Monday, October 03, 2005

SCIENCE: „Closed Society and Open Society: Conflict and Dialogue“ - Tagungsbericht zum Kaukasus (oei.fu-berlin.de)

Moskau, 24.–28.11.2003

von Florian Mühlfried
(promovierte am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg über „‚Die wahre Akademie‘ – Bankette und die Konstruktion nationaler Identität in Georgien“.)

Der Konferenzbericht beschreibt die Merkwürdigkeiten, in denen sich die Kaukasiologie wiederfinden kann. Das ganze wurde von mehr oder weniger unbekannten Organisationen initiiert. Weder der Oraganisator „The International Research Institute of the Peoples of the Caucasus (IRIPC)“ noch die Finanzierung durch die „Open and Closed Society“ waren von dem Autor damals im Netz zu finden.

" „Offene“ und „geschlossene“ beziehungsweise „moderne“ und „traditionelle“ Gesellschaftsformen sollten auch während der Konferenz schwerpunktmäßig diskutiert werden. Im Vordergrund standen dabei die Fragen nach der Zukunft „traditioneller“ Gesellschaften im Kaukasus und nach der Bewahrung von kultureller Identität in einer globalisierten Welt." "

Organisiert wurde das Ganze von dem dem bekannten russischen Kaukasiologen Arutjunov.
Alexandr Dugin, einer der wichtigsten Vertreter der russischen Neuen Rechten, griff die Gefahr eines Verlustes von Identität in einer globalisierten Welt auf.

"Dazu unterschied er idealtypisch „offene“ von „geschlossenen“ Gesellschaften: In „offenen“ Gesellschaften gehe kulturelle Identität verloren, während in „geschlossenen“ Gesellschaften die wesentlichen Merkmale von Identität bewahrt blieben. Auf dieser Grundlage kam Dugin zu dem Schluss, dass das Konzept der „offenen“, also an zivilen und demokratischen Strukturen ausgerichteten Gesellschaft für die Kaukasusländer inadäquat sei. Der Kaukasus gehöre zu Eurasien, und eurasiatische Gesellschaften seien „anders“ als westliche. Russland als herausragende Macht in Eurasien komme dabei eine besondere zivilisatorische Aufgabe zu: „Russians should be present in the Caucasus. We have a mission. This is what the idea of Eurasia is about.“"

Am zweiten Konferenztag wurde die Globalisierung dann doch als etwas Unvermeidliches respektiert:

"dass Russland nolens volens in globale Prozesse eingebunden ist. Die folgenden Beiträge versuchten sich an einer Bestimmung von „kaukasischer Identität“: Cesnov stellte besonders die Gastfreundschaft in den Vordergrund, die als Grundlage für eine universale Ethik dienen könne. Gajdar beschrieb den Kaukasus als „center of a new technology of thinking“. In seinem Beitrag über das georgische Bankett (supra) versuchte Mühlfried zu verdeutlichen, dass Tradition keine feste Bezugsgröße darstellt, sondern fundamentalen Wandlungsprozessen unterliegt, die durch Kulturkontakte geprägt sind. Diese durchaus kritisch gemeinte Anmerkung verhallte im Leeren."

Der dritte Konferenztag verlief dann in ganz anderen Bahnen. Es ging um den Islam, den Teschetschenien-Konflikt, Sufismus, Rennaissance des Islam im Kaukasus, internationalen muslimischen Netzwerken bis zu „Wahabismus“ in Dagestan, Tschetschenien, Karatschai-Tscherkessien und Georgien (Pankisi). Dragadze [sic] (England) und Goziridse (Georgien) sprachen über rituelle Mahlzeiten in Georgien. Zudem konnten ausländische Referenten am vierten Tag ihre Vorstellungen äußern. Am Nachmittag des vierten Tages konnte man jedoch mit Befremden feststellen, wie das rechte Lage Russlands und die Nationalisten Tschetschenien sich merkwürdigerweise annähern.

" Am Nachmittag stand neben einigen Vorträgen ein holländischer Film auf dem Programm. Im Zentrum dieses Filmes standen der Krieg in Tschetschenien und der ehemalige Vize-Premier von Tschetschentien, Chos-Ahmed Nuchaev. Eingebettet in antiglobalistische Statements westlicher Vordenker wie Manuel Castells übte Nuchaev massive Kritik an der „offenen“, „globalen“ Gesellschaft, die Vereinzelung, Identitätsverlust, Verbrechen und Drogensucht zur Folge hat. Laut Nuchaev führt die globalisierte Welt
einen Krieg gegen „geschlossene“, also noch intakte „traditionelle“ Gesellschaften, um die ganze Welt den Gesetzen des Marktes untertan zu machen. Nuchaev und die von ihm gegründete „Closed Society“ haben sich der Verteidigung der „geschlossenen“ Gesellschaft besonders in Tschetschenien verschrieben. [...]
Am nächsten Tag wurde vom Präsidenten des Organisationskomitees, Arutjunov, ein Brief Nuchaevs (!)verlesen, in dem er seine Ideologie bekräftigte und einen Vorschlag zur Lösung des Tschetschenienkonfliktes präsentierte: Tschetschenien solle aufgeteilt werden in das Flachland, das dem russischen Gesetz unterliegt, und Berg-Tschetschenien („Nochtschi“), das von den Gesetzen der Scharia und der „traditionellen Stammesgesellschaft“ bestimmt wird. Im Anschluss an die Verlesung des Briefes kündigte Arutjunov die gemeinsame Verabschiedung einer Erklärung aller Konferenzteilnehmer an. Grundlage sei die scheinbar von allen geteilte Bevorzugung von „traditional decision making“. Wer gegen die Erklärung war, wurde aufgefordert, seinen Widerspruch öffentlich zum Ausdruck bringen – was niemand tat. In der anschließenden Diskussion wurde Nuchaevs Plan für Tschetschenien unterstützt und angeregt, sein Konzept als Modell für weitere Länder des Kaukasus und der Russischen Föderation zu betrachten (Gabelaschwili, Mamukaschwili). Lediglich ein Redner aus Dagestan stellte konkrete Fragen zu dem Lösungsvorschlag: Wer soll die Grenzen Berg-Tschetscheniens schützen? Wie sieht es aus mit der medizinischen Versorgung, mit Strom und Kommunikation? [...]
Werden die jungen Kämpfer sich der Autorität der Stammesältesten
beugen?


Schließlich legte Alexandr Dugin in einem längeren Redebeitrag erneut sein Konzept des „Eurasismus“ dar. Der „Eurasismus“ sei als postmoderne Idee zu begreifen, die die Vielgestaltigkeit von Gesellschaftsformen anerkenne. Positiv bezugnehmend auf den von Nuchaev vorgeschlagenen Tschetschenienplan sprach sich Dugin jedoch für eine Unabhängigkeit Tschetscheniens innerhalb des russischen Machtbereichs aus. Wesentlich am Plan Nuchaevs sei die Maxime: „No international control, but Russian influence“. [...] Offensichtlich findet zur Zeit eine Annäherung rechtsnationalistischer Zirkel aus Tschetschenien und Russland statt. [...] Alexandr Dugin seinerseits in der Gesellschaft Evrazija (Eurasien) zunehmend muslimische Gegner einer „offenen“ Gesellschaft. Das einende Band besteht in der antiwestlichen Ausrichtung. Unter dem Schlagwort
„Eurasien“ wird an einer breiten antiliberalen Front gearbeitet. [...] Dabei dienen rhetorische Rückgriffe auf die Konzepte Postmoderne und Antiglobalisierung als legitimierende Faktoren. An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass in postozialistischen Gesellschaften der antiglobalistische Diskurs vorwiegend von rechtsextremen Kreisen vertreten wird. Hier besteht die Gefahr, dass westliche Wissenschaftlicher oder Intellektuelle unreflekiert und frohen Mutes in den Chor der Kritiker des freien Weltmarktes einstimmen – wie auf der Konferenz geschehen. Ebenfalls überdeutlich wird der Versuch der Instrumentalisierung von Wissenschaftlern für ideologische und politische Zwecke."


Der ganze Text:
„Closed Society and Open Society: Conflict and Dialogue“

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