Thursday, October 21, 2010

PARIS: Eine Ausstellung über Lenin, Stalin und die Musik in der Pariser Cité de la Musique. (dradio.de)

Von Frieder Reininghaus

Als das Zarenreich zur Sowjetunion wurde, sollte der neue Mensch auch neue Künste genießen. In einer kurzen Phase nach der Revolution erlebten sie einen enormen Aufschwung, bevor Stalin und seine zuständigen Mandarine alles wieder im Dienste des sozialistischen Realismus einebneten. In der Pariser Cité de la Musique beschwört eine Ausstellung noch einmal die großen Hoffnungen der Aufbruchsjahre und lauscht den neuen Tönen der 20er.

Wie die gesamte Gesellschaft und deren "Überbau", so haben die russischen Revolutionen 1917 auch den Musikbetrieb des Landes in den Grundfesten erschüttert. Die "Umwälzung" hatte sich in den Jahren zuvor in neuen Tönen, Formen und künstlerischen Haltungen angekündigt - mit dem mystisch-hybriden Komponisten Alexander Skrjabin, bei Malern wie Kasimir Malevitsch, Marc Chagall oder Wladimir Tatlin. Dessen expressionistisch-futuristische Dekorations-Entwürfe stehen am Anfang der großen und medial aufwendig konzipierten Pariser Ausstellung. Besonders imposant: ein Wald-Vorhang für den IV. Akt von Michail Glinkas Zaren-Oper "Iwan Sussanin". In ebenso diskretem Licht präsentiert sich die Zarenkrone, die Fedor Schaljapin damals auf der Bühne trug. Gegenüber prangt der große Lenin in Essig und Öl und lehrt in emphatischer Redner-Geste die Völker. Dazwischen steht der abstrakt-hölzerne Musiker, den Ivan Kliun 1916 montierte. Zwei Notenblätter vom ersten "Musik-Kommissar" der UdSSR, Arthur Lourié, erinnern, vergilbt, an den Geist des Aufbruchs. Das meiste, was in der einen oder anderen Form zu sehen ist, kann auch hörend nachvollzogen werden - zum Beispiel der pianistische Impetus aus Dmitri Kabaleweskis besten Jahren.

Das "Commissariat" der Pariser Ausstellung "Lénine, Staline et la musique" hat auf die mediale Präsentation des dicht gedrängten und gehängten Materials größte Aufmerksamkeit verwandt. Allerdings sind die Beleuchtungsverhältnisse nicht angetan, die Legenden lesbar zu machen. Immer wieder laden größere Ausschnitte musikalischer Werke zum Verweilen ein oder erlauben Video-Präsentationen Einblick in die Geschichte des revolutionär gemünzten Theaters in Leningrad und Moskau. Entstanden ist ein ansprechender Überblick über ein gewaltiges Pensum der Musik- und Theatergeschichte, gewürzt mit Ausstellungsstücken und Tondokumenten, die in dieser Ausführlichkeit und Vielfalt wohl noch an keinem anderen Ort versammelt und zugänglich gemacht wurden.

Gut vierzig Kapitel begleiten den Weg von den utopischen Kunst-Entwürfen und den auch international aufsehenerregenden avantgardistischen Modellen in der jungen Sowjetunion zur Rivalität zwischen dem Verband für zeitgenössische Musik und der Vereinigung der proletarischen, das heißt auf Prolet-Kult orientierten Musiker, die bereits in den 20er-Jahren ausgehebelt und marginalisiert wurden. Da darf die Erinnerung an die majestätische Erscheinung Schaljapins, der mit Fliege, Pelzmantel, Siegelring und Mops einen Jahrmarkt besucht, nicht fehlen. Ebenso wenig die Würdigung der Maschinenmusik, der Pionierarbeit von Nikolai Roslawez oder Alexander Mossolow.

Die Phase des bunten und grellen künstlerischen Pluralismus in der Sowjetunion dauerte nicht lange. In den 30er-Jahren setzte durch staatliche Lenkung, Zensur und Verbote eine zweite Umwertung der Werte ein, mit der das Musikschaffen den Vorgaben der Parteiführung von Josef Stalin unterworfen und zunehmend staatlich gegängelt wurde. Mit dieser zweiten "Umwälzung" geht die Pariser Ausstellung pfleglich um. Unverkennbar bleibt die Sympathie mit dem Land, mit dem Frankreich im Ersten und Zweiten Weltkrieg alliiert war. Die Pariser Ausstellung gibt der Regierung Stalins, die den "Sozialistischen Realismus" auch den Musikschaffenden verordnete, einen satten Bonus. Hinweise auf die Verfolgung und Vernichtung von Musik und Musikern gibt es nur ganz am Rande Thema - kurz vorm Schluss und fast wie eine lästige Pflichtübung vor der Würdigung der sowjetischen Musik im Kalten Krieg. Als Ergänzung zu der vielen Musik aus den historischen Konserven spielte Olga Anryschenko - live - zur Vernissage selten zu hörende Klavier-Piècen von den beiden musikalischen Matadoren der Epoche, Prokofjew und Schostakowitsch, aber auch von den fast vergessenen Meistern Lurié und Roslawez sowie dem "Eis und Stahl"-Komponisten Deschewow.


Die Ausstellung in der Cité de la Musique läuft noch bis 16.1.2011; Öffnungszeiten: Di bis Sa., 12-18.00 Uhr

Quelle: www.dradio.de

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