Friday, November 29, 2013

SONDERAUSSTELLUNG: Bekämpft, bedrängt, bescheiden - das Volk der Tscherkessen in Hamburg (welt.de)

(welt.de) Das Völkerkundemuseum stellt das Volk der Tscherkessen vor. Die Schau dokumentiert deren Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung


Bescheidenheit und Zurückhaltung sind als soziale Normen in der Kultur der Tscherkessen fest verankert. Trotzdem wagen sich jetzt Angehörige des 5000 Jahre alten kaukasischen Volkes ins Licht der Öffentlichkeit. An der Verwirklichung der Ausstellung "Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht" im Völkerkundemuseum beteiligen sich rund 100 Tscherkessen aus verschiedenen Ländern. Ein solches Projekt habe es noch nie gegeben, sagt Museumsdirektor Wulf Köpke.

Die Schau will das weitgehend unbekannte Volk der einstigen Krieger, Reiter und Landwirte vorstellen und dabei auch über sein Schicksal aufklären. Vor 150 Jahren wurden die Tscherkessen aus ihrer Heimat am Schwarzen Meer vertrieben. Am 21. Mai 1864 endete der Kaukasuskrieg mit der Unterwerfung durch die Armee des russischen Zaren.

Mehr als 80 Prozent der Tscherkessen wurden in das damalige Osmanische Reich zwangsumgesiedelt. Allein bei der Flucht über das Schwarze Meer kamen mehr als 100.000 Menschen ums Leben, viele starben in der Folge an Hunger und Krankheiten. Dieser Völkermord, von dem die Welt heute erschreckend wenig weiß, sei "ein unglaubliches Trauma", so Köpke.

Den Anlass für die Ausstellung gab somit eine Entwicklung, die für viele Tscherkessen alte Wunden aufreißt. Just in der Heimatregion der Vertriebenen lädt Russland zu den Olympischen Winterspielen 2014. Die subtropische Stadt Sotschi ist nicht nur der Austragungsort der teuersten Winterspiele aller Zeiten: In Sotschis neuem Wintersport-Resort Krasnaja Poljana fand die letzte blutige Schlacht gegen die Russen statt.

"Jeder Sportler muss wissen, dass unter den Skipisten die Gebeine unserer Ahnen liegen", sagte Iyad Youghar, Vorsitzender des Internationalen Komitees der Tscherkessen. Die Verzweiflung über die Entweihung des Ortes sei groß, erklärt Köpke. Die Demütigung schlägt vor allem bei den jungen Leuten in Aggression um, zumal sie spüren, wie ihnen die eigene Kultur außerhalb der Heimat langsam entgleitet.

Die meisten Tscherkessen, etwa zwei Millionen, leben heute in der Türkei. Doch das muslimische Volk ist über die ganze Welt verstreut, fand in Syrien, Israel, den USA und in Europa ein Zuhause – in Deutschland gibt es rund 50.000 Tscherkessen. Im Nordkaukasus sind in drei autonomen Republiken noch etwa 700.000 heimisch, viele wohnen auf dem Land, "weil sie dort noch ungestört als Tscherkessen leben können", berichtet Köpke, der die Region jüngst bereist hat. Aufgrund der langen Migrationsgeschichte war es nicht leicht, Exponate für die Ausstellung zu finden, vieles ist für immer verloren. Dennoch gelang es, mit Hilfe von Sammlern und Familien, eindrucksvolle Stücke zusammenzutragen. Dazu gehören kostbare Waffen wie Säbel und Schwerter, mit denen viele Tscherkessen auch heute noch geschickt umzugehen wissen, denn die traditionelle Selbstdefinition als Krieger bedeutet ihnen viel.

Zu sehen sind auch Hausratsgegenstände des gastfreundlichen Volkes, ferner Gerätschaften aus der Landwirtschaft. "Die Tscherkessen hatten den grünen Daumen", sagt Köpke. Außerdem waren sie fähige Reiter: Ein kostbarer, dem Bescheidenheitscredo entsprechend unscheinbarer, nur mit Silber verzierter Sattel wird ebenfalls gezeigt. Einst betrug der Wert dieses Sattels 15 bis 20 Ochsen. Schlicht und schön wie Nutzgegenstände, Schmuck und Waffen war auch die Kleidung der Tscherkessen. Zum Beispiel ist ein Männergewand von 1850 ausgestellt, eines der wenigen Objekte aus der Zeit vor der Vertreibung. Besonderes Merkmal: ein Einschussloch. Neben den Exponaten, die auf die ethnische Identität verweisen, sind viele Fotos zu sehen. Karten erzählen von den Wanderbewegungen, Texte klären unter anderem über die schwierige Sprache auf, die acht Vokale und 74 Konsonanten besitzt.

Im Zentrum der tscherkessischen Kultur steht der Verhaltenskodex Adyghe Xabze, der alle Lebensbereiche durchdringt und auch in der Diaspora bewahrt wurde. Bescheidenheit ist danach die größte Zier, Protz und Prunk verpönt, Respekt vor Älteren und Frauen selbstverständlich. Das Moralgebäude beeindruckte einst die Nachbarvölker so sehr, dass sie ihre Kinder von den Tscherkessen erziehen ließen.

Angesichts der eindrucksvollen Kultur sei bei den Vorbereitungen das Olympia-Thema mehr und mehr an den Rand gerückt, erklärt Köpke. Schließlich sei ein Volk zu präsentieren, das derzeit neues Selbstbewusstsein erlangt. Es sei nicht das Anliegen der Ausstellung, die Vergangenheit zu beklagen, sondern gehe darum, die Tscherkessen bekannt zu machen. Und: "Man soll sie bewundern. Wegen ihrer Stärke, ihrer Integrität, ihrer Schläue, ihrer Bescheidenheit."

Tscherkessen-Ausstellung vom 24. November bis 25. Mai, Völkerkundemuseum


So 24. November 2013 – 25. Mai 2014
Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht
Ein legendäres Volk neu entdecken


Die Tscherkessen sind eines der ältesten Völker Europas, seit Jahrtausenden leben sie im Nordwesten des Kaukasusgebirges. Im 19. Jahrhundert gehörten die Tscherkessen zu den bekanntesten Völkern in ganz Europa und wurden als Krieger und Reiter bewundert sowie für ihre Schönheit, Eleganz und Tapferkeit gerühmt.

Nach ihrer Vertreibung 1864 durch die Armee des russischen Zaren geriet das einstmals legendäre Volk immer mehr in Vergessenheit. In ihrer einstigen Hauptstadt Sotschi finden 2014 die olympischen Winterspiele statt. Für viele ist der beliebte Badeort im Kaukasus ein Urlaubsparadies, für Tscherkessen jedoch ein Ort großer Trauer. Genau 150 Jahre vor der Olympiade endete dort die letzte Schlacht gegen Russland. Die olympischen Spiele rücken die Heimatregion der Tscherkessen erneut ins Licht der Öffentlichkeit – Anlass genug, um dieses berühmte Volk für uns neu zu entdecken.

Die Ausstellung spürt seinem Schicksal nach und porträtiert ein in alle Welt verstreutes Volk, das seine Kultur und Sprache am Leben erhalten hat. Was verbindet die Tscherkessen heute und welche Themen bewegen sie? Um Fragen nach Identität und Erinnerungen zu stellen, hat das Museum Kontakt zu zahlreichen tscherkessischen Verbänden und Privatpersonen aus aller Welt aufgenommen, die an der Ausstellungskonzeption mitgewirkt haben.

Ein Ausstellungsprojekt des Museums für Völkerkunde Hamburg in Kooperation mit vielen tscherkessischen Vereinen und Privatpersonen.

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(dtj-online.de) Sotschi: Das Schicksal der Tscherkessen

Sotschi wird Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014 sein. Das Museum für Völkerkunde will das Ereignis zum Anlass nehmen, um in Kooperation mit den Tscherkessen selbst an das Schicksal des fast vergessenen Volkes zu erinnern.

Das Museum für Völkerkunde Hamburg will in Kooperation mit Vertretern der Volksgruppe der Tscherkessen die bevorstehenden Winterspiele in Sotschi zum Anlass nehmen, um an ein historisches Ereignis in Sotschi zu erinnern, dem in der Vergangenheit kaum Beachtung geschenkt wurde: die gewaltsame Vertreibung von bis zu 1 Millionen Tscherkessen aus ihrer Heimat im Kaukasus. Genau 150 Jahre vor den Olympischen Spielen endete dort die letzte Schlacht gegen das russische Kaiserreich und die Vertreibung eines der ältesten Völker Europas begann. Das Museum für Völkerkunde Hamburg hat den Tscherkessen nun eine Sonderausstellung gewidmet. Der Direktor des Museums, Herr Prof. Dr. Köpke, sprach mit dem DTJ über das Volk der Tscherkessen und Sotschi.

Herr Prof. Dr. Köpke, wer genau sind die Tscherkessen, woher kommen sie und warum richtet Ihr Museum eine Sonderausstellung für dieses Volk aus?

Das ist eine längere Geschichte. Ich selbst habe mich bereits sehr früh für die Völker des Kaukasus interessiert. Im Rahmen meiner Recherchen zu den Grundlagen der europäischen Kultur, die ich seit den 1980er-Jahren betrieben hatte, als ich Leiter der Abt. Europa im Berliner Völkerkundemuseum war, habe ich mich dann intensiver mit den Tscherkessen und ihren Nachbarvölkern auseinandergesetzt. Die Tscherkessen gelten als eines der „Urvölker“ Europas. Unstrittig ist wohl, dass einige der grundlegenden Kulturtechniken unseres Kontinents, wie der Weinbau, aus dem Nordwestkaukasus stammen. Im Museum für Völkerkunde Hamburg beschäftigen wir uns seit 1993 mit dem Nordwestkaukasus, ausgelöst durch den Unabhängigkeitskrieg Abchasiens von Georgien. Wir wollten damals einfach sachlich über diese nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehr bedeutende geostrategische Region und über ihre Menschen und Kulturen berichten. Daraus entstanden zahlreiche Veranstaltungen mit Abchasen, Tscherkessen, aber auch mit Georgiern und Armeniern. Dies wiederum führte auch zu zahlreichen persönlichen Bindungen und Freundschaften. Von tscherkessischen Freunden wurden wir bereits vor 3 Jahren auf das Problem „Sotschi“ und das Zusammenfallen der Olympischen Winterspiele mit dem 150. Jahrestag des „Sürgün“ aufmerksam gemacht. Wir haben die Wut und das Ohnmachtsgefühl vieler junger Tscherkessen in der Diaspora mitbekommen. Wir haben dann diese Gefühle gemeinsam mit vielen Vertretern der tscherkessischen Vereine analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass das wichtigste Problem der Tscherkessen ist, dass zu wenig Menschen überhaupt wissen, dass es sie gibt. Daher besteht auch die Gefahr, dass alle Proteste gegen Sotschi einfach verpuffen, weil kaum jemand begreift, wer da eigentlich weswegen protestiert.

Daher haben wir uns als Museum zum Ziel gesetzt, durch eine Ausstellung die wunderbare Kultur der Tscherkessen bekannter zu machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus unserer Sicht ist es das wichtigste Ziel, dass tscherkessische Sprache und Kultur weiterhin überleben und blühen. Das ist die ungeheure, viel zu wenig gewürdigte Leistung der Tscherkessen in der Diaspora, dass immer noch Millionen Menschen außerhalb des Mutterlandes die schwierige tscherkessische Sprache beherrschen. In der jungen Generation ist dieses Können aktiv bedroht. Wir wollen die großartige Arbeit der Vereine ergänzen und dazu beitragen, dass junge Tscherkessen wieder stolz auf ihre Kultur sind und weiterhin die Mühe auf sich nehmen, sie zu pflegen. Wenn wir damit ein wenig Erfolg haben, dürfen wir vielleicht die Tscherkessen bei der Pflege ihrer Kultur weiterhin begleiten.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die geringe Beachtung der Geschehnisse von 1864?

Die Gründe sind vielfältig. Natürlich hatte die russische Regierung im 19. Jahrhundert alle Gründe, das Thema nicht mehr zu berühren. Die enge Nationalitätenpolitik der Türkei unter Atatürk und seinen Nachfolgern hat ein Übriges dazu getan. Auch durch die Abschottung der Sowjetunion nach 1945 hat das Interesse an den Völkern im Kaukasus nachgelassen. Und ein wenig scheint die geringe Beachtung auch mit dem tscherkessischen Nationalcharakter zu tun zu haben: Meiner Erfahrung nach sind Tscherkessen eher bescheiden und zurückhaltend, es liegt ihnen, glaube ich, nicht, andere sehr stark auf sich aufmerksam zu machen. Hinzu kommt die starke Traumatisierung eigentlich aller Tscherkessen durch die Ereignisse von 1864 und auch durch die bei vielen darauf folgenden erneuten Vertreibungen. Einige Familien wurden in den letzten 150 Jahren vier Mal vertrieben. Ich glaube, dann verstummt man eher, als dass man lauthals klagt und versucht einfach nur, zu überleben.

Welche historische bzw. emotionale Bedeutung hat Sotschi für die Tscherkessen?

Sotschi und die damit verbundenen Ereignisse des Krieges und der Vertreibung hat für alle Tscherkessen eine hohe emotionale Bedeutung. Allerdings gehen erfahrungsgemäß verschiedene tscherkessische Gruppen damit unterschiedlich um. Gerade in der Türkei, insbesondere unter der jungen tscherkessischen Bevölkerung, scheint mir der Widerstand gegen die Olympischen Winterspiele besonders groß zu sein. Zusammen mit einigen amerikanischen Tscherkessen wurde in diesem Sinne die No-Sotschi-Bewegung initiiert, die Protestkundgebungen und Informationsveranstaltungen in der Türkei, aber auch weltweit organisiert. In den tscherkessischen Republiken im Kaukasus habe ich vor einigen Wochen viele Menschen erlebt, die die Zähne zusammenbeißen, aber sagen, wir können nichts daran ändern. Andere wiederum und gar nicht wenige, meinten, man müsse sich mit den Russen und eben auch mit Sotschi arrangieren, im Übrigen aber daran arbeiten, die eigene Kultur selbstbewusst weiter zu stärken. Auch bei vielen syrischen und jordanischen Tscherkessen habe ich diese Haltung gefunden. Die russische Regierung scheint auf beide Haltungen reagieren zu wollen und verspricht, wie zuletzt der russische Vizepremier Dimitri Nikolajewitsch Kosak am 16. Oktober in Sotschi, vor Vertretern der tscherkessischen Diaspora und der tscherkessischen Republiken eine Stärkung der tscherkessischen Kultur in Russland, ein aktives Gedenken an die Vertreibung 1864 und eine angemessene Vertretung der tscherkessischen Kultur während der olympischen Feierlichkeiten. Was sich davon erfüllt, wird sich im Februar 2014 zeigen und entsprechend werden sicherlich auch die tscherkessischen Reaktionen ausfallen.

Welche Forderungen und Hoffnungen gibt es vonseiten der Tscherkessen in Bezug auf die Winterspiele 2014 in Sotschi?

Es gibt Gruppen, die eine öffentliche Entschuldigung der heutigen russischen Regierung für die Verbrechen Russlands in den Kaukasuskriegen bis 1864 und die sich daran anschließenden Vertreibungen verlangen. Andere sind moderater. Ich zitiere einen Teilnehmer eines unserer Workshops: „Ich möchte, dass bei der olympischen Eröffnungsfeier vor allen anderen Teilnehmern ein Tscherkesse in tscherkessischer Tracht marschiert, der eine tscherkessische Fahne schwenkt und damit deutlich macht, dass das Land von Sotschi eigentlich unser Land ist. Mehr will ich gar nicht.“ Andere Gruppen, vor allem im Land selber, versprechen sich eben das, was die russische Regierung ihnen jetzt angeboten hat: eine Stärkung ihrer kulturellen und ökonomischen Lage im Rahmen der jetzigen politischen Situation. Aber alle wünschen sich, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für die Region auch dazu führt, dass möglichst viele Tscherkessen sich wieder in der alten Heimat ansiedeln mögen.

Wo leben die Tscherkessen heute? Wie viele leben in Deutschland, wie viele in der Türkei?

Es ist schwer, Zahlen zu nennen. Regierungen tendieren dazu, diese Zahlen möglichst niedrig anzusetzen, tscherkessische Organisationen neigen gelegentlich dazu, sie sehr hoch anzusetzen. Wirklich verlässliche Zahlen gibt es eigentlich nicht. Es ist auch die Frage, ob man alle mit ein bisschen tscherkessischem Blut in den Adern als Tscherkessen zählt oder nur die, die sich auch selber als Tscherkessen fühlen und bekennen. Andere wiederum möchten nur die anerkennen, die auch die tscherkessische Sprache beherrschen.

Ich denke, wenn man von einem mittleren Standpunkt ausgeht, also davon, wer sich selbst als tscherkessisch fühlt, kann man insgesamt weltweit von etwa 4 Millionen Menschen ausgehen. Das ist mehr als eine ganze Reihe etablierter europäischer Staaten an Einwohnern hat. Von diesen 4 Millionen leben schätzungsweise knapp 900 000 in Russland, etwa 50 000 in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich, je etwa 100 000 in Syrien und in Jordanien, kleinere Gruppen im Irak, in Libyen, in Israel und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, 10 000 in Australien, etwa 15 000 in den USA. Weit über 2 Millionen Tscherkessen leben also in der Türkei.

Mehr: voelkerkundemuseum.wordpress.com

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