Tuesday, August 09, 2011

PODCAST: Die Bauten der späten Sowjetunion. Frédéric Chaubin: "CCCP Cosmic Communist" (dradio.de)

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Es gibt Bücher, die öffnen eine neue Welt. Ein solches Buch ist das von Frédéric Chaubin über die modernistische sowjetische Architektur, wie sie vor allem seit dem Ende der 70er entstand.

Zu sehen sind Bauten, deren Fantasiereichtum, künstlerische Kraft und ästhetischer Variationsreichtum schlichtweg überrascht. War die Sowjetunion der Zeit Breschnews und Juri Andropows nicht das Land der endlosen, miserabel montierten Plattenbauviertel, über die sich sogar polnische, ostdeutsche und ungarische Stadtplaner entsetzten, die Zeit der Verwahrlosung aller ästhetischen Kultur?

Und hier nun werden Projekte wie die Sport- und Musikhallen im armenischen Jerewan von 1984 gezeigt, deren weit geschwungene Dächer an die organisch belebte amerikanische Nachkriegsmoderne eines Eero Saarinen (1910-1961) und dessen TWA-Airport in New York erinnern - oder die Arena im russischen Kasan: ein Ufo, das in der Stadt gelandet ist.

Das aufstrebende Dach der Sporthalle im ukrainischen Dnjepropetrowsk, ebenfalls von 1980, ist mit seinen vielen Spitzen unverkennbar eine Variation von Paddys Whigwam, der sensationellen katholischen Kathedrale in Liverpool, die ihrerseits Oscar Niemeyers Kathedrale von Brasilia als Vorbild hat. Und wer wissen will, wie die japanischen Utopien einer metabolistischen Stadt aus den 1960ern in Realität aussehen könnten, der sehe sich die im gigantischen Gitter aufeinander gelegten Riegel des georgischen Ministeriums für Autobahnbau an.

Nun sind Architekturgeschichte und ihre internationale Verzweigung nicht das Thema von Frédéric Chaubin. Seine Fotos und der höchst anregende Text zeigen den Sammler, den engagierten Bewahrer, den leidenschaftlichen Betrachter, nicht aber den Wissenschaftler. Er ist Journalist und Fotograf, wurde 2003 erstmals anlässlich eines Interviewtermins im georgischen Tiflis aufmerksam auf das Phänomen der sowjetischen Spätmoderne, begann auf seinen vielen Reisen durch die Nachfolgestaaten der UdSSR zu fotografieren und zu notieren. Und so hat dies Buch auch etwas Zufälliges, die geografischen Lücken sind groß. Es fehlen die Aufbaustädte Sibiriens, und aus den heute unabhängigen mittelasiatischen Unionsrepubliken hätte man sich weit mehr Material gewünscht.

Chaubins Buch hat seinen geografischen Schwerpunkt in den seit Beginn der 1990er-Jahre unabhängigen Staaten, die mehr oder minder demokratisch sind, also in Georgien und Armenien, vor allem aber Estland, Lettland und Litauen, von wo aus man auch leicht Abstecher nach Nordrussland und in das Königsberger Gebiet machen kann.

Es war eine gute Idee, den Band nicht nach heutigen Staatsgrenzen zu sortieren, sondern nach Bauaufgaben. So ergibt sich ein Gesamtbild, bei dem man zwar nicht weiß, ob es wirklich repräsentativ für die Architektur der späten Sowjetunion stehen kann.

Doch sicherlich zeigen die hier versammelten Häuser, dass die alte Stalin'sche Losung für den Sozialistischen Realismus - nach dem die Form national, der Inhalt aber sozialistisch zu sein habe - Architekten um 1980 nur noch sehr bedingt eingeschränkt hat. Sie bedienten sich in den Fachzeitschriften aus dem Westen nach Lust und Laune und entwickelten aus dem allgegenwärtigen, weil billigen Stahlbeton Formen, die mit ihrer Monumentalität eine ganz eigene Sprache sprechen.

Man wünscht sich zu diesem Buch nicht nur eine zweite, weniger unhandlich schwere Ausgabe, sondern auch einen Ergänzungsband, der die Pläne der Bauten nachliefert, in dem aber vor allem eine kulturhistorische Einbindung stattfindet. Wir wissen schon seit Langem viel über die Kunst und Kultur der frühen sowjetischen Zeit in den 1920ern, als Experimente aller Art gewagt werden durften. Und viel über die Kunst der Zeit Stalins.

Doch die Kunst der späten Sowjetunion, die ist bestenfalls in ihrer Untergrundavantgarde zum Allgemeinbesitz geworden. Es wird Zeit - und sei es nur, um diese oft schon von den Zeitläuften schwer in Mitleidenschaft gezogenen Bauten noch vor der Vandalisierung oder dem Abriss zu retten -, dass wir uns ein genaueres Bild der Sowjetunion und ihrer Staatskunst zulegen.

Besprochen von Nikolaus Bernau

Frédéric Chaubin: CCCP Cosmic Communist Constructions
Taschen Verlag, Köln 2011
308 Seiten, 39,99 Euro

Quelle: dradio.de/dkultur


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