Der nahen Heimat so fern
Von André Widmer, Baku (Text und Fotos)
Einsam hütet ein Hirte in der kargen Gegend von Zobucq auf einer Anhöhe seine Schafe. Das Gebiet hier ist wüstenartig. Etwas unwirtlich. Fernab von den fruchtbaren Tiefebenen Aserbaidschans, viele Fahrstunden weg von der Haupstadt Baku im Hinterland. In der Ferne ist ein alter Lada, ein Auto russischer Bauart, zu sehen. Zobucq umfasst fünf Siedlungen und liegt in der Provinz Fizuli. Hier leben Flüchtlinge, die 1993 während des Krieges um Nagorno-Karabach ihre Heimat, benachbarte aserbaidschanische Provinzen, aufgrund der Besetzung durch armenische Truppen verlassen mussten. Die Häuschen der Flüchtlingssiedlung sind relativ modern. Jede Parzelle hat etwas Land. In den meisten kleinen Gärten wird ein klein wenig Mais angepflanzt. Es gibt Wasserleitungen. Strommasten durchziehen die Umgebung, versorgen die Leute. Es hat ein ansehnliches Schulgebäude. Wenige Kilometer von den künstlich in die Landschaft gestellten, lagerartigen Dörfchen entfernt verläuft die ehemalige Front. Hinter dieser Linie liegen die von Armenien besetzten Provinzen Aserbaidschans inklusive Nagorno-Karabach.
„Wir wollen wieder die Gräbern unserer Urahnen sehen“
An diesem vergleichsweise milden Sommerabend befinden sich Cechran Khudawerdi und einige Männer vor einem Haus an einer Einfallstrasse zu einem Siedlungsteil von Zobucq. Khudawerdi und seine Kollegen arbeiteten in der Sowjetzeit als Lehrer, Journalisten, Regierungsangestellte, in der Landwirtschaft auf Sowchosen oder Kolchosen. Nun müssen sie hier in Zobucq tatenlos ausharren. In dieser Gegend von Aserbaidschan gibt es nicht viel zu tun. Es herrscht Arbeitslosigkeit. Immerhin erhalten die Flüchtlinge finanzielle Unterstützung durch den Staat. Die Männer stammen aus den besetzten Provinzen, leben mit ihren Familien nur wenige Kilometer von ihrer geliebten Heimat entfernt, getrennt nur durch die Demarkationslinie. „Wir sind bereit, zurück zu kehren. Wir möchten wieder die Gräber unserer Urahnen besuchen. Wenn sie das Friedensabkommen unterzeichnen, wären wir bereit, mit den Armeniern zusammen zu leben“, sagen Khudawerdi und die Männer. Sie reden emotional, aber ohne erkennbaren Hass. Ein grosser Schritt angesichts des erduldeten Leids. Als der Anfangs der 90er-Jahre der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um das mehrheitlich armenisch, aber völkerrechtlich zur Aserbaidschan gehörende Gebiet von Nagornyi-Karabach wütete, rückten die Truppenverbände Armeniens 1993 weit ins innere des Nachbarlandes ein und besetzten sieben weitere Provinzen. 40 000 Menschen starben. Wie Chechran Khudawerdi mussten gegen 800 000 Aserbaidschaner fliehen. 300 000 Armenier nahmen den Weg in die andere Richtung unter die Füsse: Eine in der Nachsowjetära unvergleichliche ethnische Trennung. Aserbaidschan, erst aus der UdSSR in die Unabhängigkeit entlassen, sah sich plötzlich mit einer riesigen humanitären Aufgabe konfrontiert. Über das gesamte Staatsgebiet Aserbaidschans verteilt wurden zunächst Zeltlager errichtet, Schulen und Turnhallen umgenutzt. Viele Flüchtlinge lebten in geringer Infrastruktur. In den letzten Jahren wurden die Zeltlager durch 61 reguläre Häusersiedlungen ersetzt. Selbst vor den Toren Bakus beim Flughafen hat es ein neu erstelltes Quartier.
Die Nacht ist über der Provinz Fizuli hereingebrochen. In einem Gebäude der Minenräumungsgesellschaft Anama in Horadiz sitzt Ramasan Heydarow an einem Plastiktisch und trinkt Tee. „Ich habe keinen Computer und keinen Fernseher. Ich will von all der Gewalt in der Welt gar nichts mehr sehen. Wenn ich denke, was sich die Menschen so alles antun, bin ich zufrieden, mit den Hunden zu leben“, sagt er. Heydarow hat in der damaligen UdSSR Kynesiologie studiert und betreut zusammen mit einem Veterinär und einem weiteren Angestellten die 32 Minensuchhunde auf der Basis. Zuvor führte er Drogenspürhunde auf dem Flughafen von Baku. Und in den 80ern diente er der roten Armee in Afghanistan. „In einem Spezialkommando“ – weiter will er offenbar nicht darauf eingehen
„Minenfelder und Kampfgebiete“
Am Morgen darauf bei den Flüchtlingssiedlungen von Zobucq. „Wir unterscheiden zwischen Minenfeldern und Kampfgebiet“, erzählt Habil Babayew. Er ist Gruppenführer bei der staatlichen Minenräumungsgesellschaft Anama. Seine Männer sind draussen im Feld bei der Arbeit zu sehen. Sie sollen die Felder nach Minen und Blindgängern absuchen. „Damit das Gebiet für Landwirtschaft genutzt werden kann“. Die heutige Schicht begann früh, da im Landesinnern Aserbaidschans tagsüber wegen den hohen Temperaturen an Arbeiten mit Schutzwesten und Helm kaum zu denken ist. In einem Bereich suchen die Männern mit Metalldetektoren, im zweiten Feld pflügt ein ferngesteuertes, einem Mähdreschervorsatz ähnelndes Metallkoloss sich 20 Zentimeter in den Boden. Der Maschinenführer ist etwa 150 Meter vom Gefährt entfernt, um bei einer Detonation nicht getroffen zu werden. Verrostete Granaten, Mörser und Panzerminen sind in einem separaten Sektor deponiert. Babayew erklärt auf einer Karte, wie das Feld unterteilt ist; im Hintergrund steht ein Ambulanzwagen. „Wie lautet Ihre Blutgruppe?“ will Babayev zur Sicherheit wissen. Werden Minen oder Blindgänger gefunden, werden sie wenn möglich vor Ort zur Explosion gebracht. Die Nachkontrolle führt man mit Suchhunden durch. Nach jeden paar Quadratmetern, die die Hunde abgeschnuppert haben, erhalten sie Komplimente ihrer Führer. „Für die Hunde ist das alles ein Spiel, deshalb müssen sie gelobt werden. Sonst verlieren sie schnell mal das Interesse daran“, sagt Ramasan Heydarow, der Hundebetreuer.
Die Organisation Anama wurde 1998 gegründet, um sämtliche Minen- und Blindgängerräumungsaktivitäten in Aserbaidschan nach dem Karabachkrieg zu koordinieren und beschäftigt heute insgesamt über 500 Leute. Die Aufgabe für Anama ist immens und wird noch viele Jahre dauern: Von 305 Quadratkilometern Aserbaidschans, die kontaminiert sind oder waren, sind erst 78 Quadratkilometer geräumt. Werden Nagornyi-Karabach und die anderen Provinzen befreit, rechnet man mit weiteren 350 bis 800 Quadratkilometern. Die jahrelange Erfahrung der Arbeit im Feld bringt es mit sich, dass mittlerweile Georgier, Afghanen, Tadschicken und Libanesen sich in der Technik der Minenräumung von Anama unterweisen lassen. Zudem wird in den Dörfern und Schulen die Bevölkerung über die Gefahr von Blindgängern informiert und bei Gandjar im Nordwesten Aserbaidschans unterstützt man eine kleine Teppich- und Stoffwerkstätte, wo Familienangehörige von Minenopfern etwas Geld verdienen können.
„Internationale Geneinschaft liess uns im Stich“
Zurück in Baku. Ali Hasanow ist Vorsitzender der Flüchtlingskommission Aserbaidschans. Ein Mann mit stattlicher Postur. Mit seinen grau melierten, nach hinten gekämmten Haaren und den dicken schwarzen Augenbrauen erinnert er an den früheren sowjetischen Staatsführer Leonid Breschnew. „Ich arbeite seit 41 Jahren in ähnlichen Funktionen“, beginnt Hasanow das Gespräch und hält zuerst ganz an alte kommunistische Funktionärszeiten erinnernd einen 20-minütigen Dialog. „Als simpler aserbaidschanischer Bürger ist es meine Meinung, dass Armenien fremdgesteuert ist, schon seit der Zarenzeit. Es ist in eigentlicher Mechanismus, liegt in der Psychologie der Armenier“. Dann kommt er endlich zum eigentlichen Thema. „Das Thema der Flüchtlinge betrifft meine Familie selber. Meine Eltern mussten fliehen“, erzählt er. Insgesamt 1,3 Millionen Flüchtlinge würden in Aserbaidschan derzeit leben. „Bei den ersten Unruhen zwischen 1988 und 1992 kam es zu einer ersten Flüchtlingswelle von 250 000 Aserbaidschaner, die in Armenien wohnten und flohen“, so Hasanow. Wegen des Kriegs um Nagorno-Karabach, der Besetzung von mehreren aserbaidschanischen Provinzen durch armenische Truppen und armenisch-karabachische Paramilitärs sowie den ethnischen Säuberungen flohen weitere 600 000 Menschen ins Landesinnere Aserbaidschans. „Die internationale Gemeinschaft liess uns mit dem Problem alleine, nur NGO`s halfen uns zunächst“. Da die Menschen völkerrechtlich definiert innerhalb des eigenen Landes flohen, galten und gelten sie nach UNHCR-Kriterien nicht als Flüchtlinge, sondern als „internal deplaced persons“, kurz IDP`s. „Das Problem ist, dass die UNO-Konventionen nur Flüchtlinge betreffen, nicht aber IDP`s. Doch 70 Prozent der Geflüchteten weltweit sind IDP`s“, so Hasanow.
„Wir verlieren langsam unsere Geduld“, sagt der General
Ramiz Nadjafow ist General der aserbaidschanischen Armee und im Verteidigungsministerium zuständig für internationale militärische Zusammenarbeit. Bereits 1994, also im Jahre des Waffenstillstandabkommens mit Armenien nach dem Krieg um Karabach unterzeichnete der damalige aserbaidschanische Staatspräsident Heydar Alliew den Vertrag für „Partnerschaft für den Frieden“ mit der Nato. General Nadjafow betont im Gespräch die gut funktionierende Kooperation mit dem westlichen Militärbündnis. Im Zuge dieser Zusammenarbeit habe man die eigenen Streitkräfte modernisiert und auf Niveau der Nato gebracht. 1200 Offiziere durchgehen die Nato-Ausbildung. „Wir lernen von den führenden Nationen“, sagt der General. Diese Erklärungen sollte man allerdings in einem grösseren Zusammenhang sehen.
Derzeit stehen 65 000 Soldaten an der etwa 1000 Kilometer langen Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan; von der Grenze im Norden zu Georgien bis in den Süden zum Iran und entlang der Grenze der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan zu Armenien. Man verzeichne täglich an der Demarkationslinie Feuergefechte. „Scharfschützen, aber keine schweren Waffen“, so General Nadjafow. Man lässt sich zwar nicht provozieren, doch: „Unsere Armee ist nicht mehr die von 1993. Wir haben neue Waffensysteme, sind stärker. Wir sind in der Lage, diese Mission zu erfüllen“. Mit „dieser Mission“ meint er die Befreiung von Nagorno-Karabach und den weiteren Provinzen Aserbaidschans. Seit 15 Jahren werde nun im Rahmen der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE der Karabachkonflikt erörtert – ohne konkrete Ergebnisse. Sein Land habe alles Recht auf seiner Seite, seine territoriale Integrität wieder herzustellen. „Es gibt mehrere Uno-Resolutionen, die Armenien zum Verlassen dieser Gebiete auffordern. Doch der Druck der internationalen Gemeinschaft ist zu klein“, sagt er. Nadjafov betont zwar ausdrücklich, dass die diplomatischen Mittel noch nicht ausgeschöpft seien. „Aber in der Realität verlieren wir langsam die Geduld“. Man habe die Möglichkeiten, die Gebiete innerhalb kurzer Zeit zu befreien, sagt der General.
Höchstmögliche Autonomie innerhalb Aserbaidschans
Ähnlich sieht es auch Elchan Polukhow , Sprecher des aserbaidschanischen Aussenministeriums. Man sei bereit für weitere Verhandlungen, aber man halte sich das Recht offen, alle Mittel auszuschöpfen, auch die militärischen. „Potential für die Diplomatie ist noch vorhanden. Aber wir werden kaum noch einmal 15 Jahre so weiter diskutieren“, sagt er. Das Angebot Aserbaidschans an Armenien stehe, nun gelte es für das Nachbarland, endlich auch einen Schritt zu machen. Die Offerte Aserbaidschans an die Besatzer von 16 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebietes beinhaltet die höchstmögliche Autonomie für Nagorno-Karabach innerhalb der aserbaidschanischen Republik. Analog der aserischen Enklave Nachitschewan würde Karabach ein regionales Parlament erhalten und könnte in Baku ein Verbindungsbüro betreiben. „Wir würden auch finanzielle Investitionen in Armenien selber tätigen“, sagt Polukhow. Voraussetzung dafür sind zuerst der Rückzug der armenischen Truppen aus den besetzten Gebieten um Karabach und die Wiedereröffnung aller Verkehrsverbindungen. Friedenstruppen der UNO oder der OSZE sollen danach die Rückkehr der aserischen Flüchtlinge in ihre Heimat überwachen und ein friedliches Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidschanern sichern. „Auch wenn wir verstehen, dass die Vermittler eine generelle Position einnehmen müssen: Wir wollen, dass die Mediatoren die Sache beim Namen nennen: Es ist eine Agression und Besatzung durch Armenien“, stellt er fest. „Diese Region ist zu klein für sechs Nationen“. Er meint damit neben Georgien, Armenien und Aserbaidschan die umstrittenen Sezessionsgebiete Abchasien, Südossetien und eben Nagorno-Karabach. „Wir können doch nicht die Büchse der Pandora öffnen“, so Polukhow.
Und dann erzählt Elchan Polukhow eine Begebenheit, die die internationalen Medien gänzlich ignoriert haben: 2007 und 2009 hat der in Moskau stationierte aserbaidschanische Botschafter von der aserbaidschanischen Seite her reisend Nagorno-Karabach besucht und ist weiter nach Eriwan zu Gesprächen gefahren. Es mag ein symbolischer Schritt sein, doch die Eingeständnisse Aserbaidschans sind signifikant. Auch wenn sich 2008 sowohl Aserbaidschan als auch Armenien für eine friedliche Lösung ausgesprochen haben, ist die eine Eskalation dieses Konflikts im Südkaukasus nach wie vor nicht auszuschliessen.
Sunday, April 11, 2010
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