international gefeierten "Rosenrevolution" zeigen.
Auf Einladung der georgischen Regierung und des German Marshall Fund versammeln sich ca. 200 Repräsentanten internationaler Organisationen, westlicher Regierungen, Thinktanks und der georgischen Regierungselite zum "Tbilisi Summit 2007", um unter dem Oberthema "Building Europe’s East" die wirtschaftlichen und politischen Reformerfolge Georgiens zu würdigen und für eine schnellere Heranführung des Landes an euroatlantische Strukturen (NATO, EU) zu werben.
Auf der Teilnehmerliste sind besonders viele Vertreter aus den baltischen und zentraleuropäischen EU-Staaten zu finden, die sich unlängst zu einer "Gruppe der Freunde Georgiens" zusammengeschlossen haben.
Auf dem Platz vor dem Parlament, dem "Epizentrum" aller innenpolitischen Konvulsionen der letzten zwanzig Jahre, werden zur gleichen Zeit Zehntausende gegen die Politik der durch die "Rosenrevolution" im November 2003 an die Macht gekommenen Regierung von Präsident Mikheil Saakaschwili demonstrieren. Darunter werden auch viele von denen sein, die im November 2003 auf der Straße mit dazu beigetragen haben, dass Altpräsident Eduard Schewardnadze das Feld räumen musste und Revolutionsheld "Mischa" in den Sattel gehoben wurde.
Wie kommt es, dass die junge prowestliche georgische Regierung, die sich die Umwandlung Georgiens von einem "failing state" zu einem demokratischen und fest im Westen verankerten Rechtsstaat auf die Fahnen geschrieben hatte, soviel Unmut auf sich zieht?
Tatsächlich bildet die Großdemonstration am 2. November den bisherigen Kulminationspunkt der seit langem anwachsenden Polarisierung zwischen der Regierung, die alle politischen und staatlichen Institutionen des Landes exklusiv kontrolliert, und einer heterogenen Opposition, deren Spektrum von Links- und Rechtspopulisten bis zu liberalen Bürgerrechtlern reicht. Diese Entwicklung begann gleich nach der Rosenrevolution, als die neugewählte 70%ige Parlamentsmehrheit von Saakaschwilis "nationaler Bewegung" im Frühjahr 2004 ohne weitere Diskussion eine Verfassungsänderung verabschiedete, die Georgien ein superpräsidiales System verordnete, das das durchaus mit dem des Putin’schen Russland verglichen werden kann.
Als wichtigste Rechtfertigung für seinen entschlossenen Griff zur Macht, dem die staatliche Gewaltenteilung weitgehend zum Opfer gefallen ist, führte Präsident Saakaschwili die Notwendigkeit an, Georgien von einem paralysierten, von Korruption zerfressenen und äußerem Druck hilflos ausgesetzten Pseudostaat in ein handlungsfähiges, selbstbewusstes und international geachtetes Gemeinwesen zu verwandeln.
Den Teilnehmern des "Tbilisi Summit", dessen Zustandekommen selbst von der gewachsenen internationalen Anerkennung des Landes zeugt, wird nun eine ganze Parade von Erfolgen präsentiert werden, die in nur vier Jahren erreicht werden konnten: Das Land verfügt über eine voll handlungsfähige, modernisierte Exekutive, die alltägliche Korruption ist stark zurückgegangen, das Staatsbudget ist um das Sechsfache angewachsen, die Energieversorgung hat sich stabilisiert, die Streitkräfte wurden und werden umfassend modernisiert (25% der Staatsausgaben in 2007), und schließlich wächst die Wirtschaft dank ultraliberaler Reformen um jährlich ca. 10%. Sind es also nur die unvermeidlichen Verlierer notwendiger Reformen und die Ewiggestrigen, die nun zum Protest auf die Straße gehen? Tatsächlich bilden die sozialen Ungleichheiten, die durch die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik der Regierung verschärft werden, eine wichtige Grundlage der Proteste. Die Gegensätze zwischen einer relativ kleinen Ober- und Mittelschicht, die vom Boom in der Hauptstadt Tbilisi und an der Schwarzmeerküste profitiert, und der mit den massiven Kostensteigerungen kämpfenden Bevölkerungsmehrheit sind groß. Besonders auf dem Lande grassieren Arbeitslosigkeit und Armut. Die staatliche Sozialpolitik beschränkt sich bislang weitgehend auf die Einrichtung von Volksküchen und vom Präsidenten werbewirksam verfügte Sonderleistungen an bestimmte Bevölkerungs- oder Berufsgruppen.
Doch hat die die Entfremdung zwischen der Regierung und großen Bevölkerungsteilen, die ihr vor vier Jahren zur Macht verholfen haben, vor allen Dingen politische Gründe. Diese liegen im Regierungsstil der "permanenten Revolution", mit dem sich Saakaschwilis Partei "Nationale Bewegung" ein Machtmonopol auf allen politischen Ebenen zu sichern sucht. So wurde beispielsweise im Dezember 2006 innerhalb weniger Wochen eine Verfassungsänderung verabschiedet, durch die die laufende Legislaturperiode um mindestens 6 Monate verlängert wird. Die eigentlich für Frühjahr 2008 angesetzten Parlamentswahlen sollen nun im Herbst 2008 gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen stattfinden, die dafür um 3-6 Monate vorgezogen werden. Begründet wurde Verfassungsänderung damit, dass die mit Wahlen verbundenen Perioden politischer Unsicherheit verkürzt werden müssten, um Russland keine Möglichkeit zur Manipulation und Intervention in georgische Angelegenheiten zu geben.
Auch haben einige politisch brisante Gerichtsprozesse deutlich werden lassen, dass die Unabhängigkeit der Gerichte von politischer Kontrolle nicht gewährleistet ist. Das Gewicht der Generalstaatsanwaltschaft übersteigt das der Gerichte um ein Vielfaches, so dass nur in wenigen Ausnahmefällen gegen die Anträge der Staatsanwälte entschieden wird. Politische Entscheidungsprozesse sind von Intransparenz gekennzeichnet, dem Ansinnen nach Zugang zu Informationen und demokratischer Teilhabe stehen sowohl der engere Führungszirkel um den Präsidenten als auch der Großteil staatlicher Funktionsträger in Ministerien und Verwaltungen ausgesprochen misstrauisch bis ablehnend gegenüber.
Die staatliche Organisation wird zu Lasten demokratischer Teilhabe "effektiver" gestaltet– so lässt sich das beschrieben, was jenseits des dominierenden Tbilisi in anderen Landesteilen passiert. Im Zuge einer "Dezentralisierungsreform" wurden die Anzahl der Ortschafts-, Bezirks- und Regionalräte von zuvor ca. 2500 auf insgesamt 69 reduziert und eine einzige politische Ebene unterhalb der zentralstaatlichen eingeführt. Durch die starke Straffung politischer Repräsentations- und Beteiligungsmöglichkeiten wurden insbesondere abgelegene Regionen und Ortschaften vom politischen Leben abgeschnitten. Im Oktober 2006 brachten die nach dem neuen Wahlgesetz durchgeführten Kommunalwahlen eine Stimmenmehrheit von 60% für Saakaschwilis "Nationale Bewegung", die in eine Mandatsmehrheit von 98% mündete.
Besonders hinderlich für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur ist die Haltung, mit der der "revolutionäre Führungszirkel" um Saakaschwili seine oft unausgereiften politischen Vorhaben ohne jede Form der öffentlichen Debatte "gegen die Gesellschaft" ins Werk setzt und dann den an vielen Stellen lautwerdenden Protest als "landesverräterisch" und "von Russland gesteuert" desavouiert. Diese Haltung belastet selbst die tatsächlich erfolgreichen Reformen wie etwa im Bildungsbereich, bei der Steuerpolitik oder der öffentlichen Verwaltung.
Da es dank der übergroßen Regierungsmehrheit im ohnehin einflusslosen Parlament keine politischen Kontrollinstanzen und keine offene Debatte "im System" gibt, wachsen politische Interessengegensätze und Meinungsverschiedenheiten schnell zu dramatischen Skandalen aus. Den Anlass zum Demonstrationsaufruf der Opposition zum 2. November bot die Verhaftung des ehemaligen Verteidigungsministers Irakli Okruaschwili Anfang Oktober.
Okruaschwili war drei Jahre lang Saakaschwilis engster Verbündeter und wurde als sein "Mann fürs Grobe" zunächst als Generalstaatsanwalt, dann als Innenminister und schließlich als Verteidigungsminister eingesetzt. Im November 2006 überwarf er sich mit dem Präsidenten und schied aus der Regierung aus. Lange wurde über die Zukunft des populären, als nationalistischer Hardliner bekannten Okruaschwili spekuliert, bis er sich im Spätsommer an die Spitze einer von ihm neu gegründeten Oppositionspartei setzte. Kurz darauf wurden enge Gefolgsleute von ihm unter Korruptionsverdacht verhaftet, und Okruaschwili gab eine sensationelle Pressekonferenz, bei der er den Präsidenten der Anstiftung zum Mord, der Günstlingswirtschaft und der politischen Feigheit bezichtigte. Am nächsten Tag wurde auch er wegen Korruption und Amtsmissbrauch verhaftet, angeblich ohne jeden Zusammenhang mit seiner Pressekonferenz. Nur zwei Tage später zog er vor laufenden Kameras und in offensichtlich gebrochenem Zustand seine sämtlichen Anschuldigungen zurück und wurde gegen Zahlung einer Kaution freigelassen. Nach Meldungen georgischer Nachrichtenagenturen wurde er am Tag vor der heutigen Großdemonstration unter Zwang ins westliche Ausland abgeschoben.
Die öffentliche Empörung um den Fall Okruaschwili führte die sehr heterogene Opposition zur Bildung einer Oppositionsallianz aus 10 Parteien, die sich auf 12 politische Grundprinzipien (u.a. Westorientierung und NATO-Aufnahme, Stärkung des Parlaments, Unabhängigkeit der Gerichte) und wenige zentrale Forderungen einigten: die Abhaltung vorgezogener Parlamentswahlen zum ursprünglich von der Verfassung vorgesehenen Termin im Frühjahr 2008, die Änderung des Wahlgesetzes, Änderungen bei der Besetzung der Wahlkommission und die Freilassung "politischer Gefangener". Der Allianz gehören nationalistische, linkspopulistische, konservative und liberale Parteien an, darunter z. B. auch die Partei der ehemaligen französischen Botschafterin und späteren georgischen Außenministerin Salome Surabischwili.
Bislang sieht es nicht so aus, als könne diese Opposition eine nur annähernd an den Herbst 2003 erinnernde Mobilisierungskraft entfalten: ihr fehlen charismatische Führungsfiguren, konsistente politische Strategien und ausformulierte Alternativen zur Regierungspolitik. Daher wird auch die Demonstration von einer Mischung aus legitimen, pragmatischen Forderungen und demagogischen Losungen geprägt sein. Dennoch erinnert schon manches an die Spätzeit des Patriarchen Schewardnadze: Regionale Autoritäten veranlassen Störmanöver gegen Demonstranten, die aus verschiedenen Landesteilen nach Tbilisi kommen wollen. Überall die spürbare Nervosität nach der Ankündigungen der Opposition, dass man die Demonstration bis zur Erfüllung ihrer Forderungen nach direkten Verhandlungen mit der Regierung aufrechterhalten werde.
Im Herbst 2001 wurden in Georgien die ersten großen Demonstrationen gegen Eduard Schewardnadze organisiert, die damals im Westen kaum wahrgenommen wurden. Heute sollten die georgische Regierung und ihren westlichen Freunde die Warnsignale ernst nehmen: Georgien braucht keine erneute Eskalation und weitere "Revolutionen". Um das Land davor zu bewahren, muss das sich weit in Richtung autoritärer Regierungsführung ausgeschlagene Pendel dringend in Richtung tatsächlicher Gewaltenteilung und politischer Transparenz zurückbewegen. Was Georgien – auch im Hinblick auf seine Sezessionskonflikte – am meisten benötigt, ist innerer Frieden und eine Kultur demokratischer politischer Auseinandersetzung. Mit seiner Pose als Held der "permanenten Revolution", der nur Freunde oder Feinde kennt, stellt Präsident Saakaschwili seine deklarierten politischen Ziele letztendlich selbst in Frage. Er gefährdet tiefgreifende rechtsstaatliche Reformen, er gefährdet die Westintegration des Landes, und er gefährdet die Aussichten auf reguläre, demokratisch organisierte Machtwechsel. Diese für eine Demokratie essentielle Erfahrung hat Georgien bis zum heutigen Tag noch nicht machen dürfen.
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Walter Kaufmann
Director
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