Sunday, December 04, 2005

Christopher Walker
Schuld haben nicht die Reformer
25 November 2005
Frankfurter Allgemeine Zeitung

In diesem Monat sind es zwei Jahre seit der "Rosenrevolution" in Georgien und ein Jahr seit der "orangefarbenen Revolution" in der Ukraine. Die Begeisterung der Volksbewegungen gegen korrupte, autokratische Regierungen ist der Erkenntnis gewichen, daß die Konsolidierung der demokratischen Reformen ein schwieriger und langwieriger Prozeß ist. Die Größe der Reformaufgabe ist nun jedermann bekannt.
Gleichzeitig fragen mehr und mehr skeptische Stimmen, ob der Wunsch nach politischer Veränderung in diesen Ländern wirklich authentisch gewesen sei. Die Skeptiker verweisen auf die Schwierigkeit, schnell tiefgreifende Reformen ins Werk zu setzen, und ziehen daraus den Schluß, daß die öffentliche Aufwallung von Unzufriedenheit oberflächlich, gar künstlich gewesen sei.
Das ist eine falsche Sicht. Die Reformer, die etwas versuchen, was man als gewaltiges politisches Experiment bezeichnen könnte, haben schlechte Karten. Sie müssen das Erbe vernachlässigter Institutionen, verbreiteter Korruption und einer politischen Kultur überwinden, in der Inhaber öffentlicher Ämter ihre Posten als Mittel zur Förderung ihrer privaten Interessen betrachten. Die Schwierigkeiten denen anzulasten, die das zu beseitigen versuchen, was ihre Vorgänger in vielen Jahren angerichtet haben, ist unaufrichtig.
Will man verstehen, wie es zu der gegenwärtigen Lage gekommen ist, muß man kurz zurückblicken. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufkommenden Hoffnungen auf freie und faire Wahlen sowie auf breitgefächerte demokratische Reformen wurden nicht erfüllt. In fast allen ehemaligen Sowjetrepubliken schafften es Schlüsselfiguren der alten Garde, sich in einflußreiche Positionen zu bringen und sich echten Reformen in den Weg zu stellen. Als es offenkundig wurde, daß dieses fehlerbehaftete Regierungsmodell nicht dem öffentlichen Interesse diente, machte sich Unzufriedenheit breit. In Georgien und der Ukraine, wo die Opposition in der Lage war, sich als glaubwürdige Alternative zu den Regierenden zu präsentieren, kam es zu einem Machtwechsel.
Es ist entscheidend, über welche Fähigkeiten die jeweilige Opposition verfügt. Alle Autokraten im postsowjetischen Raum und ihre Anhänger behaupten, die Opposition sei nicht in der Lage, eine bedeutende Rolle im politischen System zu spielen, weil sie schwach und schlecht organisiert sei. Die Behauptung, die Opposition sei unreif und in einigen Fällen sogar unverantwortlich, ist nicht ganz falsch. Das sollte aber niemanden überraschen. Die Autokraten, die das System auf ihren Vorteil zugeschnitten haben, tragen daran die Hauptschuld. Der Opposition wird systematisch die Gelegenheit verwehrt, in einen Wettbewerb mit den Regierenden zu treten. Die Argumente der Autokraten erinnern an den Mann, der seinem Gegner die Hände fesselt und sich dann wundert, daß dieser nicht kämpfen kann.
Kritiker der Ereignisse in Georgien, der Ukraine und in Kirgistan führen als Beleg dafür, daß es einen verbreiteten Wunsch nach Veränderung nicht gebe, an, daß es in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht zu Volksaufständen gekommen sei. Auch dieses Argument ist auf Sand gebaut. Die repressive Art, mit der Autokraten Journalisten bekämpfen, politische Opponenten ins Gefängnis stecken und Wahlen in ihrem Sinne kontrollieren, ist der wichtigste Grund dafür, daß sich Unzufriedenheit nicht öffentlich entfalten kann. Aber: Unterdrückung nach Art der Regierungen in Usbekist! an und Weißrußland führt politisch unweigerlich in eine Sackgasse. In der Zwischenzeit erleben die Bürger dieser Länder einen Albtraum an Menschenrechtsverletzungen - die im Westen weit mehr Aufmerksamkeit finden sollten.
Es besteht die Gefahr im gesamten Raum der ehemaligen Sowjetunion, daß die Unzufriedenheit schon bald den Siedepunkt erreichen könnte, weil es verhältnismäßig wenige Kanäle gibt, auf denen sie sich friedlich äußern kann. Was war die Antwort der Autokraten auf die Gärungsprozesse in Georgien, der Ukraine und in Kirgistan? Weitere Unterdrückung. Unabhängige Medien, die "Zivilgesellschaft", die Justiz und die Wirtschaft werden von einer kleinen Interessengruppe (besser: Clique) kontrolliert - und das in so verschiedenen Ländern wie Usbekistan, Weißrußland und Aserbeidschan. In Usbekistan erreichte die Brutalität im Mai ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß, als die Sicherheitskräfte Präsident Karimows in der Stadt Andischan Hunderte Menschen massakrierte! n. Natürlich halten die regierenden Kräfte auch die Wahlurnen streng unter Kontrolle. Damit ist sichergestellt, daß es keinen ernsthaften politischen Wettbewerb um die Macht geben kann. Die jüngste - partiell gefälschte - Parlamentswahl in Aserbeidschan, die als Zeichen für den Stand demokratischer Reformen gelten sollte, paßt in dieses Muster. Wie wird es bei der Wahl in Kasachstan im Dezember wohl zugehen? Die Marginalisierung der wichtigsten Oppositionskräfte öffnet die Tür für extremistische Bewegungen. Kritik an den Leistungen der an die Macht gelangten Oppositionskräfte, der Juschtschenkos und Saakaschwilis, ist durchaus angebracht. Es ist aber wichtig, sich den wirklichen Reformhindernissen zuzuwenden. Es ist auch wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die sogenannten "Revolutionen" im Grunde nur den Wunsch der Bürger nach einer verantwortlich handelnden Regierung ausdrücken.
Wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, kann man verstehen, daß sich in den reformfeindlichen Hauptstädten der ehemaligen Sowjetunion so etwas wie Schadenfreude breitmacht, wenn sie die Herausforderungen ihrer nachrevolutionären Nachbarn betrachten. Ein Mißlingen in der Ukraine oder in Georgien - es ist nicht auszuschließen - gäbe den Kritikern recht. Deshalb müssen die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und die übrigen Demokratien der Versuchung widerstehen, in Reformmüdigkeit zu verfallen: Die um die Festigung ihrer Reformen bemühten Länder verdienen mehr politische Aufmerksamkeit und materielle Unterstützung.

Der Autor ist Forschungsdirektor bei Freedom House in New York www.freedomhouse.org.

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