Auf einmal packt der Grenzer ein Vorhängeschloss aus.
Er zieht den Bügel durch die Mechanik des Stempels. Dann klappt er
meinen Pass zu, steht auf und bedeutet mir mit emotionsloser Miene, ihm
zu folgen. Mir ist klar: Ich habe ein Problem.
Ein Vergehen, das mich 2000 Rubel Strafe kostet, und was viel schlimmer ist: ich verpasse meinen Weiterflug nach Krasnojarsk am Jenissei, der ersten Station meiner zehntägigen Lesereise durch einstige Gulag-Städte Sibiriens. Orte, in denen Millionen Menschen, davon viele Deutsche, im Gefängnis saßen oder wie mein Großvater im Viehwaggon hin und her gekarrt wurden, bis sie starben oder sich in einem Lager zu Tode schufteten.
Sofort hämmert es in meinem Kopf: Ist das die Begrüßung für einen, der sich etwas zu viel mit Gulag und Stalin, dem KGB und Folterkellern beschäftigt? Ich will es nicht glauben und folge dem Grenzer durch die Flure des Flughafens Domodedowo, in der Hoffnung, bei einem seiner Vorgesetzten Verständnis zu finden. Das ist nicht der Fall. Der kalte Krieg scheint hier noch nicht vorbei, er hat nur neue Formen angenommen. Punkt null Uhr bekomme ich meinen Pass zurück. Kurz zuvor hat die lindgrüne Maschine der sibirischen Fluglinie abgehoben. Die nächste nach Krasnojarsk startet in 24 Stunden. Das wird eine lange Nacht und ein noch längerer Tag.
Rache an den Deutschen - wegen Merkel
Ein älteres Paar aus Österreich auf der Heimreise amüsiert sich über mein Missgeschick: „Nehmen’s des net persönlich, Sie sind halt Opfer der großen Politik. Weil die Russen nicht frei in den Westen reisen dürfen, rächen sie sich an jedem, der ihnen den geringsten Anlass bietet“, so habe es ihnen ihr russischer Dolmetscher erklärt. „Die Deutschen stehen auf der Liste ganz oben.“ Der Mann aus Wien weiß es: „Wegen Ihrer Frau Merkel!“ Aha. Ich sitze also fest, weil Frau Merkel Putin nicht traut? Nun, ich tue das auch nicht.
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Es ist ein Uhr, als ich am Schalter der Luftlinie die Verhandlungen über den Weiterflug aufnehme. „Alles ausgebucht“, lächelt mir die Dame entspannt ins Gesicht. Mir wird heiß. Schaffe ich es nicht, an diesem Tag aus Moskau wegzukommen, kann ich die ganze Lesereise abschreiben. Es folgt eine quälende halbe Stunde, in der sie nur ab und zu mit dem Kopf schüttelt. Dann eilt ihr eine Kollegin zur Seite und siehe da, einige Klicks später, strahlt sie: „Tatsächlich, hier haben wir doch was . . .“ Ich atme tief durch, „. . . aber nur in der Business-Klasse. Sie müssen 712 Euro zuzahlen.“
Einen Augenblick bin ich versucht, zwei 50-Euro-Scheine in meinen Pass zu legen und den Damen zu reichen. Das Spiel kenne ich seit meiner frühesten Jugend. Wann immer die Mutter mit uns Kindern nach dem ewigen Winter in Workuta, im Nordwesten Russlands, Richtung Süden fuhr, gab ihr der Vater ein Extrapäckchen Rubelscheine mit. Eine durchgehende Fahrkarte aus dem Norden bis auf die Krim konnte man in der Sowjetunion nicht lösen. Immer war in Moskau Schluss, immer musste man sich vor dem kleinen Fenster am Schalter auf dem Kursker Bahnhof verbiegen und bekam doch kein Billet.
Ein Computer, der gern Whisky trinkt
Die Mutter schon. Sie legte ein paar Scheine mit dem Porträt Lenins in den Ausweis. Die einzige Form von Agitation, die man sofort verstand. In den Breschnew-Jahren war es nicht besser. Der Aufbau des Kommunismus schritt voran, Geld hatten viele genug, nur konnte man dafür nichts kaufen. Keine Butter, kein Salz, keine Zahnbürsten, kein Klopapier. Der Naturalientausch von „Defizit“- Waren aber blühte.
So lernte ich in den achtziger Jahren auf einem Moskauer Flughafen einen Computer kennen, der gern Whisky trank. Zuerst, ohne Whisky, gab er die Information heraus, dass die Maschine leider, leider überbucht war. Als dann aber die Flasche, ein Mitbringsel für meinen Freund, neben ihm stand, war auf einmal ein Platz frei. Natürlich stellte sich dann heraus, dass die Iljuschin halbleer in den Süden flog. Wer aber nicht bereit war, dem Personal „na Lapu“ - etwas „auf die Pfote“ zu geben - musste auf den Weiterflug trotzdem tagelang warten.
Ob Chruschtschow, Breschnew oder Putin, die Damen am Tresen der Fluggesellschaft gehen ihren Geschäften nach, egal, was die Kreml-Uhr geschlagen hat. Auch in dieser Nacht, am Anfang meiner Lesereise. Routiniert erhöhen sie den Druck auf den begriffsstutzigen Ausländer. Um zwei Uhr heißt es: „Sorry, wir haben uns geirrt, es sind nicht 712, sondern 927 Euro zu zahlen.“
Was soll man anderes erwarten? Auf der Reise entlang der Transsib begleiten mich jüngste Umfragen: Breschnew ist der beliebteste Politiker der Russen. Immerhin, Stalin kommt nach Lenin nur auf Platz drei. Ist das schon der Fortschritt? Gorbatschow landet abgeschlagen auf dem letzten Platz.
Am Morgen bei Schichtwechsel stehe ich wieder am Schalter. Zwei neue Damen wundern sich über das Treiben ihrer Kolleginnen. „Wollen Sie denn unbedingt Business fliegen? Nein?“ Na dann, 80 Euro für das Umbuchen und guten Flug. Es gibt also auch anständige Menschen. Und natürlich ausreichend Plätze in der Maschine. Die alltägliche Korruption hat diesmal einen kleinen Misserfolg einstecken müssen.
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Willkommen im NKWD-Folterkeller
Der Gang ist schmal und dunkel. Massive Türen mit monströsen Schlössern und tief sitzenden Gucklöchern lassen ahnen, wie es hier früher zuging. Drei Liegen pro Zelle mussten reichen. Selbst wenn über zwanzig Personen in dem Raum eingepfercht waren.
Willkommen im NKWD-Folterkeller von Tomsk, der einzigen Erinnerungsstätte dieser Art in einer russischen Stadt. Nicht, dass es an Kellern mangelte. Jede Stadt hatte ihre eigenen dunklen Gänge, in denen der NKWD, der Vorgänger des KGB, verhörte und mordete. Doch mehr Erinnerung - und also mehr Beunruhigung - ist nicht erwünscht. In einem Land, in dem an der Spitze ein ehemaliger KGB-Mann steht, nicht besonders verwunderlich.
Die Lebenswege der Opfer, die durch dieses Tor zur Hölle gingen, spiegeln die einzelnen Stadien des Stalinismus. Ein Mitglied der Kerenski-Regierung von 1917, die Fürstin Golizyn, oder ein Offizier der weißen Garde, die nach 1917 gegen die Bolschewiki kämpfte - sie alle wurden vernichtet. Schon bald waren auch die „eigenen“ dran. Professoren, Ingenieure, Lehrer, der Kern der neuen Intelligenzija, aber auch einfache Leute, Arbeiter, Bauern. Erst während der Perestroika kam der Strom langsam zum Erliegen. Doch er versiegte nicht.
Noch aus dem Jahr 1988 sind im Tomsker Keller Gulag-Opfer verzeichnet. Dissidenten, deren Weg aus der Verhörzelle jetzt immer öfter in die Psychiatrie führte. Als mein Großvater, Pawel Alförow, in Zeiten des „Großen Terrors“ nach Tomsk kam, war er zum zweiten Mal „wegen antisowjetischer Tätigkeit“ verurteilt worden. Tomsk blieb für ihn nur eine Episode. Über Nowosibirsk und Tjumen brachten sie ihn schließlich in die Workuta, jenen Ort, an dem auch mein Vater über zwanzig Jahre eingesperrt war. Im Gegensatz zu Sibirien gibt es dort nicht einmal Bäume. Workuta in der Arktis und Magadan im Fernen Osten sind für die Russen bis heute die Schreckensorte schlechthin.
Ein Deutscher, der den Russen ihre Verbrechen erklärt
Auf der langen Fahrt mit dem Zug durch endlose Sümpfe und Birkenauen vom Jenissej an den Ob lese ich in einem russischen Magazin eine nette Anekdote. Ein bekannter Schauspieler witzelt: „Als die Diebe auf meiner Kühlschranktür nur zwei Magnete sahen - aus Workuta der eine, der andere aus Magadan - gaben sie dem Kater zu essen, erledigten den Abwasch und verschwanden, ohne etwas angerührt zu haben.“ Magnete mit Ansichten der Orte, die man besucht hat, sind eine Leidenschaft der Russen.
Die Lesungen in Tomsk und Krasnojarsk sind voll. Das überrascht. Ein Deutscher, der den Russen in russischer Sprache erklärt, was ihre Väter und Großväter verbrochen haben, das muss man erst mal hören wollen. Auffällig: Das Publikum in Sibirien, das sich für diesen blutigen Teil der gemeinsamen Geschichte interessiert, ist deutlich jünger als in Berlin, Weimar oder Freiburg.
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In Nowosibirsk folge ich der Einladung eines populären Radiosenders zu einem Studiogespräch. Die Moderatoren, ein älterer Mann mit Rauschebart und eine junge Frau, geben sich locker. Vor allem achten sie darauf, dass das Livegespräch über die Verbrechen im Gulag nicht in die Tiefe geht. Der ungewöhnliche Lebensweg eines Jungen, der in Workuta in der Verbannung geboren wird und dann in den Osten Deutschlands kommt, scheint ihnen allemal unterhaltsamer als die grausamen Erlebnisse meines Vaters und Großvaters. Doch dann übernehmen die Zuhörer die Regie. Eine empörte Frau am Telefon hat die Nase voll. In gereiztem Ton fragt sie, warum dieser Mensch, also ich, ständig so schlecht über den großen Stalin rede? Schließlich habe Stalin doch den Krieg gegen die Deutschen gewonnen.
Dankbar für Millionen Tote
Verehrung für einen „kranken Diktator, der Millionen von euch umgebracht hat“: Georgischer Veteran mit einem Porträtkärtchen Josef Stalins im Mai 2013 auf einer Siegesparade in Tiflis |
Die Zuhörerin will jetzt nicht mehr mit mir reden. Als dann noch das Reizwort „Pussy Riot“ fällt und die harte Behandlung der schrillen Mädchen durch die Behörden, wird die Atmosphäre im Studio eisig. Bei der Verabschiedung schweigt der Rauschebart, während die Moderatorin trotzig bemerkt: „Mich haben Sie nicht überzeugt. Ich bleibe dabei: Stalin war ein Großer!“
Eine Meinung, die mir in den Gesprächen nach den Lesungen wiederholt begegnet. Vor allem, wenn es in der eigenen Familie keine unmittelbaren Opfer der Verfolgung gab, oder wenn man sie vergessen hat. Hingegen scheint der Umstand, dass Russland keine „Derschawa“ mehr ist, keine Weltmacht, viele Patrioten arg zu schmerzen.
Laxer Umgang mit der Geschichte
Später, im Hotel, sehe ich in den Nachrichten, wie aktuell das Thema Stalinismus in Sibirien ist. Bei Abrissarbeiten in der Innenstadt sind Knochen gefunden worden. Schädel mit Einschusslöchern am Hinterkopf. Wer die Opfer sind, muss der Moderator nicht erklären: Die Stadt ist auf den Knochen von Gulag-Häftlingen erbaut. Auch viele deutsche Kriegsgefangene überlebten die Haft nicht. Das abgerissene Gebäude war ein Gefängnis. Doch was die Stadt umtreibt, ist nicht die Sorge, wie man die Hinterbliebenen der Erschossenen findet. Nein, man hat Angst, der Investor könnte abspringen. Der Vizegouverneur vollführt im Fernsehen einen Tanz auf rohen Eiern und verhängt dann doch einen Baustopp. Als ich am Nachmittag vor dem Bauzaun stehe, ist davon noch nichts zu sehen. Kräne drehen sich, Bagger schieben Erde zusammen.
Dabei sollte man es gerade hier besser wissen. Der allzu laxe Umgang mit der Geschichte zerstörte in den Tagen der Perestroika die Karriere des sibirischen Parteibonzen Ligatschow, des zweiten Mannes nach Gorbatschow. Damals kam heraus, dass der KGB unter Ligatschows Führung Anfang der achtziger Jahre versucht hatte, die Spuren eines grausamen Verbrechens zu vertuschen. Ein zu nahe am Ufer des Ob gelegenes Gefängnis war plötzlich vom Steilhang in den Fluss gesackt. Zum Vorschein kamen die Leichen Erschossener, die im Sandboden nicht verwest, sondern mumifiziert waren. Eine nach der anderen rutschten sie ins Wasser und quollen auf. Der Fluss füllte sich mit dahintreibenden Toten. Anstatt die Terroropfer in Würde zu beerdigen, schwärmte der KGB in Booten aus, um sie einzufangen und mit einer Drahtschlinge um den Hals, beschwert mit Schrotteilen, auf den Grund des Ob zu schicken.
Vor diesem Hintergrund erscheint selbst ein „einfaches“ Umbetten der gefundenen Knochen als Entwicklungssprung.
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China als willkommenes Vorbild
Ein kleines Büro in einem Plattenbau im Zentrum von Nowosibirsk. Julia Hanske lächelt wissend. Meine Beobachtungen sind für sie nichts Neues. Sie hätte es nicht anders erwartet. Die junge Frau leitet seit Jahren den Vorposten des Goethe-Instituts in Sibirien. Sie hat die Lesereise mit ihren Mitarbeitern vorbereitet und freut sich jetzt, dass zum Abschluss des deutsch-russischen Jahres auch Stalin nicht vergessen wird. In einem Land, das all zu gern vergesslich ist, wenn es um diesen Teil der Geschichte geht.
Ihre eigene, erst wenige Tage zurückliegende Erfahrung mit den stalinistischen Metastasen betrachtet sie fast so gelassen, wie es die Russen auch tun würden. Nicht nur die Münchner Zentrale, auch das Außenministerium in Berlin und die deutsche Botschaft in Moskau wurden aufgeschreckt, als sie hörten, dass das Büro in Sibirien durchsucht werden sollte. In der Begründung der Staatsanwaltschaft geht es um nicht weniger als die „Abwehr von Extremismus“. Ein neues „Agenten“-Gesetz soll unter Organisationen und Stiftungen Angst schüren. Und das tut es auch.
In derlei Fragen orientieren sich die Mächtigen im Kreml weniger an den Standards Europas, gern aber an denen Chinas. Die Demokratie mit ihren Wahlen und Protesten scheint Putin zunehmend anzustrengen. Peking zeigt, dass man auch ohne das erfolgreich sein kann. Und der Westen akzeptiert es - um der Geschäfte willen. Wer mit offenen Augen durch Nowosibirsk oder Krasnojarsk geht, kann die Nähe zu China nicht übersehen. Auf den Märkten, in den Geschäften, ja selbst beim Frühstück im Hotel: Überall in Sibirien sind die Chinesen präsent. Der Westen irrt, wenn er glaubt, dass es für Russland nur einen Weg gibt. Selbst der Umgang mit Stalin weist Parallelen zu dem Umgang mit Mao im Reich der Mitte auf. Über die Art der Deutschen, sich ihrer Geschichte zu stellen - Selbstvergewisserung durch Selbstkasteiung - wundert man sich da nur.
Unter Stalin wäre das nicht passiert
Meine Begrüßung: „Hier meldet sich Agent 08/15“, beantwortet die Institutschefin mit Heiterkeit, wie es auch die Zuhörer bei den Lesungen tun. Immerhin, der Wandel ist unverkennbar: Man kann in Russland über derlei Dinge heute wenigstens Späßchen machen. Mein Vater, ein deutscher Emigrant, ist 1937 noch unter dem Vorwand, „Agent der Weltbourgeoisie“ zu sein, in den Gulag gesperrt worden.
Über die Gründe, warum die Durchsuchung des Instituts letztlich doch nicht stattfand, lässt sich nur spekulieren. Julia Hanske erklärt sich den Wirbel mit einem eifrigen Beamten in der Provinz, der besondere Wachsamkeit demonstrieren wollte. Als selbst die örtliche Politik auf den Vorgang entsetzt reagierte - gerade Nowosibirsk zeigt sich als drittgrößte Stadt im Land gern weltoffen - wurde die Aktion ohne ein Wort der Erklärung abgebrochen.
Bis zum nächsten Mal.
Ohnehin hat die Masse der Russen von den Vorgängen fast nichts mitbekommen. Etwas Aufregung im Internet, das war’s. Die Menschen in Russland beschäftigt in diesen Tagen ein ganz anderes Thema: Das neue Antirauchergesetz. Wo darf man sich noch eine Zigarette anzünden, wo nicht? Das Land, in dem weltweit die meisten Raucher leben, rätselt.
Nur eines ist sicher: Bei „Väterchen“ Stalin wäre das nicht passiert. Er war das Gesetz. Und er war leidenschaftlicher Raucher.
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