Monday, November 04, 2013

INTERVIEW: Giorgi Margwelaschwili - "In Georgien wird man von der Politik überwältigt". Von Christian Papke (welt.de)



Der frisch gewählte Präsident Giorgi Margwelaschwili will einen neuen georgischen Staat bauen
Foto: PA/dpa Der frisch gewählte Präsident Giorgi Margwelaschwili will einen neuen georgischen Staat bauen
(welt.de) Georgiens neuer Präsident ist kein üblicher Politiker, sondern ein Philosophie-Professor und Ex-Bergführer. Margwelaschwili will mehr Ruhe in den Konflikten mit Russland – und schnell nach Europa.  

Giorgi Margwelaschwili ist zum neuen Präsidenten Georgiens gewählt worden in Wahlen, die als demokratisch und fair gelobt wurden. Er ist Amtsnachfolger von Micheil Saakaschwili und wird unterstützt vom Parteienbündnis Georgischer Traum und dem milliardenschweren Noch-Regierungschef Bidsina Iwanischwili. Christian Papke traf Margwelaschwili zu einem sehr persönlichen Gespräch über Philosophie, Mauern und Visionen in dessen Wohnung in Tiflis.

Die Welt: Sie sind von Ihrer Ausbildung her Philosoph. Was ist Ihre persönliche Lebensphilosophie, um schwierige Zeiten zu überleben, zum Beispiel Politiker zu werden und zu sein?

Giorgi Margwelaschwili: Es ist nicht einfach, die politische Schwungkraft mit philosophischen Begriffen zu beschreiben. Aber zwei der größten Philosophen, die meine Gedanken oder meine Haltungen bestimmt haben, waren Immanuel Kant und Meister Eckhart. Sie haben mir aufgezeigt, dass im Zusammenhang mit der Komplexität der Dinge, die man um sich herum wahrnimmt, diese eventuell nicht genau in diesem Kontext gesehen werden, den die öffentliche Wahrnehmung über sie hat. Aber was das Alltagsleben anbelangt, ist Machiavelli der passende Philosoph, um die Politik allgemein zu verstehen, nicht nur heute in Georgien.

Die Welt: Wenn Sie die Gelegenheit hätten, einen europäischen Philosophen auferstehen lassen zu können, um ihn nach Georgien zu bringen und das Volk zu unterrichten, welcher wäre das und was würden Sie ihn bitten zu lehren?

Margwelaschwili: Ich glaube nicht, dass die politische Philosophie den Kern der Philosophie ausmacht. Die Hauptmasse der Philosophie liegt im Verständnis der Welt, nicht nur der sozialen Prozesse. Ich würde auf die angelsächsische Philosophie und den angelsächsischen Ansatz zurückgehen und Hobbes oder Locke bitten, über das Fundament zu sprechen, wie ein Staat zu ordnen ist.

Die Welt: Was könnten die Philosophen den georgischen Politikern beibringen?

Margwelaschwili: Rationalismus, grundsätzlich Rationalismus! Ein rationales und vernunftorientiertes Denken als Basis politischen Lebens anzulegen. Ich glaube, es wäre sehr eindrucksvoll, wenn viele Politiker von ihrer emotionalen Agenda abrückten und anfingen, über wirklich logische Schlussfolgerungen und die Rettung von Abläufen nachzudenken, politische, wirtschaftliche oder andere laufende Prozesse in unserer Gesellschaft zu reflektieren.
Und außerdem glaube ich, es ist sehr wichtig, dass die Politik in Georgien ruhiger wird. Wir leben hier in einer Gesellschaft, in der die Politik einen überwältigt. Sie hat alle anderen Entwicklungsbereiche in sich aufgesaugt und übermannt. Politik ragt in die Kunst hinein, in Sport, in Wissenschaft, in das öffentliche Leben, in jeden Bereich, der sich in normalen Gesellschaften unabhängig entfaltet. Mäßigung ist etwas, das wir in der Politik lernen müssen, um eine neue Gesellschaft zu bilden, eine Zivilgesellschaft, in der sich alle diese Bereiche unabhängig entwickeln können.

Die Welt: Was in Georgien geht denn in die richtige Richtung?

Margwelaschwili: Die Veränderungen, die wir in den durchregulierten Bereichen umgesetzt haben. Die Aufgabe von Machtpositionen. Ich bin (als Rektor und Bildungsminister, Anmerkung d. Red.) in ein System gekommen, das von speziellen Kräften dominiert wurde, die nur dazu angestellt waren, die Disziplin in den Schulen zu überwachen. Sie kontrollierten nicht nur das Benehmen der Studenten, sondern auch der Lehrer und ihre Richtlinien. Ich habe das einfach geändert.
Wir haben sehr klar kommuniziert: "Big Brother überwacht dich nicht mehr, aber du musst deine Pflichten erfüllen. Andernfalls gibt es angemessene Wirkungsmechanismen." Das ist eines der Beispiele, wie wir das System befreit haben. Wir hatten auch eine riesige Begnadigungswelle, weil wir in einem Land mit 4,5 Millionen Einwohnern in den vergangenen zehn Jahren 330.000 Menschen in Gefängnisse eingesperrt hatten.

Die Welt: Um also die andere Seite der Medaille zu betrachten, welches sind die größten Herausforderungen?

Margwelaschwili: Natürlich die Wirtschaft. Und aktuell ist das auch ein Teil der neuen Freiheit. Denn Unternehmen wurden früher sehr effektiv kontrolliert. Und die Unternehmer wurden insbesondere von hohen Regierungsvertretern darauf hingewiesen, dass sie in diesen oder jenen Bereich reinvestieren sollten. Heute, da ihnen keiner mehr diesen Hinweis gibt, besteht ein Moment der Unlust zu investieren. Viele Unternehmer beobachten nur das politische Umfeld und warten ab, bis sich die Situation beruhigt hat.

Das ist auch eine Form der unternehmerischen Freiheit. Deswegen entwickelt sich die Wirtschaft nicht so zügig. Und wir haben ernsthafte Probleme mit unseren russischen Nachbarn und den zwei Regionen, die seit dem Krieg von 2008 durch Russland besetzt sind. Der Unwille der Russen anzuerkennen, dass in Europa Schranken zu errichten und Mauern zu bauen nichts ist, das irgendetwas Gutes bringt, nicht nur nicht für Georgien, sondern auch nicht für Russland selbst, weder seiner Eigenstaatlichkeit noch seiner Diplomatie, noch seinem Image bei der internationalen Gemeinschaft. Das hat nie Gutes gebracht.

Die Welt: Georgien hat keine territoriale Souveränität. Russland hält 20 Prozent Ihres Landes besetzt. Was kann getan werden?

Margwelaschwili: Ich kenne nur eine Mauer, die nicht zerstört worden ist, das ist die Chinesische Mauer. Alle Mauern in Europa wurden niedergerissen. Auch die innerdeutsche hatte kein langes Leben. So ergeht es Mauern. Selbst Pink Floyd hat dieses Thema hervorgehoben ... Great Pink Floyd! Versuche, eine Grenze zu errichten, stellen in meinem Verständnis bereits ein Scheitern dar. Leider sehe ich, dass die Mauern und Zäune, die derzeit hochgezogen werden, gebaut sind, damit das Volk nicht mehr untereinander kommunizieren kann. Sie haben keine strategische Bedeutung, sie tragen keinen militärischen Inhalt in sich. Es ist nur ein Versuch, die Georgier voneinander zu entfremden. Und zu verhindern, dass die Leute, die in Ossetien leben, intensiver kommunizieren.

Aktuell verursacht das jede Menge Schmerz. Tag für Tag Schmerzen für die normale Bevölkerung. Das beleidigt uns sehr. Der Prozess, der dahinter abläuft, ist ein Versuch der Menschen, die auf beiden Seiten der Grenze leben, sich miteinander in Verbindung zu setzen. Wie in Berlin. Man musste die Mauer bauen, weil beide Teile der Stadt miteinander reden wollten, sich sehen wollten. Selbst in den vielen Fällen, in denen sie politisch andere Einstellungen hatten, wollten sie noch immer miteinander kommunizieren. Es war eine Mauer notwendig, um die Kommunikation zu zerstören.

Die Welt: Es gibt eine jüngere politische Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die festhält, dass die georgische Zivilgesellschaft Nachholbedarf bei seiner staatsbürgerlichen Bewusstseinsbildung hat. Andererseits scheint ein Wert der georgischen Gesellschaft in Gefahr zu sein: die Toleranz. Sehen Sie das auch so?

Margwelaschwili: Wir bauen einen neuen georgischen Staat. Und wenn man einen neuen Staat aufbaut, dann tut man das mit den Bausteinen seiner Individuen und ihrer verinnerlichten Kultur. Man versucht, das Gebäude in Einklang mit diesen einzelnen Bausteinen zu errichten, ohne dabei vom Gesamtkonzept abzuweichen. Wir Georgier sind tolerant, bereit, uns auf andere Gebräuche und Einstellungen einzulassen. Aber es gibt die Herausforderung, sie in soziale Institutionen umzuwandeln und in eine politische Tradition zu überführen.

Es gibt die Herausforderung, einen zeitgenössischen Staat zu bauen, der identisch ist mit seiner Kultur, der georgischen Kultur. Ich meine damit nicht nur Institutionen wie das Parlament, den Präsidenten, die Regierung, sondern es ist auch sehr bedeutsam, dass wir eine Tradition aufbauen. Eine politische Kultur, die eins ist mit unserer sozialen Kultur und der Art entspricht, wie Menschen über die Dinge denken. Unsere soziale Kultur, die Art, wie wir erzogen wurden, ist gänzlich tolerant. Unser Staat wird sagen: "Wir werden sein, wie wir es als natürlich empfinden, wir werden tolerant sein." Und das ist auch realistisch für das politische Haus, in dem wir wohnen wollen. Das entspricht Europa.

Die Welt: Würden Sie sagen: Georgien hat seine Identität schon gefunden?

Margwelaschwili: Kulturell haben wir unsere Identität gefunden und definiert. Wir haben sie in unserem gesellschaftlichen Leben bestimmt, in unseren Traditionen, in unserer Kultur, in unseren lang anhaltenden historischen Erfahrungen. Aber die Übersetzung dessen, der öffentlichen Kultur in die politische Kultur ist noch nicht geschehen. Das muss passieren. Wir müssen das europäische Georgien bauen, das – noch einmal – nicht in Widerspruch zum traditionellen Georgien steht.

Die Welt: Welche gesellschaftlichen Transformationen, Veränderungen in der Zivilgesellschaft, was konkret wollen Sie als Präsident erreichen, um diese Vision weiterzuverfolgen?

Margwelaschwili: Ich denke, die Zivilgesellschaft wird wachsen und zwar in die Richtung, ihre Freiheit zu nutzen und darin effektiv zu sein, sie umsetzen zu können. Aber ich habe politische Ambitionen. Mein Bestreben ist es, in fünf Jahren unterschiedliche Herausforderer für die nächsten Präsidentenwahlen zu sehen, europäische Visionäre, die im Wettbewerb miteinander stehen, gut oder die Besten zu sein. Die Tradition einer Zivilgesellschaft sowie ein politisch stabiler Staat sollten dann geschaffen sein.

Ebenso muss die politische Einmischung aus dem Alltagsleben der Bürger verschwunden sein. Sie diktiert dann hoffentlich nicht mehr: Du solltest Geschäfte so machen. Sie erzählt dem Opernsänger nicht mehr: Du solltest ein bisschen anders singen. Sie erzählt dem Maler nicht mehr: Du solltest ein bisschen mehr Blau oder Rot nehmen. Das ist meine politische Ambition für die nächsten fünf Jahre. Und natürlich steht das in Bezug zu unseren internationalen Beziehungen. Je schneller wir zu Europa dazukommen und je ruhiger wir unsere Probleme mit den Russen lösen, desto weniger problematische Kanten gibt es zwischen uns – hier, in der Nachbarschaft und in Übersee.

Die Welt: Und was wird das Erste sein, das Sie ändern werden?

Margwelaschwili: Ich werde anfangen, an die Gesellschaft zurückzukommunizieren. Und ich werde versuchen, das politische Umfeld zu stabilisieren. Man muss der Gesellschaft erklären, was es bedeutet, einen neuen Präsidenten zu haben. Es ist sehr wichtig, zu kommunizieren und neue Regeln in einem neuen Umfeld zu schaffen. Das wird den Boden bereiten und schafft das Fundament für wirtschaftliche Entwicklung.

Die Welt: Was kann Georgien zum europäischen Kontext und der europäischen Identität beitragen?

Margwelaschwili: Wir sind eine Brücke. In mehrfacher Hinsicht. Sowohl auf politischer wie auch auf wirtschaftlicher Ebene. Wir sind eine Brücke zwischen zwei beträchtlichen Wirtschaftsräumen, dem kaspischen Raum und der Schwarzmeerregion. Wir bieten eine sehr interessante Handels- und Wirtschaftsmöglichkeit an, sowohl für Europa wie auch für Asien. Wir sind bei Fragen regionaler Sicherheit ein sehr ernst zu nehmender Partner und aktiv in Fragen der internationalen Sicherheit engagiert.

Wir können einen kulturellen Einstieg für asiatische Prozesse anbieten, weil ich glaube, dass wir Georgier als Europäer Asien sehr gut verstehen. Wir sind auch Teil der asiatischen Kultur und können damit ein attraktiver Akteur des europäischen Prozesses sein, ein sehr interessanter emotionaler, kultureller, wachstumsfähiger Akteur des europäischen Prozesses. Vielleicht wirtschaftlich kein Schwergewicht, aber kulturell und erfahrungsmäßig können wir eine Menge interessanter Themen in die europäische Diskussion einbringen.

Die Welt: Was würden Sie sagen, warum es Sinn habe, am Wochenende nicht schon wieder nach Wien oder Rom oder Paris zu fahren, sondern nach Georgien zu kommen?

Margwelaschwili: Als Bergführer, einem meiner früheren Berufe, kann ich diese Frage sehr genau beantworten. Ich glaube, es ist sehr selten, dass man an einem Ort auf so kleinem Raum so viel Verschiedenes finden kann: das Schwarze Meer, die Berge, Skigebiete, Wandergebiete, selbst Wüste. Hinzu kommt, dass alle 15 Kilometer verschiedene Mikrokulturen zu finden sind. Denn die Menschen am Schwarzen Meer sprechen eine andere Sprache, sie haben andere Traditionen, sie haben eine andere Küche. In den Bergen ist wieder alles anders. Man kann die ganze Welt sehen, wenn man ein paar Wochen zu uns kommt.

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