Monday, January 29, 2007

Aschot L. Manutscharjan
Konfliktanalytiker Armenien und Deutschland, Bonn
Einführung in die Grundproblematik des Tschetschenienkonfliktes


Ob in Hörfunk, Fernsehen oder in den Printmedien: Die „Krisenregion Kaukasus“ ist in aller Munde. Ungeachtet dieser medialen Präsenz wird die europäische Öffentlichkeit jedoch nur äußerst selektiv und unzureichend über die tatsächlichen Vorgänge im Kaukasus informiert.
Ist wieder einmal ein Krieg ausgebrochen, beispielsweise in Berg-Karabach oder in Abchasien, werden dem Bürger die Ursachen des Gewaltausbruchs erklärt, um dann genauso schnell wieder vergessen zu werden. Außerdem findet eine regelmäßige Berichterstattung über die Ölvorkommen im Kaspischen Raum statt. Darüber hinausgehende Informationen über die Region, die ein Teil Europas ist und sich als solchen empfindet, sind für den durchschnittlich interessierten Bürger nur schwer zu finden. Die militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, zuletzt der Krieg zwischen der NATO und Rest-Jugoslawien, haben den Kaukasus noch weiter in den Hintergrund treten lassen. Selbst der russisch-tschetschenische Krieg fokussierte
das Interesse der Öffentlichkeit nicht auf die gesamte Kaukasus-Region. Vielmehr standen die russischen Militäraktionen und die konkreten Menschenrechtsverletzungen im Mittelpunkt. Ob möglicherweise Gefahren für Europa von dieser Region ausgehen könnten, dieser berechtigten Frage wird kaum nachgespürt. Dabei gibt es genug Gründe, um beunruhigt zu sein, denn der Kaukasus bleibt auf Jahrzehnte instabil, während Russland langsam die Kontrolle entgleitet.
Mit Billigung der Moskauer Zentrale übernehmen die Paten der organisierten Kriminalität die Macht in der Region. Auch wenn Tschetschenien besiegt ist, die Tschetschenen sind es längst noch nicht. Der Krieg wird mit anderen Mitteln fortgesetzt werden, und es ist nicht auszuschließen, dass Tschetschenen terroristische Anschläge auch in Europa planen. International agierende islamische Extremistengruppen werden dabei gerne behilflich sein.

Die unabhängigen Staaten des Südkaukasus Armenien, Aserbaidschan und Georgien sind ebenfalls alles andere als Stabilitätsfaktoren. Nahtlos kann sich aus der permanenten innenpolitischen Krisensituation ein Gewaltausbruch gegenüber dem politischen Gegner entwickeln, wie die zahlreichen terroristischen Anschläge dokumentieren: Zu ihren Opfern gehören der georgische Staatspräsident Eduard Schewardnadse ebenso wie sein aserbaidschanischer Kollege Hejdar Alijew. Zuletzt sei an das Blutbad im armenischen Parlament erinnert, das Ministerpräsident Wasgen Sarkisjan und Parlamentspräsident Karen Demirtschian nicht überlebten. Allerdings handelt es sich bei dieser Aufzählung nur um die spektakulärsten Fälle.
Die anhaltende Wirtschaftskrise und die ungelösten Nationalitätenkonflikte zwingen die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Europa ist das primäre Ziel der Flüchtlinge: Fast eine halbe Million „Kaukasier“ hat in den letzten sieben bis acht Jahren Westeuropa auf illegalen Wegen erreicht. Wie die Statistik zeigt, werden die Zahlen stetig größer. An erster Stelle profitiert die Organisierte Kriminalität in Gestalt von Schieberbanden und Drogenmafia von dieser Entwicklung.
Gleichzeitig werden die Kontakte der Kriminellen in Europa und im Kaukasus mit jedem Jahr intensiver. Schließlich erschwert der strategische Konflikt zwischen Russland und den USA bzw. der NATO mit ihrem Exponenten Türkei eine dauerhafte Befriedung der Region. Hinzu kommt die geopolitische Funktion des Kaukasus als Brücke zwischen Zentralasien und Europa, die eine Beilegung der regionalen Krisenherde verhindert.
Denn die jeweiligen nationalen sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen Russlands, der USA und Chinas werden auch in Zukunft divergieren, so dass diese Staaten versuchen werden, ihre spezifischen Ziele mit ihrem jeweiligen „Verbündeten“ in der Region durchzusetzen. Die zu beobachtenden Bestrebungen, die Konflikte mit dem Attribut „Glaubenskrieg“ (zwischen Islam und Christentum) zusätzlich zu etikettieren, dürften eine Lösungssuche weiter komplizieren.

Vieles spricht dafür, den Konfliktherd Kaukasus als Dauerthema auf die europäische Agenda zu setzen. Denn Europa hat nicht nur direkte wirtschaftliche Interessen in der Region: Die dortigen Öl- und Gasvorkommen würden zu einer weiteren Diversifizierung der Versorgung mit Primärenergieträgern beitragen. Hinzu kommen sicherheitspolitische Interessen: Mit der Erhebung der Türkei in den Status eines EU-Beitrittskandidaten im Dezember 1999 wird der Kaukasus zum europäischen Grenzgebiet. Zudem hat die Lage im Kaukasus direkte Auswirkungen auf Russland und damit auch auf die EU. Von daher muß es im vorrangigen Interesse der Europäer liegen, einen Beitrag zur Stabilisierung der Region zu leisten. Geschehen könnte dies über eine weitere Demokratisierung, indem die reformorientierten Kräfte unterstützt werden. Dennoch fehlt bislang eine europäische Gesamtstrategie gegenüber dem Kaukasus, obwohl die EU mit bislang 855 Millionen Euro enorme Summen in die Region gepumpt hat.


Der ganze Text:
Einführung in die Grundproblematik des Tschetschenienkonfliktes (pdf)

Tag: Chechnya (del.icio.us)

Buchtipps zum Tschetschenien-Konflikt
Wer diese vier Bücher liest, ist über die Kaukasus-Problematik bestens informiert

Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2002
Freimut Duve/Heidi Tagliavini (Hrsg.): Kaukasus - Verteidigung der Zukunft, Folio, Wien/Bozen 2001
Anatol Lieven: Chechnya. Tombstone of Russian Power,Yale University Press; New Havgen/London 1998
Carlotta Gall/Thomas de Waal: Chechnya. A Small Victorious War, Macmillan, London 1997

Source: http://www.zeit.de/archiv/2002/51/kaukasus_buecher


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