Wednesday, March 28, 2012

ARTIKEL: Ungewöhnliche Allianzen im Südkaukasus. Von Silvia Stöber (nzz.ch)

Die Verhältnisse zwischen den Ländern der Region und Iran sind bis heute von historischen Konflikten geprägt

Während Armenien, Georgien und Iran freundliche Nachbarschaftsverhältnisse pflegen, bleibt die Beziehung zwischen Iran und Aserbeidschan angespannt. Die Bevölkerung setzt sich im Alltag jedoch über die regionalen Allianzen und Gräben hinweg.

Silvia Stöber, Erewan / Quelle: nzz.ch


Am Rande einer Strassenkehre parkiert ein zitronengelber Minibus, voll bis unter das Dach mit Gepäck und Äpfeln. Daneben macht eine Gruppe von Männern Pause von der Fahrt auf der kurvenreichen, schmalen Bergstrasse. Sie sehen aus wie in die Jahre gekommene Hippies auf einer Tour durch Südfrankreich. Doch die bewaldeten Berge und die schneebedeckten Gipfel in der Ferne sind nicht die Ausläufer der Alpen. Es ist der grüne Süden Armeniens, das geografische Ende des Südkaukasus, 40 Kilometer nördlich der Grenze zu Iran.

Erholung und Ausbildung

Die Männer stellen sich als pensionierte Manager und Professoren aus Teheran vor. Sie seien seit über zwölf Stunden unterwegs von Teheran über die Grenze nach Armenien. Aus dem Nichts fragt einer der Männer: «Wollen Sie uns nicht fragen, was wir von unserem Präsidenten halten?» Sobald der Name Ahmadinejad fällt, legen sie los: «Wir schämen uns für unseren Präsidenten», sagt einer der Herren. Es sei eine Schande, wie die Proteste gegen die umstrittene Präsidentenwahl 2009 niedergeschlagen worden seien. Einen Sturz des Regimes erwarten sie allerdings nicht. Aber auch auf die USA sind sie nicht gut zu sprechen. Die Sanktionen träfen die normalen Bürger, und jedes Land müsse ein Recht auf die friedliche Nutzung der Atomkraft haben. Nach einer Weile verabschieden sich die Männer freundlich und begeben sich auf die Fahrt in die armenische Hauptstadt Erewan.

Auf der Suche nach Erholung, Ausbildungs- oder Investitionsmöglichkeiten reisen Iraner seit rund drei Jahren immer häufiger in die christlichen Nachbarländer Armenien und Georgien. So kann man an der ersten Raststätte nach dem iranisch-armenischen Grenzübergang jungen Iranerinnen begegnen, die noch beim Aussteigen aus ihrem Reisebus Kopftücher und Mäntel abwerfen und in enge Jeans schlüpfen. Vor allem zum persischen Neujahrsfest Novruz Mitte März kommen viele Iraner in die armenische Hauptstadt Erewan, um ein wenig Freiheit mit Alkohol und moderner Musik zu geniessen.

Andere Iraner kommen nach Armenien, um eine Ausbildung zu machen. So wie Andranik, der Jazzmusik studiert. Dies sei im Iran verboten. Er selbst hat armenische Wurzeln. Seine Vorfahren kamen vor über 400 Jahren nach Persien. Damals wollte sich Schah Abbas das Geschick der Armenier in Handel und Handwerk zunutze machen und liess im Jahre 1604 einige tausend Familien aus Julfa, einem Ort in der heute zu Aserbeidschan gehörenden Exklave Nachitschewan, nach Isfahan bringen. Dort, in Neu-Julfa, gibt es bis heute eine Gemeinde christlicher Armenier, ebenso in Teheran.

Etwa 150 000 Armenier leben heute in Iran. Sie sind als Christen mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten. Es gibt Kirchen und christliche Schulen. Ihre Kulturdenkmäler werden geschützt, und sie dürfen Alkohol brennen. Allerdings müssen sie sich in der Öffentlichkeit den muslimischen Regeln unterordnen – vom Kopftuch für Frauen bis zur Einhaltung der muslimischen Feiertage. Und es ist ihnen verboten zu missionieren. Andranik arrangierte sich sein Leben lang mit diesen Regeln. Es ist ein Leben voller Widersprüche. Er sei als Armenier in Iran geboren und er sei stolz, Iraner zu sein, betont er. In Iran fühle er sich wohler als an jedem anderen Ort, denn es gebe dort alles. «Aber es ist auch ein Gefängnis. Wir dürfen nicht frei sprechen und können unsere Gefühle nicht zeigen», meint Andranik kritisch. Wäre sein Land eines Tages frei, würde er sofort zurückkehren.

Ähnlich ergeht es Samad, der seit sechs Jahren in Erewan lebt und am staatlichen Konservatorium Komposition studiert. In Iran sei es wie zu stalinistischen Zeiten in der Sowjetunion, sagt er. Die Regierung töte Personen für nichts. Trotzdem denke die Bevölkerung in Iran freier und moderner als in Armenien. Mit seinem Dreitagebart und den langen, zum Zopf gebundenen Haaren fällt er sogar in Erewan auf, dessen Einkaufsstrassen mit Markengeschäften, Kinos und zahlreichen Cafés europäisches Flair ausstrahlen. Oft werde er schief angesehen, klagt Samad. Es komme vor, dass er als Schwuler beschimpft werde.

Junge Iranerinnen fallen eher durch lässige Kleider und dezentes Make-up als durch Kopftücher auf. Kopftuchträgerinnen begegnet man meist nur in der Blauen Moschee im Zentrum der armenischen Hauptstadt. Die Moschee, welche in den neunziger Jahren vom Iran wiederaufgebaut wurde, ist heute die einzige in ganz Armenien. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es allein in Erewan mindestens acht Moscheen.

Die Isolation Armeniens

Wo man einstmals den «ganzen Orient an einem Vormittag erleben konnte», wie der Reporter und Kommunist Egon Erwin Kisch noch Ende der zwanziger Jahre schwärmte, besteht ein abgeschotteter, in sich gekehrter, fast monoethnischer Staat. Selbst Diaspora-Armenier wurden lange als Fremde betrachtet. Die Isolation ist nicht nur Folge des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich von 1915. Sie geht auch zurück auf die siebziger Jahre der Sowjetdiktatur, die ihre Aussengrenzen hermetisch abriegelte. Ausserdem trug die Nationalitätenpolitik Moskaus dazu bei, dass die Kluft zwischen den Sowjetvölkern wuchs und Konflikte in Gewalt umschlugen, als das Imperium zerbrach. Armenien führte mit seinem östlichen Nachbarn Aserbeidschan einen Krieg um das Gebiet Nagorni Karabach. Aserbeidschan schloss die Grenzen, und die Türkei schloss sich aus Solidarität zum Brudervolk an. So blieben Armenien nur die Übergänge zum unzuverlässigen Nachbarn Georgien und die 35 Kilometer lange Grenze zu Iran.

Je mehr die Spannungen zwischen Iran und dem Westen sowie Iran und Israel wachsen, je unberechenbarer die iranische Regierung ist und je härter sie gegen ihre Bürger vorgeht, desto attraktiver wird das christliche Nachbarland Armenien. Ausserdem halten iranische Unternehmer seit einiger Zeit Ausschau nach Investitionsmöglichkeiten in Armenien. Bereits vor einem Jahr sagte der damalige Wirtschaftsminister und derzeitige Vizepräsident der armenischen Zentralbank, Nerses Yeritsyan, iranische Geschäftsleute zeigten Interesse, sich in den Bereichen Landwirtschaft, Maschinenbau und Finanzdienstleistungen zu engagieren. Armenien könne für Iraner ein guter Ort sein, um für den Rest der Welt zu produzieren, meint Yeritsyan. Doch müsse das Investitionsklima verbessert werden.

Sanktionen belasten Handel

Iranische Unternehmer mit Erfahrung im Handel zwischen Iran und Armenien trifft man auf dem Haykop-Markt am Rande Erewans. In den Lagerhäusern eines verfallenen Industriegebietes verkaufen sie Tischdecken aus Plastik, Waschmittel, Seifen und Paraffin. Die Händler beklagen sich über die unfairen Methoden der Behörden: Iraner müssten höhere Schmiergelder an das Finanzamt und den Zoll zahlen als Armenier, erzählt Hamid. Seifen-Händler Gagik meint, iranische Händler seien ehrlicher als Armenier.

Stärker noch als die geschlossenen Marktstrukturen belasten die scharfen Sanktionen gegen Iran den Handel mit Armenien. Darauf verweisen die iranischen Kleinhändler vom Haykop-Markt ebenso wie der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Armeniens, Araik Vardanyan. Dieser beeilt sich zu versichern, dass Armenien alle internationalen Bestimmungen einhalte. Die Liste der auch für Kriegszwecke geeigneten und damit für den Export nach Iran verbotenen Güter sei lang und werde penibel beachtet. Auch habe die Regierung ein strenges Geldwäschegesetz, das jede Form von Terrorfinanzierung unter Strafe stelle.

Das kleine Armenien mit der grossen Diaspora in der westlichen Welt kann sich keine Probleme mit den USA und Europa leisten. Andererseits sei Armenien auf das Wohlwollen der Mächte in seiner Nachbarschaft angewiesen, erklärt der langjährige Vizeaussenminister und amerikanische Botschafter Arman Kirakossian. Im nach wie vor schwelenden Nagorni-Karabach-Konflikt mit Aserbeidschan vertrete Iran, anders als die Türkei, eine ausgewogene Position. In Europa und den USA habe man Verständnis für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Armenien und Iran, sagt Avet Adonts, Chef der armenischen Vertretung bei der Europäischen Union in Brüssel. Es werde allerdings darauf geachtet, dass Armenien die internationalen Vereinbarungen, was Iran und dessen Atomprogramms betreffe, einhalte.

Ohnehin hat Russland in dieser Hinsicht das Sagen. Kontrollieren doch russische Truppen aufgrund eines Militärabkommens mit Armenien die Grenze zu Iran und zur Türkei. Auch an den wichtigsten Infrastrukturunternehmen sind russische Firmen zumindest beteiligt. Nach Einschätzung des Experten Svante Cornell lässt die iranische Führung Russland im Südkaukasus bis jetzt den Vortritt. Wirtschaftliche und politische Interessen verfolgt sie dessen ungeachtet.

So besuchte Irans Präsident Mahmud Ahmadinejad Mitte Dezember Erewan. Gesprochen wurde einmal mehr über die seit Jahren geplanten Kooperationsprojekte. Das betrifft eine zweite Gaspipeline, eine weitere Stromverbindung, eine Eisenbahnstrecke sowie ein Wasserkraftwerk am Grenzfluss Arax. Tatsächlich exportiert Armenien seit Jahren Strom nach Iran und erhält Gas. Auch finanzierte Iran den einzigen Windpark Armeniens mit vier Windrädern.

Georgien nähert sich Iran an

Auch um den nördlichen Nachbarn Armeniens, das christlich-orthodoxe Georgien, bemüht sich Iran. Die prowestliche Regierung in Tbilissi erhörte das Werben Teherans schliesslich, als sie im Jahre 2008 nach dem Krieg mit Russland und dem Wechsel im Weissen Haus in Washington ihre Aufmerksamkeit stärker auf die regionalen Nachbarn richtete. So gewährt Georgien iranischen Bürgern seit Januar 2011 für 45 Tage einen visafreien Aufenthalt. Deshalb und dank den günstigen Flügen im 2011 erlebte Georgien einen Boom iranischer Besucher.

Auch wenn die Georgier stolz sind, ihre Kultur und ihren christlichen Glauben trotz jahrhundertelangen Fremdherrschaften benachbarter Grossmächte bewahrt zu haben, so bringen sie besonders der persischen Kultur und den Iranern Respekt entgegen. Wie Rom für Europa Vorbild sei, so sei der persische Hof der Schahs Vorbild für den Orient gewesen, erklärt der Chef des Staatlichen Georgischen Literaturmuseums. Sprache, Malerei und Poesie hätten grossen Einfluss gehabt. Während die Kultur und die Geschichte Anknüpfungspunkte zwischen dem christlichen Georgien und Iran bilden, sind es diese beiden Elemente, die Iran von seinem anderen südkaukasischen Nachbarn Aserbeidschan trennen. Einstmals lebten muslimische Aseri und Iraner neben- und miteinander. Die aserbeidschanische Fürsten-Dynastie der Safawiden vereinte Iran ab 1501 für 200 Jahre zu einem Reich und setzte den schiitischen Islam als Staatsreligion durch. Die Völker lebten sich jedoch auseinander, nachdem die Russen im 19. Jahrhundert das nördliche Aserbeidschan besetzt hatten und es später zu einer Sowjetrepublik machten.

Heute leben etwa 20 Millionen Aseri in Iran. Doch das Verhältnis zwischen Aserbeidschan und Iran ist problematisch. Beide Länder streiten um Öl und Gas im Kaspischen Meer. Mit Argusaugen beobachtet Iran die freundlichen Beziehungen Aserbeidschans zur Nato. Aserbeidschaner wiederum werfen Iran vor, die Gesellschaft zu unterwandern, islamistische Tendenzen, womöglich sogar Terrorismus, zu fördern. Und Regierungspolitiker ebenso wie Oppositionelle können es Iran nicht verdenken, dass es dem Feind Armenien wohlgesinnt ist und ihn sogar unterstützt.
 
Konflikte zwischen Völkern

Gemeinsam ist den Ländern der Region, dass ihre Staatsführungen Abneigung und Feindschaften zu den Nachbarstaaten nutzen, um ihre mehr oder weniger autoritären Regierungsweisen zu rechtfertigen. Doch nicht bei allen Menschen fruchtet diese Saat. Der iranische Student Samad, der seit sechs Jahren in Erewan lebt, spricht offen darüber, dass sein Vater Aseri ist. Das bringt ihm die Missgunst jener Armenier ein, die jedem Aseri feindlich gesinnt sind, unabhängig davon, wo er herkommt. Samads armenische Freundin, mit der er seit fünf Jahren zusammenlebt, stört sich jedoch nicht an seinen ethnischen Wurzeln. Auch seine Freunde in Erewan stehen zu ihm, wenn er angegriffen wird. Viele Leute liessen sich von Hass und Abneigung anstecken, aber eigentlich seien es die Regierungen, die gegeneinander Krieg führten, meint Samad.

Noch heute ist nicht ausgemacht, ob sich der Südkaukasus mehr nach Asien oder nach Europa, in Richtung Demokratie oder autoritäre Herrschaft bewegen wird. Sicher ist, dass in dieser Region nicht die Religion Auslöser für Kriege ist, sondern Konflikte zwischen Völkern, die durch das Aufkommen des Nationalismus und durch Staatsgrenzen getrennt wurden. Weshalb auch immer diese Gräben entstehen, man findet Personen, die sich über sie hinwegsetzen.

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