In Georgien herrscht seit letztem Herbst eine Kohabitation. Viele befürchteten, die junge Demokratie im Südkaukasus sei dieser bisher unbekannten Situation nicht gewachsen. Vor Ort ergibt sich ein differenzierteres Bild.
Bild: Shakh Aivazov; AP |
Ist man in diesen Tagen in den Ministerien, Amtsgebäuden und Instituten Georgiens unterwegs, so steht man oft vor geschlossenen Türen, hinter denen hitzig debattiert wird. Anders als sonst üblich lassen Gesprächspartner auf sich warten. Doch sie haben eine gute Begründung. Sie befassen sich mit der kompletten Neuausrichtung der Innen- und Aussenpolitik des Landes. Dieser Prozess setzte vor mehr als 100 Tagen ein, nachdem die Partei Nationale Bewegung von Präsident Micheil Saakaschwili bei der Parlamentswahl eine herbe Niederlage hatte einstecken müssen. Die alten Minister verliessen zum Teil fluchtartig ihre Arbeitsstätten, bevor die neue Regierung des Bündnisses Georgischer Traum unter Bidsina Iwanischwili einzog.
Toleranz lernen
Doch ungehindert walten kann der Milliardär Iwanischwili nicht. Noch bis Oktober dauert die Amtszeit Saakaschwilis, der seit nunmehr neun Jahren das Land führt. Seine Partei setzt der Regierung im Parlament nach Kräften zu. In den Regionen haben noch bis zu den Lokalwahlen im nächsten Jahr Gouverneure und Abgeordnete der Nationalen Bewegung das Sagen. Auch das Bürgermeisteramt in Tbilissi und die Staatliche Universität TSU werden weiter von Saakaschwilis Leuten geführt.
Was auch in bewährten Demokratien eine Herausforderung darstellt – eine Kohabitation –, ist für die ehemalige Sowjetrepublik am Rande Europas eine gänzlich neue Erfahrung. Georgien muss eine Kultur politischer Toleranz und das Schmieden von Kompromissen erlernen. Hier und da gelingt dies. Doch flogen in den vergangenen Wochen auch die Fäuste. Meist waren es Anhänger Iwanischwilis, die ihre Wut über Benachteiligung während der vergangenen neun Jahre unter Saakaschwili an dessen Anhängern ausliessen.
Diese klagen wiederum über Druck und politisch motivierte Festnahmen. Iwanischwili werfen sie vor, Georgien vom Weg der Demokratie und der Annäherung an die EU sowie die Nato abzubringen. Konservative Politiker in den USA und in Westeuropa sekundieren Saakaschwili.
Auf den ersten Blick jedoch ist auf den Strassen von Tbilissi und im Land kein Unterschied im Vergleich zur Zeit vor dem Machtwechsel zu erkennen. Zu spüren ist aber eine Nervosität. Und die laut Umfragen grosse Zustimmung zu Iwanischwili könnte nachlassen.
Entgegengesetzte Erwartungen
Denn der Premierminister stehe vor einer schwer lösbaren Aufgabe, erklärt die Sozialwissenschafterin Marina Muskelischwili. Da sei einerseits die Erwartung aus dem Ausland, die Kohabitation mit Saakaschwili bis zum Oktober durchzuhalten. In der Bevölkerung erwarteten dagegen viele, dass der Regierungschef nun endlich mit dem Präsidenten und seinen Leuten abrechne. Nach einer Amnestie wurden bereits mehr als 7000 Gefangene aus den überfüllten Gefängnissen entlassen. Das Parlament erkannte 190 Personen als politische Gefangene an. Die Auswahl wird weithin als politische Entscheidung interpretiert, denn eine Prüfung jedes einzelnen Falles hätte Monate in Anspruch genommen, wofür die Bevölkerung kaum Geduld aufgebracht hätte.
Zudem gingen seit dem Regierungswechsel mehrere tausend Klagen bei der Generalstaatsanwaltschaft ein. Während aber vor der Wahl die Staatsanwälte den Richtern die Urteile praktisch hätten diktieren können, müssten sie inzwischen die Richter mit Beweisen und guter Argumentation überzeugen, erklärt Mathias Huter vom Ableger der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International in Georgien. Was die Reihenfolge in der Abarbeitung der Fälle angehe, so könne man schon davon sprechen, dass die Prioritäten nach politischen Faktoren gesetzt würden, so Huter. So waren in den ersten Wochen nach der Wahl mehrere ehemalige Regierungsmitarbeiter festgenommen worden, denen Spionage gegen Mitglieder von Georgischer Traum vorgeworfen wird.
Jedoch sei die teilweise harsche Kritik aus Brüssel und Washington an der neuen Regierung in grossen Teilen der Bevölkerung als nicht fair wahrgenommen worden, sagt Huter. Es sei der Eindruck entstanden, dass mit unterschiedlichen Ellen gemessen werde. Denn die alte Regierung sei kaum so offen für Menschenrechtsverletzungen und andere Probleme kritisiert worden. Über den Quereinstieg Iwanischwilis in die Politik und über seine Eignung für das Regierungsamt wird im In- und Ausland kontrovers debattiert. Unabhängig davon verfügt seine Regierung über einige sehr professionell arbeitende Minister. Diese setzen alles daran, die von der internationalen Gemeinschaft immer wieder kritisierten Versäumnisse Saakaschwilis nachzuholen.
Die Justizministerin Tea Zulukiani erklärt, ihr Ministerium arbeite daran, die Unabhängigkeit der Richter, Anwälte und Notare von politischer Einflussnahme sicherzustellen. Sie selbst wolle auf das ihr zustehende Recht als Ministerin verzichten, Festnahmen zu veranlassen. Auch der Verteidigungsminister Irakli Alasania lässt sein Ministerium und die Armee umstrukturieren. Eine Kommission soll aufklären, welche politischen Entscheidungen 2008 zum Krieg mit Russland und zu diversen gewalttätigen Zwischenfällen geführt haben. Der Innenminister Irakli Garibaschwili löste die als politische Polizei berüchtigte Abteilung Kudi auf, die vor der Wahl politische Gegner Saakaschwilis ausspioniert haben soll. Viele Ministeriumsmitarbeiter und Polizisten seien verunsichert gewesen, weil sie den Interessen von Saakaschwilis Partei dienen sollten, nicht aber der Bevölkerung, behauptet Garibaschwili.
Auch die Verhandlungen mit der EU gehen weiter, trotz Spekulationen über einen allfälligen aussenpolitischen Kurswechsel. «Bei einigen Themen kommen wir jetzt sogar schneller voran», sagt der EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle im Gespräch. Er sei ziemlich zufrieden, sagt Füle.
Saakaschwili in der Defensive
Da beide Seiten den Machtkampf sowohl im Inland als auch im Ausland weiter austragen, droht das Ansehen Georgiens auf der Strecke zu bleiben. Saakaschwili ist immer stärker in der Defensive. Je mehr Versäumnisse der vergangenen Jahre die neue Regierung benennt und beseitigt, desto mehr gerät sein Vermächtnis als demokratischer Präsident in Gefahr. Für den 19. April hat die Nationale Bewegung zu einer Demonstration gegen Iwanischwili aufgerufen. Es wird aber nicht damit gerechnet, dass sich viele Bürger für die Kundgebung mobilisieren lassen. Saakaschwilis Vollmachten als Präsident sind jüngst eingeschränkt worden. Per Verfassungsänderung wurde entschieden, dass das Staatsoberhaupt künftig die Regierung nicht mehr ohne Zustimmung des Parlaments auflösen kann.
Laut der Wissenschafterin Muskelischwili ist den meisten Georgiern ein schwacher Iwanischwili lieber als ein starker Saakaschwili. Der noch amtierende Präsident mache den Menschen Angst mit seiner aggressiven Rhetorik gegen den Regierungschef. Viele befürchteten, dass Saakaschwili der Opposition den Garaus mache, sollte er noch einmal zu Stärke gelangen.
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Schweizer Parteinahme im georgischen Machtkampf
In den vergangenen Wochen hat sich der Machtkampf zwischen Präsident Saakaschwili und Premierminister Iwanischwili immer stärker auf eine internationale Ebene verlagert. Mehrere Mitglieder der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament warfen Premier Iwanischwili Mitte März in einem Brief einen undemokratischen Regierungsstil fern westlicher Werte vor. Sie nutzten dabei Argumente, die immer wieder von Saakaschwilis Seite vorgebracht worden waren.
In einer Reaktion auf dieses Schreiben hat sich der Schweizer Botschafter Günther Bächler an Premierminister Iwanischwili gewandt. In einem diese Woche an die Öffentlichkeit gelangten Brief kritisiert er in ungewöhnlicher Deutlichkeit die Aussagen der EVP-Politiker. Es handle sich um oberflächliche Einschätzungen einiger fehlgeleiteter Abgeordneter des Europäischen Parlaments, die sich überkommener sowjetischer Propaganda-Methoden bedienten.
Im Gegenzug lobt Bächler die neue Regierung für ihr Bemühen, Gesetze und internationale Standards einzuhalten und Reformen durchzuführen. Auf den Vorwurf gewisser politischer Kreise, er sei vor der Wahl im Oktober voreingenommen für die damalige Opposition um Iwanischwili gewesen, nimmt der Diplomat mit der Bemerkung Bezug, er habe sich während seiner gesamten Karriere voreingenommen für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt.
pab. ⋅ Das EDA erklärte auf Anfrage, dass es sich bei dem Schreiben um einen privaten Brief handle, der nicht mit Bern abgesprochen gewesen sei. Darüber hinaus nehme das EDA keine Stellung zu dem Schreiben. Seit dem russisch-georgischen Krieg von 2008 und dem Unterbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Tbilissi vertritt die Schweiz die Interessen Russlands und Georgiens im jeweils anderen Staat.
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