Der Kaukasus ist seit dem Krieg in Georgien wieder einmal en vogue. Reporter, Historiker und Politologen gehen dem Freiheitsvirus nach.
Natürlich sind sie verrückt. Man beginnt keinen Krieg gegen einen übermächtigen Gegner, ganz allein gegen die 52. Armee, ohne ein gerüttelt Maß an Unvernunft. Alexander Lomaia, der Sicherheitsberater des georgischen Präsidenten, sagt es selbst. „Alle denken, wir sind verrückt, weil wir uns gegen Russland, dieses große, mächtige Land auflehnen", erklärt er Jonathan Littell, dem amerikanisch-französischen Bestsellerautor, im bombardierten Gori. Aber dann gleitet alles schnell in Unsinn ab. Dann spricht Lomaia von den Opfern, die Georgien mit diesem Krieg im Sommer 2008 auf sich genommen habe, um die Welt wachzurütteln und ihr die wahre Natur der Russen zu zeigen. Dabei ist er ein durchaus ernsthafter Mensch.
Wir selbst saßen ein paar Tage, bevor dieses Gespräch geführt wurde, in einem großen Mercedes - Pridon, eine georgische Fotoreporterin und ich -, der Weg nach Gori war noch nicht frei, weil die russische Kommandantur es so entschieden hatte. Wir besuchten stattdessen ein Flüchtlingslager in der Nähe des Flughafens von Tiflis. Auf dem Rückweg spielte Pridon - Radiotechniker, Filmemacher, Webseitendesigner und an manchen Tagen Chauffeur - einen italienischen Schlager aus den 50er-Jahren, den er irgendwo gefunden hat: „Tu vuò fa l'americano" - „Du willst den Amerikaner spielen".
Das klingt wie eine Quittung für die Hinwendung der Georgier zu den USA. Pridon nahm -„americano, americano" - im langen Schwung die Kurven am Mtkwari-Fluss entlang, dann die breite Barataschwili-Straße hinauf und um den neuen „Freiheitsplatz" herum auf den Rustaweli-Boulevard, die Vorzeigestraße der Stadt.
Sie hätten hier sein können, die Russen, mit ihren Panzern den Asphalt zerfurchen, der extra für den Besuch von George W. Bush drei Jahre zuvor gegossen worden war. Der Waffenstillstand, den Frankreichs Präsident ausgehandelt hat, mag die Russen davon abgehalten haben, vielleicht sind sie auch nur weit weniger verrückt als die Georgier. „Du willst Amerikaner spielen", plärren die Lautsprecher, Whiskey und Soda trinken, Camel rauchen vom Taschengeld der Mamma - „ma si nato in Italy!", singen sie aus vollem Hals nach, „aber du bist in Italien geboren".
Tiflis ist gewissermaßen eine Erfindung, der ganze Kaukasus ein Fantasiegebilde. Reisende aus dem Westen oder Osten Europas, die in den vergangenen Jahrhunderten hier hergekommen waren, haben sich in die Tasche gelogen. Und die heute 15 Millionen Menschen, die zwischen dem kleinen und dem großen Kaukasusgebirge leben, haben sich immer etwas vorgemacht, erst recht, seit sie nach dem Ende der Sowjetunion in drei unabhängig gewordenen Staaten leben - Georgien, Armenien, Aserbaidschan. „Pischite prawilno", mit dieser Aufforderung auf Russisch beginnt Jonathan Littells kleines Georgisches Reisetagebuch aus den Augusttagen nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien. „Schreiben Sie wahrheitsgemäß, schreiben Sie, was wirklich passiert ist." Doch wie soll man das tun in einer Gegend, wo die nationalen und die staatlichen Identitäten nicht feststehen und täglich das Gefühlte die Ratio überrennt?
Der jüngste Kaukasuskrieg, der fünf Tage dauerte, von Donnerstagnacht bis Dienstagmittag, hat der Propaganda zum Trotz, die aus Tiflis und Moskau auf die Öffentlichkeit eintrommelte, einen seltenen Moment der Wahrheit beschert. Für einen Augenblick ist der Vorhang weg, die Rhetorik des Westens über die Anbindung des „Südkaukasus" entblößt, liegen die Machtverhältnisse offen. Russland dominiert, der Westen ist blamiert. Er hat nie verstanden, was an diesem Rand Europas vor sich geht.
Dem Phänomen des Kaukasus kann man sich dabei auf zwei Wegen nähern: Man kann berichten oder analysieren, die Arbeit des Reporters und Chronisten verrichten oder Theoriegebäude aufbauen und zu verstehen versuchen, wohin die politische Entwicklung des Kaukasus geht, der heute nie anders denn als „strategisch" für die Interessen der EU und der USA bezeichnet wird.Jonathan Littell, der Historiker Charles King oder auch Wendell Steavenson, die vergangenen Dezember im New Yorker ein zehnseitiges Porträt über Georgiens Präsidenten Michail Saakaschwili veröffentlichte („Marching through Georgia, December 15, 2008"), gehören zur ersten Gruppe der „Reporter".
Alle drei haben in den vergangenen Jahren immer wieder den Kaukasus bereist. Littell verbrachte einige Zeit in Tschetschenien, wo er die Vertretung von Action contre la Faim leitete, als die Machthaber noch NGOs tolerierten; ein Angriff auf einen Konvoi mit humanitären Helfern, bei dem er leicht verletzt wurde, beendete zunächst seine Zeit im Kaukasus und ließ ihn die Recherchen für den 2006 erschienenen Roman Die Wohlgesinnten aufnehmen. Der Georgetown-Professor Charles King, wie Littell Jahrgang 1967, bewies bereits mit zwei historischen Abhandlungen (The Moldovans: Romania, Russia and the Politics of Culture", Hoover Institution Press 2000; „The Black Sea: A History", Oxford University Press 2004) ein erzählerisches Talent, das an deutschsprachigen Universitäten üblicherweise selten zu finden ist.
Mit The Ghost of Freedom. A History of the Caucasus, einem Durchmarsch von Shah Abbas (1587- 1629), dem persischen Herrscher, der den Großteil der georgischen Königreiche und muslimischen Khanate kontrollierte, bis Michail Saakaschwilis Wahl zum georgischen Präsidenten vor fünf Jahren, dem Abschluss der „Rosenrevolution", ist ihm ein Standardwerk gelungen.Wendell Steavenson schließlich, die in den 90er-Jahren als freie Journalistin in Tiflis lebte, zeichnet das Porträt eines georgischen Staatschefs, der sich während und nach der Kriegstage geradezu manisch durch die Nachrichtensender der Welt talkt („‚Sein Mund ist wie ein Maschinengewehr‘, sagte mir einer seiner Berater.") und an die USA klammert, auch wenn Washington ihm nicht zu Hilfe kam.
Steavenson schließt ihre Geschichte mit einer Enormität, einer Äußerung Saakaschwilis, die er sich keinesfalls gegenüber seinen Landsleuten erlaubt hätte und die bisher unbeachtet geblieben ist. „Saakaschwili dachte nicht wirklich, dass er der Verlierer des Kriegs in diesem Sommer war", schreibt sie und zitiert dann aus dem Gespräch mit dem Präsidenten: „Wenn wir gedacht hätten, dass Sieg nur bedeutet hätte, Zchinwali einzunehmen (die südossetische Provinzhauptstadt, Anm.) - das hat mir sowieso nicht viel bedeutet. Wozu weitere 100 georgische Städte bekommen, die man verwalten muss? Na was schon? Das sind zwei georgische Distrikte. (Abchasien und Südossetien, Anm.) Das ist kein Rückschlag. Wir stehen in einem Kampf, und das ist eine Kampfposition."
Die Russen müsse man loswerden, sagt Saakaschwili, das ist der eigentliche Punkt. Es geht wieder einmal um die Freiheit - die stilisierte und die wirkliche, um deren willen die Kaukasier auch die Verrücktheit eines Kriegs unternehmen. Und keinesfalls um eine westliche, bürgerliche Freiheit, die in gesetzliche Regelwerke eingebettet ist. Dieser „Geist der Freiheit", der den Kaukasus seit Jahrhunderten heimsucht, ist das zentrale Erklärstück, das Charles King für die Geschichte dieser Weltgegend präsentiert. Er hat den Kaukasus vor allem in den letzten 20 Jahren zu einem „Inbegriff der Sinnlosigkeit" gemacht, wo - wie King erinnert - politisch Verantwortliche ohne Skrupel Zivilisten bombardieren lassen und Terroristen Schulkinder als Geiseln nehmen.
Die Freiheit im Kaukasus ist eine Schimäre und zugleich ein realer Wert, der mit Füßen getreten wird. Es gab eine Zeit, als junge Russen aus Petersburg oder Moskau in den Kaukasus flüchteten, hoffnungslos romantisiert durch Puschkins Gedichte, die sie gelesen hatten, und auf der Suche nach Grenzenlosigkeit. Junge Deutsche, Polen, Franzosen, Amerikaner haben sie mittlerweile abgelöst. Das Irrationale, die Litanei der Gegensätze im Kaukasus besticht immer noch: Wildheit und Gravität, West gegen Ost, Europa und Asien in einem, Muslime und Christen, Zivilisation und Barbarentum, Putins Russland gegen die neuen unabhängigen Staaten.
Die Sache der Freiheit war allerdings schon immer eine wohlfeile Erklärung für die politisch Herrschenden im Kaukasus. Die Georgier nehmen ihrem Präsidenten die Behauptung vom unabwendbaren Krieg in Südossetien nicht ab. Das Fanal der „Rosenrevolution" ist erloschen, das Versprechen einer demokratischen Wende im Südkaukasus, angeführt von den Georgiern, bei den Nachbarvölkern, den Aserbaidschanern und Armeniern, endgültig durchgefallen. Littell berichtet in seinem „Georgischen Reisetagebuch", einer ausgearbeiteten Fassung einer Reportage, über diesen Sommer der Dummheit. In einem verlassenen georgischen Dorf in Südossetien notiert er: „Auf den Höfen, wo ausgehungerte Hühner und Kühe herumirren, biegen sich die Obstbäume unter der Last ihrer Früchte - ich beiße hinein, voller Bitterkeit über so viele vernichtete, sinnlos zugrundegerichtete Leben."
Der französischen Tageszeitung Le Monde, die den Schriftsteller zu der Reise nach Georgien einlud, muss man wohl dankbar für die Wahl sein. Anders als Bernard Henri Lévy, der Modephilosoph mit dem offenen Hemd, den Le Monde sonst gern für eine lange Reportage in Krisengebiete schickt, kommt Littell ohne Pathos und Moral aus. Er beobachtet, schreibt, kann am Ende keine alles regelnde Erklärung finden. Allenfalls in dieser handwerklichen Fertigkeit lässt sich der Autor der „Wohlgesinnten" wiedererkennen. Es gibt keinen fiktiven Obersturmbannführer Dr. Max Aue, der die Schauplätze des Terrors inspiziert, nur zwei Seiten, zwei Kriegsparteien, deren konkrete Verantwortlichkeit offenbleibt.
Dass die kleine Schar der Kaukasus-Politikwissenschafter derzeit alt aussieht, weil sie nicht mit der Verrücktheit der Georgier rechnete, tut ihrer Arbeit keinen Abbruch. Knapp 15 Jahre lang, seit dem Ende der ersten Kriege im Südkaukasus um Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien, haben sie ausgefeilte Modelle zur Konfliktlösung vorgelegt, die EU für ihr zögerliches Engagement kritisiert - die drei Länder des Südkaukasus wurden erst 2004 Teil der „Nachbarschaftspolitik" - und auf die wachsende Rivalität in der Region zwischen Russland und den USA hingewiesen. Nur einen Artillerieangriff der Georgier auf Zchinwali, der die geostrategische Karte umkehrt, haben sie nicht einkalkuliert.
Zwei größere wissenschaftliche Publikationen sind in Österreich zum Thema erschienen - die eine, Security Identity and the Southern Caucasus, ist das Ergebnis eines zwei Jahre dauernden Stu_dienprojekts von Politologen aus Aserbaidschan, Georgien, Italien und Österreich; der andere, vom Internationalen Institut für liberale Politik herausgegebene Sammelband, Die Sezessionskonflikte in Georgien, ist nach dem Augustkrieg noch rasch aktualisiert worden. Seine Aussage wird den Russen nicht gefallen: Die EU, Modell einer neuartigen kollektiven Sicherheitsregierung, wird nach dem Krieg stärker denn je im Kaukasus Verantwortung übernehmen. (DER STANDARD, Album, 14./15.2. 2009, Markus Bernath)
* Jonathan Littell, „Georgisches Reisetagebuch" € 5,- / 60 Seiten. Berlin-Verlag, Berlin 2008
* Charles King, „The Ghost of Freedom. A History of the Caucasus". € 26,00 / 290 Seiten. Oxford University Press, Oxford, New York 2008
* Erich Reiter (Hg.), „Die Sezessionskonflikte in Georgien", € 39.90 / 330 Seiten, Böhlau-Verlag, Wien Köln 2008
* Michael Geistlinger, Francesca Longo et alii, „Security Identity and the Southern Caucasus. The Role of the EU, the US and Russia", _€ 38,80 / 260 Seiten. neuer wissenschaftlicher verlag (nwv), Wien 2008
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Thursday, February 19, 2009
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