Marit Cremer: Fremdbestimmtes Leben. Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien
Transcript Verlag, Bielefeld 2007. 203 Seiten, kart., 21,80 Euro.
ISBN: 978-3-89942-630-4
Die Auflösung der Sowjetunion hat in den Nachfolgestaaten zu einer Suche nach neuen verbindlichen gesellschaftlichen Werten geführt. In der Tschetschenischen Republik kam es unter dem sowjetischen General Dudajew seit 1991 zu einer Wiederbelebung traditioneller Werte, die historischen Überlieferungen entnommen wurden. Unter den extremen Bedingungen von Krieg, Flucht und Exil stellt sich für viele Bewohner Tschetscheniens die Frage nach Herkunft und Identität neu. Die Autorin lässt tschetschenische Frauen ihre Lebensgeschichten erzählen und analysiert anhand des umfangreichen Materials den Wandel ihrer Einstellungen zur Geschichte und Kultur ihres Volkes, ihre Positionierung zu Traditionen, dem Islam und ihrer Rolle als Frauen.
Marit Cremer (Dipl.-Soz.) beschäftigt sich v.a. mit Transformationsprozessen in Russland und Tschetschenien. Außerdem arbeitet sie in Berlin freiberuflich als Dolmetscherin, u.a. im
Behandlungszentrum für Folteropfer e.V. und ist im Vorstand von Memorial Deutschland e.V.
Nachfolgend die Rezension von Hans-Joachim Neubauer aus dem Rheinischen Merkur:
Frauenleben
Was ist Tschetschenien, ein Fleck auf der Landkarte, ein Beispiel für Gewaltherrschaft, eine kleine Karte im Poker der Supermächte? In Tschetschenien wird mit blutigen Mitteln Geschichte geschrieben. Und die Berliner Sozialwissenschaftlerin Marit Cremer nun lässt die zu
Wort kommen, die in dieser Geschichte sonst keine Stimme haben, die Frauen. Fünf Tschetscheninnen berichten von Krieg und Flucht, von Wunden und Schuldgefühlen, von der Desorientierung. Sie erzählen vom Verlust ihrer männlichen Verwandten, vom Weg in die Berge, von Bomben und Attentaten. Der Krieg wies ihnen neue Rollen und Aufgaben zu, da er ihnen die Männer nahm. Damit verändert er auch die Macht der Tradition.
Die Frage, was Tschetschenien sein wird, hängt von den Chancen der Frauen ab. Cremers unsentimentaler Blick auf deren Seite entdeckt die Konsequenzen verfehlter Politik für die einfachen Menschen. Gerade weil Cremer so nüchtern beschreibt, wie die tschetschenischen Frauen ihre Erfahrungen verarbeiten, enthüllt sich das kollektive Trauma in seiner ganzen Drastik. Kein leichtes Buch, aber ein großes und kluges; eines, das schwer wiegt.
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