Friday, January 18, 2013

FOTOGRAFIE: Rena Effendi. Land ohne festen Boden (photonews-blogbuch.de)

(photonews-blogbuch.de) Mit seinem roten Kunststoffumschlag gaukelt das kleinformatige Buch irgendwas zwischen Mao-Bibel, Lehrbuch und privatem Fotoalbum vor. Ein Schmetterling ist auf der Front eingeprägt, dazu Name und Titel. In Gold. Das Vorsatzpapier besteht aus ornamentalen Mustern, genaueres Hinsehen identifiziert diese als Reihungen weiterer Schmetterlinge. Das mag ein wenig zu viel des Guten sein, verweist aber auf den Inhalt: In der Tat findet man in dem Buch immer wieder Bilder von Schmetterlingen. Mein liebster Schmetterling ist jener mit grün-weißer Färbung, der uns aus der Dunkelheit ins Licht entgegen schwebt. Aber dann ist es gar kein Schmetterling, sondern ein kleines Mädchen, das aus der Tiefe des Raumes kommt. Der halb entblößte Körper ist über und über mir grünen Farbschlieren bedeckt. Eine Creme gegen Windpocken, wie man aus dem Titel kombinieren kann.

Ein Rückblick: Rena Effendi, 1977 in Aserbaidschan geboren, ist zunächst als Übersetzerin, später als Fotografin für die großen Ölgesellschaften in ihrem Heimatland tätig. Nachdem sie für diese einen PR-Kalender über die Pipeline fotografiert hat, regt sich ihr soziales Gewissen. Ein zweites Mal bereist die Insiderin die 1700 km lange Route der Pipeline, die vom Kaspischen Meer bis zum Mittelmeer reicht. Sie porträtiert deren Anwohner, die, im Gegensatz zu den Adressaten des Rohstoffes, bitterarme Existenzen führen. Ihre Langzeit-Dokumentation, die in dem Buch „Pipe Dreams“ mündet, wird schließlich mit Preisen überhäuft.

„Land ohne festen Boden“ knüpft an das Thema an, denn die Fotografin schildert das Leben derjenigen, die auf der Halbinsel Abşeron am Kaspischen Meer leben, dem wichtigsten Erdölförderungsgebiet Aserbaidschans. Was für ein drastischer Unterschied zu dem offiziellen Bild des Landes, welches während des letztjährigen Eurovision Song Contest von Baku aus in die Welt vermittelt wurde. An den Rändern von Baku und anderer Städten leben jene, die in der Hoffnung auf bessere materielle Versorgung aus der Provinz gekommen sind, in provisorischen Behausungen zwischen Ölfeldern, Metallschrott und stillgelegten Fabriken. Die Konsequenzen, die sich aus der unerbittlich vorangetriebenen Erdölförderung ergeben, sehen hier so aus: das Trinkwasser ist kontaminiert, die Luft durch Erdöldämpfe verpestet, das Erdreich unter den Häusern instabil, da Öl an die Oberfläche sickert.

Rena Effendi bedient den Betrachter mit düsteren Ansichten, die die Unwirtlichkeit der Randbezirke vorführen. In Ermangelung irgendwelcher Spielplätze hängen die Kinder zwischen den Ruinen der Flüchtlingsunterkünfte und auf den Bergen der riesigen Mülldeponien rum. Die Gewässer, die Effendi dem fröstelnden Betrachter vorführt, sind mit schillernden Ölfilmen überzogen, der Erdboden ist erodiert, die Vegetation ausgelöscht. Es ist die Hölle.

Und die Fotografin zeigt uns weiter: Bewohner, die sich in dem verlassenen Rohbau eines riesigen Unfallkrankenhauses eingerichtet haben. Eine durch Vandalismus zerstörte Bibliothek aus Sowjetzeiten, in der überall Bücher verstreut sind. Ein umgeworfener, verrotteter Kiosk-Pavillon. Vergammelnde Industrieanlagen, Uferflächen, die über und über mit Unrat versehen sind, ungehobene Schiffwracks. Vor dem Betrachter entfaltet sie das drastische Bild eines in Armut versinkenden Milieus. Erschütternd, wie das Elend hier ausgebildet ist, in dem jeder ums Überleben kämpft. Effendi klagt die Verhältnisse mit einer fotografischen Wucht an, die den Betrachter unweigerlich dazu zwingt, sich die Fragen der Akteure zu eigen zu machen.

Damit allein wäre ja schon ohne weiteres jede Zielsetzung erreicht. Aber Effendi bietet nicht einfach eine Sozialreportage, sie nimmt einen Umweg, um ihr Sujet aufzubereiten. So heißt es am Anfang: „Mein Vater Rustam Effendi – ein Dissident, Wissenschaftler und Entomologe, der sein Leben lang dem Studium, Jagen und Sammeln von über 30.000 Schmetterlingen in der Sowjetunion gewidmet hatte- war mein Co-Autor…“ Der Vater ist aber schon lange tot und seine riesige Schmetterlingssammlung ist an das Staatliche Institut für Zoologie gegangen, um dort tragischerweise zu Staub zu zerfallen. Geblieben sind 50 Fotos von bedrohten Arten, die er einst für ein geplantes Buch erstellt hatte.

Effendis Buch ist auch als Erinnerungsalbum zu begreifen und erzählt in einem Prolog die Geschichte des Vaters, der zeit seines Lebens die Familie zugunsten seines wissenschaftlichen Ehrgeizes vernachlässigt. Die Tochter erbt eine Kiste mit Fotos, die neben besagten Schmetterlingsfotos eine Reihe biografischer Fotos enthält, die von einem behänden Umgang des Vaters mit dem Medium Fotografie zeugen. Mit einigen dieser Porträts füttert Effendi ihren Erinnerungstext. Als Leser erkennt man, dass dieses Buch eine Annäherung an ihren Vater darstellt. So beschreibt sie, wie dieser tage- und nächtelang auf der Jagd nach einer bestimmten Schmetterlingsart war, um schließlich für ihr eigenes Handeln zu konstatieren: „Wenn ich nach meinen Menschengeschichten jage und auf ein Bild warte oder frustrierende Stunden, Tage oder Monate damit verbringe, Zugang zu einem meiner Sujets zu gewinnen, denke ich an den flüchtigen Brahmaspinner meines Vaters, und diese Erinnerung mahnt mich zu mehr Geduld und mehr Gelassenheit im Umgang mit der Zeit.“

Viel Geduld hat sie für ihre eigentliche Serie aufgebracht, so dass ihr ein eindrücklicher Einblick in das kaum erträgliche Chaos der durch Umweltverschmutzung verrohten Siedlungen gelingt. Neben den schon beschriebenen Ansichten, die die Zustände gnadenlos sezieren, gibt es Bilder, die von leisen Tönen geprägt sind. Die Porträts der Bewohner, vor allem der Kinder, drücken trotz traumatischer Situation so etwas wie Zuversicht aus. Eine Katze balanciert auf der Gasleitung, die durch das Dorf führt. Quer über ein Ölfeld verläuft eine Wäscheleine, an der die weiße Wäsche baumelt. Jungen führen gymnastische Kunststücke auf der Straße auf. Manchmal gibt es tatsächlich so etwas wie Normalität. Dabei bestechen ihre elaborierten Bilder immer wieder durch Farb- und Lichtgestaltung.

Effendi nimmt eine überaus wirksamen Kunstgriff vor. Zwischen Bilder ihrer eigentlichen Serie schmuggelt sie die wissenschaftlichen Schmetterlingsstudien ihres Vaters. Das Konzept geht tatsächlich auf, ohne zu pathetisch zu wirken. Es entstehen verblüffende Korrespondenzen, die sich meist auf Farbe und Form beziehen. Das kann so offensichtlich sein wie bei jenem Diptychon, das ein Mädchen mit einem Stoffleopard zeigt, dessen Fellzeichnung sich in dem gegenübergestellten Schmetterling wiederfindet. Meist sind die Anspielungen und Parallelen wesentlich subtiler. Das tiefe Schwarz des Trauermantel-Schmetterlings spiegelt sich in dem dunklen Blick des gegenübergestellten Jungen. Vielleicht ist es auch nur dessen Kragen, der eine Flügelform andeutet.

Effendi ist eine kluge Erzählerin, die Gespür für die Dramaturgie einer Geschichte entwickelt und die Grenzen des Erzählens neu auslotet, in dem sie auf bestimmte Konventionen pfeift. Es gibt den traurigen Anblick eines Schmetterlings, der auf einem Abfallhaufen sitzt. Aber ach, das, was wir für einen Schmetterling mit blasser Flügelfärbung halten, ist gar kein Schmetterling, sondern ein achtlos weggeworfenes Hochzeitskleid. Peter Lindhorst

Benteli Verlag. Bern 2012. ISBN 978-3-7165-1744-4. 114 S. mit 140 Farbfotos. Geb. 38,00 €

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