Wednesday, April 17, 2013

FILM: Dito Tsintsadzes Thriller "Invasion" im Kino. Gesetz des Vergessens. Von Philipp Stadelmaier (sueddeutsche.de)


(sueddeutsche.de) Nach dem Verlust von Frau und Sohn isoliert sich Josef auf seinem Landschloss. Nach und nach nistet sich dort die dubiose Familie einer verwandten Schauspielerin ein, bis die Gewalt eskaliert. Zu sehen in Dito Tsintsadzes Thriller "Invasion".



Von Philipp Stadelmaier
 
Josef, gespielt von Burghart Klaußner, steht an einem Grab. Draußen, im Wald, an einem Weiher. Es ist kalt, diesig, ungemütlich, der Winter kommt. Josef spricht mit denen, die hier seit Kurzem begraben liegen: mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Auf einmal hält er inne, denkt nach. Als würde er den Faden verlieren. Musste er nicht noch etwas besorgen, in der Stadt? Aber was? Auf dem Rückweg vom Grab trifft er Nina (Heike Trinker), eine alte Schauspielerin. Müsste er sie kennen? Jedenfalls tut sie so, präsentiert sich als Verwandte seiner Frau.

Dito Tsintsadzes "Invasion" lässt uns zunächst an einen psychisch zerrütteten Protagonisten glauben. Josef, in einem schlossartigen Anwesen auf dem Lande isoliert, ist vielleicht so mitgenommen, dass sich eine massive Vergesslichkeit seiner bemächtigt hat und seine Wahrnehmung täuscht. Wer weiß, ob Nina, diese daueralkoholisierte Diva, die keine Rolle mehr kriegt, und ihr arrogant-quengelnder Sohn Simon (David Imper), der nur Tai-Chi im Kopf hat, wirklich mit ihm verwandt sind - oder überhaupt real.

Man könnte auch von einem Phantasma des Vereinsamten sprechen. In jedem Fall sind die Weichen zunächst auf Psychodrama gestellt - die Hauptfigur muss mit einem schweren persönlichen Trauma fertig werden, um zurück ins Leben zu finden. Aber die winterliche Psychostudie, die sich ankündigt, bleibt aus. Genau wie Josef scheint auch der Film zu vergessen, welche Richtung er eingeschlagen hat.

Denn nun nisten sich nicht nur Nina und Simon in diesem Schloss ein, sondern auch noch Simons rumänische Frau und ihr kleiner Sohn, außerdem Ninas Mann Konstantin (Merab Ninidze), der bald dubiose Geschäftspartner empfängt. Je mehr sich das Anwesen füllt, desto mehr wird aus dem subjektiven Phantasma des Traumatisierten die Objektivität einer Invasion, so klar, scharf, brutal und unpathologisch wie das kristalline Winterlicht. Die Beziehungen sind offensichtlich angespannt. Die Frauen verführen, die Männer sind aggressiv, das Kind leidet stumm. Der Alkohol fließt in Strömen. Gewalt lässt nicht auf sich warten.

Grandios spielt Klaußner seine Figur immer weiter an die Peripherie dessen, was eine brave und preisträchtige One-Man-Show für den Trauernden, für einen "großen Schauspieler in schwieriger Rolle" hätte sein können. Josef reagiert nur, bleibt passiv. Die sinnliche Fülle des Films wird wichtiger als die Psychologie der Hauptfigur. Das Vakuum des Schlosses ist kein innerer Seelenraum, die Phantome von Josefs toter Familie spielen schon bald keine Rolle mehr. Die Leinwand füllt sich vielmehr mit Menschen, mit kleinen szenischen Erfindungen, mit einer faszinierenden Materie, die das Imaginäre objektiv und transparent werden lässt. Ein altes, türkis schimmerndes Schwimmbad im Keller wird zum Ort für allerlei erotisch-lethale Spielchen. Das Kind steuert ein ferngelenktes rotes Auto durch die Gegend, das ein dämonisches Eigenleben zu entwickeln scheint, und an Heiligabend materialisiert sich wie aus dem Nichts eine Weihnachtsfeier, in Rotlicht getaucht, direkt importiert aus der Hölle oder einem wüsten Bordell.

Es ist eine beinahe dionysische Fülle, die hier den Einsamen überwältigt - ganz wie in Luchino Viscontis "Gewalt und Leidenschaft" von 1974: Auch damals gab es eine schrille Adelige, einen Ziehsohn und einen Liebhaber, die sich im Palazzo eines zurückgezogenen alten Professors eingenistet haben. Der wurde von Burt Lancaster gespielt, und wie alle Helden Viscontis musste er lernen, dass die eigene Zeit (und die seiner Klasse) zu Ende ging, was durch die Begegnung mit den wilden Bohèmiens geschah. Tsintsadzes Josef wird hingegen das Ende der Seinen noch gründlicher und besser verdrängen: Unter den Invasoren wird er schließlich seine Frau und seinen Sohn "wiederfinden" und mit ihnen, wie früher, ganz naiv auf der Bank im Park sitzen. Der Verlust wird nicht anerkannt.

All das macht "Invasion" zu einem großen Film über eine unmögliche Trauer - als würde noch die Erinnerung an die Toten dieser anfänglich gezeigten Vergesslichkeit Josefs zum Oper fallen, an der sich der Film fortan beteiligt. Sie regiert hier überall so gründlich und gesund, dass sie ihren pathologischen Charakter komplett verliert. "Wir müssen nach vorne schauen, nie nach hinten", sagt einmal jemand zu Josef - aber nicht, um ihn aufzumuntern. Hier wird das das Gesetz des Vergessens formuliert, das den ganzen Film beherrscht: Alles zurücklassen, um mit allem ganz neu anzufangen.

Invasion, D/Ö 2011 - Regie und Buch: Dito Tsintsadze. Kamera: Ralf M. Mendle. Musik: Gio Tsintsadze. Mit Burghart Klaußner, Heike Trinker, Merab Ninidze, David Imper, Anna Wappel, Jasper Barwasser. Neue Visionen, 102 Minuten.

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Weitere Links:
Am Ende ist er doch ein guter Mann (faz.net)
Schlachtfeld in den eigenen "vier Wänden"? (kulturkueche.de)
Das Psychodrama Invasion ist ein Abgesang auf die Familie (badische-zeitung.de)
"Invasion": Josef und die Störenfriede (goethe.de)
Gelungene schwarze Komödien aus Deutschland (filmreporter.de)
Dito Tsintsadze und sein Film „Invasion“ (tagblatt.de)
Warten auf den Retter (zurueckgespult.de)
Unsichtbare Gegner (jungewelt.de)
Eine überraschende und auch verstörende Geschichte aus Deutschland (filmkunstkinos.de) 
Dito Tsintsadze, ein Meister des Ungefähren (filmgazette.de)
Biedermann und die bösen Verwandten Im Kino: "Invasion" (tagesspiegel.de)  
Angriff der Kuckucksfamilie (taz.de)
 

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